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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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Inhaltsverzeichnis

LI 97, Sommer 2012

Konturen einer Diktatur

Macht, Gewalt und Geheimnis in der Islamischen Republik Iran

Wenn ein Regime sich selbst als „Republik“ bezeichnet – und insofern stillschweigend Machiavellis Begriff der Notwendigkeit erworbener Legitimität, Montesquieus Ideen zur Gewaltenteilung und Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags akzeptiert –, tatsächlich aber eine wilayat al-faqih ist, eine Regierungsform, die auf der mittelalterlichen Vorstellung göttlicher Legitimität beruht, welche die Idee einschließt, daß dieses Regime nur das absolute und unanfechtbare Wächteramt eines religiösen Juristen oder eines spirituellen Führers anerkennt, der angeblich von Gott gesalbt ist, und das Volk als „Minderjährige“ betrachtet, welche das Wächteramt brauchen, dann muß diese „Republik“ sich selbst opak machen, um ihre drastischen philosophischen Widersprüche und historischen Anachronismen zu verbergen.

Wenn ein Regime eine Präsidentenwahl so unbeholfen manipuliert, wie dieses Regime es 2009 zugunsten von Mahmud Ahmadinedschad getan hat, der damals Ayatollah Khameneis bevorzugter Kandidat war, und jenen Stunden vor der Schließung der Wahllokale zum Sieger erklärt, dann Dutzende Menschen tötet, Tausende einsperrt und Hunderte ins Exil treibt wegen der „Sünde“, die Legitimität dieser Wahl in Frage zu stellen – und dann weniger als zwei Jahre später denselben Präsidenten der „schwarzen Künste“ und der Verehrung des Teufels bezichtigt, der finanziellen und sexuellen Korruption (einer der Berater Ahmadinedschads ist wegen Vergewaltigung von 340 Jungfrauen während des vergangenen Jahres angeklagt!) sowie der Manipulation der Wahl durch den Kauf von 9 Millionen Wählerstimmen mit Regierungsgeldern – wenn, mit anderen Worten, der „Ziehsohn“ des Führers an den Rand der Amtsenthebung gebracht wird, nur Monate nachdem seine „Wahl“ von demselben Führer als gottgewollt gefeiert wurde, dann sind Opakheit und eine Politik des Orwellschen Doppelsprechs unvermeidlich.

Wenn ein Regime sich selbst Islamische Republik Iran nennt, der Führer hingegen behauptet, Amir al-Mumenin zu sein, der „Herrscher über alle Gläubigen“, und diese gewagte Behauptung trotz der Tatsache aufstellt, daß Schiiten, die Mehrheit in Iran, bloß eine kleine Minderheit in der von Sunniten dominierten islamischen Welt darstellen, dann muß daraus Opakheit im Diskurs und Verhalten folgen, verbunden mit einer gewissen Unverfrorenheit. Die selbstgerechte Grandiosität und die expansionistische Vision, die in Khameneis beanspruchter Führerschaft über die ganze islamische Welt beinhaltet, ist in dem Namen evident, der für die Prätorianer des Regimes gewählt wurde: die Armee der Wächter der Islamischen Revolution. In diesem Titel fehlt jede Erwähnung Irans.

Wenn ein Regime sich alle Mühe gibt, das Banner der antisemitischen und antiisraelischen Rhetorik hochzuhalten, dann aber mehr als bereit ist, die Hilfe Israels bei der Versorgung seiner in Bedrängnis geratenen Armee mit Waffen im langen Krieg mit Irak in den achtziger Jahren anzunehmen, dann wird die Opakheit grotesk. Und wenn ein Regime Milliarden von Dollar für sein Atomprogramm ausgibt und seine Bereitschaft zeigt, um dieses Programms willen auf weitere zig Milliarden in Form von verlorenen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu verzichten, und trotz überwältigender Belege für das Gegenteil behauptet, der einzige Zweck dieses Programms sei die Atomenergie; und wenn es zudem nach Jahrzehnten der Versprechungen und Drohungen bisher unfähig war, den Reaktor voll in Betrieb zu nehmen, dann wird Opakheit – gemeinsam mit einem raffinierten Spiel von Lügen und Verschleierungen – eine taktische Notwendigkeit, beinahe eine geistige Gewohnheit.

Was die bereits beängstigende Aufgabe, die Geheimnisse des heutigen Iran zu entwirren, noch weiter verkompliziert, sind zwei eigennützige theologische Begriffe, die erlauben – faktisch verlangen –, daß der fromme Schiit im Dienste des Glaubens und der Gläubigen lügt, betrügt und täuscht. Der erste ist tagiyeh, ein dem Schiismus eigentümlicher Begriff, der so etwas ähnliches wie „Mehrdeutigkeit“ bedeutet, und der zweite ist khodee oder „Kriegslist“. Mehr als einmal hat Ayatollah Khomeini selbst diese Begriffe verwendet, um gebrochene Versprechen und ignorierte Verträge mit dem Volk von Iran zu „erklären“.

(…)

Während man in Teheran eine pulsierende Underground-Musikszene findet – die ein wenig an Prag vor der Samtenen Revolution mit seinem durch Rock und Jazz ausgedrückten Dissidententum erinnert –, hat Khamenei mehr als einmal seine Gegnerschaft gegenüber der Musik zum Ausdruck gebracht. Scott Peterson erzählt, wie während der Präsidentschaft Muhammad Chatamis von 1997 bis 2005 dessen Geheimdienstministerium oft eine Zufluchtsstätte für diese Rockbands war. Unter Ahmadinedschad ist das nicht mehr der Fall.

Eine der Voraussetzungen von Petersons Buch ist, daß man, „um die Kräfte zu verstehen, die im revolutionären Iran wirksam sind, in die Welt des wahren Gläubigen vordringen muß“. Das ist zugleich wahr und falsch. Auf der einen Seite ist das gegenwärtige Regime in Iran der Sowjetunion der Breschnew-Ära verwandt. Das Metier des Glaubens war damals in Moskau und ist heute in Teheran mehr ein Schlüssel zur Macht als ein getreues Bild dessen, was tatsächlich geglaubt wird. Selbst die iranische Revolution von 1979 kann nicht völlig mit den „wahren Gläubigen“ erklärt werden. Ebenso nötig ist eine politische Erklärung, die die Genealogie und Morphologie der schwer in den Griff zu kriegenden Koalition aufdeckt, die zustande kam, um den Schah zu stürzen – die seltsame Verbindung von Befürwortern und Feinden der Moderne, glühenden Feministen und frommen Patriarchen, stalinistischen Advokaten der Vorherrschaft des Staates und Basarhändlern, die unablässig für das Handelskapital eintraten.

Doch mehr als 30 Jahre nach der Machtergreifung durch den Klerus ist diese Koalition arg auseinandergebrochen. Ein großer Teil von ihr hat sich in der Demokratiebewegung gegen die brutale Macht des IRGC und Khameneis vereinigt. Doch in einer Zeit, in der Doppelzüngigkeit institutionalisiert ist, wie das im heutigen Iran der Fall ist, ist es schwer, die „wahren Gläubigen“ von den Heuchlern zu unterscheiden.

Heute behaupten Hunderttausende Iraner, Zwangsinstitutionen des Regimes wie den Basidsch oder dem IRGC beigetreten zu sein. Die Führer der Basidsch behaupten, mehr als 12 Millionen Mitglieder zu haben! Aber wie viele von ihnen sind „wahre Gläubige“, und wie viele sind nur wegen der praktischen Vorteile ihrer Anpassung beigetreten, von der Zulassung zur Universität für sie selbst oder für ihre Kinder bis zu garantiertem Einkommen und dem parasitären Unternehmertum des IRGC? Das ist schwer zu sagen. Und wie die Entwicklungen in Iran gezeigt haben, kann der „wahre Gläubige“ von heute zum „Teufelsbeschwörer“ von morgen und zum eingekerkerten Abweichler werden.
(…)

Das Aufkommen des fundamentalistischen Islam, die mongolische Invasion und der plötzliche Aufstieg der Sufimystik trugen dazu bei, die frühen Andeutungen von Rationalismus scheitern zu lassen. Ich habe in meinem Buch Lost Wisdom argumentiert, daß seit dem 19. Jahrhundert viele dieser Ideen erneut in Irans abgebrochenen modernen intellektuellen Diskurs eingetreten sind. Doch sind es in den letzten 150 Jahren die Feinde der Moderne und der Demokratie gewesen, insbesondere der konservative Klerus und seine intellektuellen Verbündeten, die fälschlicherweise argumentiert haben, daß Demokratie und Moderne ihrer Natur nach westlich seien und daher ungeeignet für Irans Kultur und Tradition – und daß sie Teil des gefürchteten Erbes des Kolonialismus seien. Viele Verfechter von Demokratie und Humanismus haben darauf beharrt, daß dies im Gegenteil universale Ideen seien, ohne einzigartige kulturelle Bedingungen oder geographische Grenzen.

So ist die Realität in Iran – vor und nach der Islamischen Revolution von 1979 – weit komplizierter als die Slogans der Rechten oder der Linken.

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