LI 81, Sommer 2008
Intuition, Inspiration
Brief an Pascal Dusapin über Körper, Sinnlichkeit, Geist und ÄsthetikElementardaten
Textauszug
Lieber Pascal,
Du sprichst von Intuition, und merkwürdigerweise  verstehe ich „Inspiration“. Ein Verweis auf die Homophonie genügt nicht,  um die Verwechslung zu erklären … Es ist keineswegs erstaunlich, daß es  in mir zu so einer musikalischen Verschiebung kommt. Dieses Thema  beschäftigt mich seit geraumer Zeit. Ich mache kaum Projekte auf lange  Sicht, aber ich weiß, daß mein Seminar über die Gegengeschichte der  Philosophie zu Ende gehen wird, und ich denke bereits über etwas  Anschließendes nach.
Um den Mangel der letzten sechs Jahre zu  kompensieren, die weit ausholten, also allzuoft an der Oberfläche  blieben oder sich zumindest nicht die Zeit nahmen, um tiefer zu bohren,  habe ich nun Lust auf ein kurzes, knappes Thema, das mir gestattet, zwei  oder drei Jahre einer eng umrissenen Frage zu widmen. Nach der  Geographie der Gegengeschichte nun die Geologie dieses möglichen Themas,  dem ich mich, so habe ich mir das vorgestellt, mit folgender  Fragestellung widmen möchte: Wie wird man, was man ist? Das Ganze  ausgehend von einer Untersuchung des Falles Nietzsche – der mit unserem „Organ  der Furcht“, Du erinnerst Dich …
Daher diese  Intuition-Inspiration. Wie wird man Künstler – oder auch nicht? Warum  wird dieser Künstler eher in diesem Bereich aktiv und nicht in einem  anderen? Picasso als Musiker, Varèse als Maler, Deleuze als Filmemacher,  Gracq als Bildhauer – was würde das ergeben? Wäre das überhaupt  möglich? In diese Richtung gingen meine ersten Fragen: Wie bist Du  geworden, was Du (warst?) bist? Du, der Du die Photographie und die  Praxis liebst, warum nicht eher Cartier-Bresson als Xenakis?
Eine  bezaubernde Frage. Ich glaube, daß ein Teil der Antwort auf seiten der  Neurobiologie zu finden ist. Leider verfüge ich nicht über die Mittel,  um eine klare Antwort darauf zu geben, aber ich glaube, daß ein  Philosoph, der sich um die Anwendung der existentiellen Psychoanalyse  bemüht, heute den neuronalen Menschen und die Maschinerie der Synapsen  als Ort des Gedächtnisses, des Denkens, des Erinnerns, des Genies, des  Schaffens – wie auch des Scheiterns … – nicht aussparen kann. Bei dieser  Antwort muß man aber vermeiden, die Henne, die goldene Eier legt, zu  schlachten: Denn wenn man das Gehirn von Jean-Paul Sartre öffnet, wird  man dort Das Sein und das Nichts nicht finden – das sich  gleichwohl einmal dort befand …
Gerade Sartre hat die Analyse  dessen, was man von einem Menschen totalisieren kann, weit getrieben. Im  vorliegenden Falle im Hinblick auf Deinen Lieblingsmenschen, wie Du  weißt – Flaubert. Trotz allem Corydrane, Schweiß, Alkohol, Genie,  Nikotin und Whisky ist Der Idiot der Familie unvollendet  geblieben. Das war Sartre zwar durchaus gewohnt, und die Liste seiner  unvollendeten Werke scheint genauso lang zu sein wie die von Schubert!  Ich glaube jedoch, daß das Werk deshalb unvollendet blieb, weil es an  verfügbarem Material fehlte, um die Sache voranzubringen.
Ein  schöpferisch tätiger Mensch ist ein Zerrissener. Und diesem Riß  entströmt der Stoff, die Substanz seines Genies. Warum ein Zerrissener?  Aufgrund eines Traumas – im etymologischen Sinne des Wortes: eines  Schocks, eines Exzesses oder eines Mangels, vorausgesetzt, sie sind  jeweils durch maximale Energie charakterisiert, eine Umwälzung, die  definitive Verbindung einer Wahrnehmung mit einer Emotion, einer  Empfindung mit einem Affekt, eines Signals mit einem architektonischen  Sinn.
Dieser Riß generiert Temperamente und Charaktere. Bleiben  wir Freudianer: Diese Sublimierungen sind entweder gesellschaftlich  akzeptabel oder nicht. Im einen Fall bekommen wir den Künstler, im  anderen den Delinquenten, den Verrückten, den Asozialen. Bisweilen, an  der Schnittstelle, Geniale und Gefährliche (für sich selbst und für die  anderen), hier findet man Sade, Lacenaire, Hölderlin, Nerval, Nietzsche,  Artaud, Althusser … Auf der einen Seite der Barrikade steht der Maler,  der Musiker, der Dichter, der Philosoph; auf der anderen der  Vergewaltiger, der Tyrann, der Diktator, der Kriminelle. Hier die  Lorbeeren des -Lexikons, dort das Register der Gefängnisse und  Anstalten. In beiden Fällen gehorcht die Materie dem, was sie bestimmt,  und meistens ignorieren wir den fatalen genealogischen Augenblick im  existentiellen Lebenslauf eines Wesens, das nichts dafür kann.
Von  nun an zeugt die Intuition von einem Loch im Sein. Dieses Trauma geht  von der Welt aus, es wächst in der Realität heran und gelangt ins  Gehirn, insbesondere ins Broca-Areal, das dem existentiellen Hapax  entspricht: Gerüche, Farben, Töne, Geschmäcker, Rhythmen, Sinne usw.  Der Eindruck in dieses unberührte Wachs zeichnet die Konturen einer  Figur, die wir dann im Laufe der Zeit im Detail entdecken. Musiker,  Philosoph, Schriftsteller usw. zu sein, das bedeutet, in sich selbst dem  Schauspiel dieser sich allmählich vollziehenden Enthüllung beizuwohnen.
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