LI 149, Sommer 2025
The Köln Concert
Keith Jarrett und die Geschichte einer musikalischen SternstundeElementardaten
Textauszug
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Jarrett und Eicher hatten eine Mission angetreten. Das Ziel war es, die Musik, ihre Musik, ihre Vorstellung von Musikalität gegen alle Stürme und Trends zu bewahren und zu präsentieren. Der Jazz an und für sich befand sich nach seinem Nachkriegstriumph in einer tiefen Sinnkrise und drohte zudem auch an sich selbst zugrunde zu gehen. Der große John Coltrane hatte das Saxophon ausgereizt, Miles Davis die Trompete und Duke Ellington das Jazzpiano. Das ganze Genre war technisch am Limit angekommen. Der Swing, die Bigbands und der coole Brooklyn-Sound verlagerten sich in die Zwischenetagen besserer Hotels, in die Berieselungsboxen von Delikatessen-Läden oder die neureichen Lofts von Manhattan. Junge begabte Musiker hatten nur noch zwei reale Optionen: entweder die Altmeister nachspielen oder mit Brachialgewalt auf progressiv-atonal-dissonanten Jazz zu setzen. Dieser Free Jazz aber sorgte zuverlässig dafür, die letzten treuen, liberalen Fans ins Lager des angesagten Country-Folk der Columbia-Records-Leute zu vertreiben, hin zu Dylan, Joan Baez, Joni Mitchell, Cohen, Pete Seeger oder den Byrds. Nach Monterrey und Woodstock hatte der Zeitgeist dem amerikanischen Jazz den Stecker gezogen. Dazu kamen Rassenkonflikte. Alle Welt konnte doch sehen, daß nur schwarze Musiker, siehe Coltrane, Armstrong, Ellington, Parker oder Davis mit ganzer Seele spielen, mit Feeling, Spirit, Freiheit und absolutem Gefühl. Solche Statements waren zwar Unsinn, doch sie erlaubten es im gleichen Rundumschlag, die weißen Jazzer als „too tight-assed“ abzukanzeln, als verkopfte, verklemmte und berechnende Spießer. Serienweise konnte man ihre nachgeäfften Plagiate nachweisen, aber am Ende hatten sie stets die besseren Anwälte. Mitte der Sechziger wanderten viele schwarze Musiker genau in jene europäischen Länder aus, die gemeinhin als Brutstätten des globalen Rassismus bekannt waren. Tatsächlich wurden sie dort mit offenen Armen empfangen und prägten gerade in Paris eine ganze Epoche. Ihre Musik ist untrennbar verbunden mit den Werken von Sartre und Camus und den Filmen von Melville, Truffaut und Godard. Wenn es dafür einen überragenden Sound gibt, dann ist dies die einsame Miles-Davis-Trompete in Louis Malles einsamem Film: Fahrstuhl zum Schafott.
Der Solitär Miles Davis hielt in den USA die Flamme des Jazz eine Dekade lang fast im Alleingang am Lodern. Es gelang ihm, einen Ausweg im Chaos aus High-Tech, Elektronik, Keyboards, Mikros und laufenden Innovationen zu finden und in dem Follow-Miles-Sog fanden sich so unterschiedliche Musiker wie Mayall, Korner, Hendrix, Hancock, Corea, Santana oder Weather Report ein. Dazu gesellte sich 1969 auch Keith Jarrett mit seiner mondänen klassischen Ausbildung, der als neunzehnjähriger E-Pianist mit dem Davis-Trio das Publikum aller Kontinente begeisterte. Im Verlauf der fünfzehnmonatigen Tournee wurde ihm bewußt, daß er nicht zum Anhängsel taugte. Er mußte seinerseits den Weg einschlagen, um dahin zu kommen, wo ein Thron für ihn bereitstand – im Frühnebel zwischen Klassik, Jazzrock, Folk, Hymnik, Romantik und jenem Nirwana in der Nähe des göttlichen Schweigens. Und dieser Weg verlief über seine einzigartigen und berauschenden Improvisationen. Abend für Abend begab er sich auf eine neue innere Reise und ein neues melodisches Abenteuer, ohne Wiederholungen, Netz oder doppelten Boden und bar jeder Routine und Kompromisse. John Coltrane brachte es lakonisch auf den Punkt: „Keith fängt in der Mitte eines Satzes an und läßt sich danach gleichzeitig in beide Richtungen treiben.“ Jarretts musikalischem Storytelling kam in dieser Dekade eine kulturelle Grundstimmung entgegen, die sich offen zeigte für das Unterbewußte, Expressive und Exaltierte. „Wissen Sie“, so Jarrett in einem der seltenen Interviews, „das Klavier ist wie ein Stier. Es tanzt nicht mit einem, wenn man es nicht dazu zwingt. Ich verstehe nicht, warum manche Berufskollegen stillsitzen können und kaum einen Ton von sich geben. Wenn man wirklich improvisiert, bringt man dieses Zeug hoch, buchstäblich hoch, als würde man die Musik erbrechen. Man kann nicht einfach herumsitzen, wenn einem speiübel ist und man Gift und Galle spuckt.“ Die Konzerte wurden zu einer Orgie aus Leiden, Fluten, Strömen, Lodern und Erschauern. Dazu Jarrett: „Ich habe als klassischer Pianist angefangen, so wie alle echten Kids, die Klavier spielen. Ich war schon ein Crossover-Künstler, bevor ich mein erstes Jazz-Album machte. Heute lebe ich in beiden Welten. Doch ich halte sie getrennt. Wenn ich improvisiere, dann improvisiere ich. Wenn ich Mozart spiele, improvisiere ich nicht. Wenn ich improvisiere, kann ich ohne Einschränkung alles spielen, was mir in den Sinn kommt. In einem geschriebenen Stück kann man eben nur die vorgegebenen Noten spielen, ganz einfach.“ Nach einer kurzen Pause geht es im Al-Pacino-Duktus weiter: „Ich schätze, ich bin der weltbeste Experte darin, anderthalb Stunden lang ohne Material auf verschiedenen Klavieren zu spielen. Dazu darf ich A. keine musikalischen Gedanken haben und B. in keinerlei Stimmung sein. Ich habe mit der Zeit gelernt, meine aktuelle Befindlichkeit zu unterwandern. Ich lege also meine Hand irgendwo auf die Tasten und spiele los, ganz schnell, bevor mein Gehirn anfängt, mir zu sagen, was es gerade plant. Ich habe gar nicht genügend Zeit, um als Schöpfer der Musik zu taugen. Ich komme gar nicht dazu, eine bewußte Idee auf meine Finger zu übertragen und etwas rational zu komponieren. Daher rührt auch meine wilde Vokalität. Tatsächlich fühle ich die Musik, als wäre ich ein Bläser. Es ist kein bloßes Da-da-da-da, was ich mit meinen Händen fabriziere – es ist Atmen, Schreien, Brüllen.“
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Auf der Milchstrasse
Endlich begann das TKC, und zu Beginn der 67 Minuten waren fünf Klänge. Diese G-D-C-G-A-Tonfolge zählt heute zu den Mega-Intros der Weltmusik, vergleichbar mit Beethovens Fünfter, Miles Davis’ So What oder Hey Joe von Hendrix. Lange Zeit hieß es, daß Jarrett instinktiv den Pausengong nutzte, um die Lawine anzustoßen. Doch da widersprechen alte Hasen des Hauses und meinen, daß es nie einen solchen Gong gab, sondern nur ein normales Klingeln. Neuere Forschungen ergaben, daß Jarrett bei seinem spontanen Opening auf das bereits erwähnte Glockenspiel des 4711-Hauses gegenüber der Oper reagierte. Dort ertönt nämlich zu jeder vollen Stunde das karnevaleske Lied vom Treuen Husar in melancholischem Moll. Bis heute hat sich kein Journalist getraut, bei Jarrett mit dieser peinlich-profanen Frage nachzubohren.
Dafür hatte er früher schon sinngemäß beschrieben, daß es bei der schutzlosen Nacktheit des Improvisierens auf den ersten Ton ankäme oder auf die ersten drei, vier, fünf, um damit die innere Schranke zu überwinden und den unmittelbaren Zugang zu Feeling und Flow zu gewinnen. Das TKC ist ein herausragendes Beispiel für diese Methode. Innerhalb weniger Sekunden – so wie es auch bei mir damals in der Berliner Schaubühne der Fall war – zauberte er Zärtlichkeit, Eleganz, Poesie und eine ekstatische Schönheit herbei. Man erlebt, wie er sich nach und nach an die Eigenheiten des Klaviers gewöhnte, vorwiegend im Bereich zwischen G-Dur und A-Moll blieb und hin und her tanzte, mal schnell, mal langsam, je nach Lust gewisse Muster wiederholte und dann erneut abdriftete in so noch nie gehörte Sphären. Die Finger seiner linken Hand bestimmten wie ein Drummer den Takt, während die der rechten schwebten wie die weichen Pinsel eines Impressionisten. Die ausgeleierten Pedale machte er zu einem ganz neuen Instrument, erhob sich, stöhnte, hämmerte, jauchzte, triumphierte. Spätestens nach zehn Minuten hatte er den gesamten Saal geplättet, hypnotisiert, illuminiert. Köln vibrierte und begann auf einem Teppich aus Klassik, Romantik, Folk, Gospel, Elegie und Boogie abzuheben.
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