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Inhaltsverzeichnis

LI 120, Frühjahr 2018

Wilde, Räuber, Lumpen

Wie Soldaten aus den Kolonien im Ersten Weltkrieg in Europa kämpften

„An der Westgrenze“, schrieb Max Weber 1917 in der Frankfurter Zeitung vom 18. September, „steht heute ein Auswurf afrikanischer und asiatischer Wilder und alles Räuber- und Lumpengesindel der Erde unter Waffen.“ Gemeint waren die Millionen indischer, afrikanischer, arabischer, chinesischer, vietnamesischer Soldaten und Arbeiter, die zu dieser Zeit in den Stellungen der Westfront und an etlichen Nebenschauplätzen des Ersten Weltkriegs kämpften oder arbeiteten. Britische Imperialisten rekrutierten, da ihnen die Arbeitskräfte ausgegangen waren, fast 1,4 Millionen Inder für den Kriegsdienst. Auch Frankreich zog bis zu 500 000 Soldaten aus seinen Kolonien in Afrika und Indochina ein, und beinahe 400 000 Afroamerikaner dienten in den Streitkräften der Vereinigten Staaten. Die wahren unbekannten Soldaten des Ersten Weltkriegs sind bis heute diese nichtweißen Kombattanten.

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   Mit mehr als 8 Millionen Toten und 21 Millionen Versehrten war der Erste Weltkrieg der blutigste in der europäischen Geschichte, bevor ein zweiter Feuersturm von 1939 bis 1945 auf dem Kontinent wütete. Kriegerdenkmäler und Gedenkstätten in den abgelegensten Dörfern Europas, Soldatenfriedhöfe in Verdun, an der Marne, in Passendale und an der Somme bewahren eine so umfassende und herzzerreißende Erinnerung an Verlust und Trauer, daß in den unzähligen Büchern und Filmen zum Thema die Jahre davor als goldenes Zeitalter von Wohlstand und Zufriedenheit in Europa und der herrliche Sommer von 1913 als dessen letzter Höhepunkt erscheinen. Doch heute, da sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im gesamten Westen rasant ausbreiten, ist es höchste Zeit, den rassistischen Hintergrund und die imperialistische Vorgeschichte dieses so folgenschweren Krieges in Erinnerung zu rufen, wenngleich beide nicht nur in Großbritannien und auch an den Volkstrauertagen gerne ausgeblendet werden.
   In allen Westmächten galt damals eine Rassenhierarchie, die von einem gemeinsamen Projekt territorialer Expansion bestimmt war. US-Präsident Woodrow Wilson erklärte 1917 in einer Kabinettssitzung ganz selbstverständlich, er wolle „die weiße Rasse wider die gelbe stärken“ und der „weißen Kultur ihre Vorherrschaft über den Planeten“ sichern. Eugenik, also die Idee rassischer Zuchtwahl unter den Menschen, ging durch alle Medien.

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GLOBALE RASSENHIERARCHIE

Die üblichen Erklärungen des Ersten Weltkriegs und seiner Auslöser handeln von starrer Bündnispolitik, militärischen Zeitplänen, imperialistischer Konkurrenz und deutscher Kriegstreiberei. Immer wieder heißt es, dieser Krieg sei die wegbereitende Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen: Europas Erbsünde, die noch größere Ausbrüche der Barbarei wie den Zweiten Weltkrieg und die Schoah erst ermöglicht habe. Eine sehr umfangreiche wissenschaftliche Literatur – buchstäblich Zehntausende Bücher und Aufsätze – beschäftigt sich hauptsächlich mit der Westfront und den Folgen des gegenseitigen Abschlachtens für Großbritannien, Frankreich und Deutschland, also wieder nur mit den Kernländern der imperialen Mächte, nicht mit ihren Peripherien. Gemäß dieser orthodoxen, von der Russischen Revolution und der Balfour-Deklaration flankierten Erzählung, begann der Krieg mit den ersten Kanonenschüssen im „August 1914“, wie ein einflußreiches Werk der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman aus den 1960er Jahren heißt, und den vom eigenen Patriotismus besoffenen europäischen Massen, die ihre Söhne in ein blutiges Patt zwischen den Schützengräben hetzten. Der Frieden hielt mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 Einzug, war aber auf tragische Weise durch den Vertrag von Versailles 1919 von Anfang an vergiftet und schuf damit die Ausgangslage für einen weiteren Weltkrieg.
   Mit Beginn des Kalten Krieges verbreitete sich eine ideologische Variante der Geschichte, derzufolge die beiden Weltkriege, der Faschismus und der Kommunismus monströse Verirrungen auf dem weltweiten Voranschreiten in Richtung Demokratie und Freiheit gewesen seien. In vieler Hinsicht waren aber gerade die Jahrzehnte nach 1945, als Europa langsam, seiner Kolonien beraubt, aus den Ruinen zweier vernichtender Kriege auferstand, die eigentliche Ausnahme von der Regel. Erst in der allgemeinen Erschöpfung politisch militanter und kollektivistischer Leidenschaften zumindest in Westeuropa lernte man hier die Tugenden der Demokratie und insbesondere die Achtung persönlicher Freiheiten schätzen, ebenso die praktischen Vorteile eines Wohlfahrtsstaats und erneuerten Gesellschaftsvertrags. Aber weder diese Jahrzehnte relativer Stabilität noch der Zusammenbruch der kommunistischen Regimes im Jahr 1989 rechtfertigen die Annahme, Menschenrechte und Demokratie seien unausrottbar im europäischen Boden verwurzelt.

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   Eine umfassende Betrachtung des Ersten Weltkriegs mitsamt seiner politischen Konflikte außerhalb Europas erklärt nicht nur die weltweite Ausbreitung des Kommunismus, sondern auch den extremen Nationalismus vieler heute herrschenden Eliten in Afrika und Asien und insbesondere in China, dessen Regime sich als Rächer jahrhundertelanger Demütigung Chinas durch den Westen darstellt. Um zu begreifen, wie und warum sich der weiße Weltherrschaftsanspruch nun gegen den Westen selbst wendet, müssen wir aber noch weiter in der Geschichte zurückgehen und erkennen, in welchem Maß das Weißsein Ende des 19. Jahrhunderts zum Garanten persönlicher Identität und Würde einerseits, zur Grundlage militärischer und politischer Bündnisse andererseits wurde. Insgesamt ergibt sich das Bild einer globalen Rassenhierarchie, die im Zeitalter des Imperialismus für eine naturgemäße Ordnung der Dinge stand und „unzivilisierte“ Völker der Ausrottung, Terrorisierung, Haft, Vertreibung oder brutalen Umerziehung aussetzte. Zudem war diese fest verankerte Ordnung keineswegs nur eine Nebenerscheinung des Ersten Weltkriegs, sondern Bestandteil der barbarischen Brutalität, mit der er geführt wurde, ebenso wie der umfassenden Verrohung, die später den bis dahin unvorstellbaren Schrecken des Holocaust ermöglichte. In alldem wandte sich die extreme, gesetzlose und oft völlig willkürliche Gewalt des neuzeitlichen Imperialismus am Ende gegen ihre Urheber.

IMPERIALISMUS ALS VENTIL

Eine weiter ausholende Geschichte dieses Krieges zeigt auch, daß der lange Frieden Europas de facto zugleich eine Zeit unablässiger Kriege in Asien, Afrika, Nord- und Südamerika war und daß in den Kolonien auch die Voraussetzungen für Europas Bürgerkriege – rassistische Theorien, ethnische Säuberungen und Zwangsumsiedlungen – geschaffen wurden. Mittlerweile versuchen Historiker des deutschen Kolonialismus (eines wachsenden Forschungsfeldes) den Holocaust auf die Miniaturvölkermorde zurückzuführen, die deutsche Soldaten Anfang des 20. Jahrhunderts in den afrikanischen Kolonien begingen, denn auch dort wurden schon maßgebliche Ideologien wie der „Lebensraum“ gehegt. Besonders aus angloamerikanischer Perspektive ist es aber viel zu bequem, daraus den Schluß zu ziehen, Deutschland habe als erstes Land sittliche Normen gebrochen, neue Maßstäbe der Barbarei gesetzt und damit den Rest der Welt in ein neues Zeitalter der Extreme katapultiert. Tatsächlich gab es große und tiefreichende Ähnlichkeiten zwischen der imperialistischen Politik und dem Rassendenken der europäischen und amerikanischen Mächte.

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   Bevor die Europäer ab 1914 das Massensterben und die Verwüstungen des Krieges am eigenen Leib erfuhren, war all das schon in weiten Teilen Asiens und Afrikas bekannt, wo Land und Rohstoffe mit Gewalt genommen, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen systematisch zerstört und mit Hilfe neuester Verwaltungs- und Kriegstechniken ganze Bevölkerungen dezimiert wurden. 1914 erwies sich, daß das Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent zu lange vom Ungleichgewicht anderswo gezehrt hatte. Am Ende waren Afrika und Asien als abgelegene, vermeintlich beherrschbare Schauplätze europäischer Expansionskriege im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr weit genug entfernt. Die Völker Europas erlitten dieselbe Gewalt wie die Asiaten und Afrikaner zuvor. „Wenn Gewalt nicht mehr im Namen des Gesetzes, sondern nur noch im Namen der Macht ausgeübt wird“, warnte Arendt, „verwandelt sie sich in Zerstörung aus Prinzip und hört erst auf, wenn es nichts mehr zu zerstören gibt.“

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