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LI 70, Herbst 2005

9/11/04 Falludscha

Aus dem Alltag von Krieg und Besatzung - Ein girl-blog aus Bagdad

Freitag, 19. September 2005

Meine erste Razzia habe ich im Mai erlebt. Die Hitze fing gerade an, unerträglich zu werden, und wir verbrachten die ganze Nacht ohne Strom. Ich weiß noch, wie ich im Bett lag und immer wieder aufwachte. Wir schliefen noch nicht auf dem Dach, weil die ganze Nacht nicht weit entfernt Schüsse und Maschinengewehrfeuer zu hören waren – die Plünderer hatten sich noch nicht als Banden und Mafiagruppen organisiert.

Gegen drei Uhr morgens hörte ich deutlich Hubschrauber ganz in der Nähe über uns. Ich lief aus dem Zimmer in die Küche und sah E., wie er das Gesicht ans Küchenfenster drückte und versuchte, ein Stück schwarzen Himmel zu sehen.

„Was ist denn los?“ fragte ich und rannte zu ihm.
„Keine Ahnung … eine Razzia? Aber keine gewöhnliche … ich glaube, da sind Hubschrauber und Autos …“

Ich konzentrierte mich nicht mehr auf die Hubschrauber und horchte eine Weile auf die Autos. Nein, keine Autos – große, schwere Fahrzeuge, die ein brummendes, heulendes Geräusch machten. E. und ich sahen einander sprachlos an – Panzer? E. machte kehrt und rannte nach oben, zwei Stufen auf einmal. Ich folgte ihm tapsig, bis ganz nach oben, die Hand am Geländer, im Kopf ein Gewirr aus Gedanken und Vermutungen.

Überm Dach war der Himmel schwarz, mit Licht durchschossen. Hubschrauber schwebten herum, kreisten über dem Gebiet. E. beugte sich übers Geländer, versuchte, auf die Straße darunter zu sehen. Ich trat zögernd näher, und er sagte zu mir: „Eine Razzia … bei Abu A.!“ Er zeigte auf ein Haus drei Türen weiter.

Abu A. ist ein alter, geachteter Armeegeneral, der Mitte der achtziger Jahre in Pension gegangen ist. Er führte ein ruhiges Leben in seinem zweistökkigen Haus in unserer Straße. Ich wußte von ihm nur, daß er vier Kinder hat – zwei Töchter und zwei Söhne. Beide Töchter sind verheiratet. Eine lebt mit ihrem Mann in London, die andere irgendwo in Bagdad. Die in Bagdad hat einen drei Jahre alte Sohn, den wir mal L. nennen wollen. Das weiß ich, weil Abu A., seit L. ein halbes Jahr alt war, regelmäßig mit ihm in einem blau-weiß gestreiften Buggy voller Stolz unsere Straße auf und ab marschierte.

Diese Szene erwartete ich bald jeden Freitagabend: Der große, abgezehrte alte Mann, der den kleinen blauen Buggy mit dem runden, pinkfarbenen, sabbernden L. darin schob.

Mit Abu A. gesprochen habe ich erst letztes Jahr. Ich goß gerade die kleine Grasfläche vor der Mauer um unseren Garten herum und bemühte mich, den Mann, der neben dem wackeligen Kleinen herging, nicht anzustarren. Alles, was mir meine Mutter beigebracht hatte – wie unhöflich es ist, Leute anzustarren –, raste mir durchs Hirn. Als die beiden auf der Straße daherkamen, drehte ich ihnen den Rükken zu und goß beiläufig die Blumen am Rand der kleinen Grasfläche.

Plötzlich fragte eine Stimme: „Dürfen wir uns waschen?“ Verblüfft drehte ich mich um. Da standen Abu A. und L., so mit Schokolade verschmiert, daß es für eine Waschmittelwerbung gelangt hätte. Ich gab ihm den Schlauch, wobei ich ihnen fast eine Dusche verabreicht hätte, und sah zu, wie der alte Mann L. die klebrigen kleinen Finger abwusch und den gespitzten Mund sauberwischte, wobei er sagte: „Seine Mutter darf ihn so nicht sehen!“

Dann gab er mir den Schlauch wieder, und sie gingen weiter … Ich sah ihnen nach, bis sie vor seinem Haus angekommen waren – vorher alle paar Schritte stehengeblieben waren, damit L. ein Insekt betrachten konnte, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Das war letztes Jahr … oder vielleicht vor neun Monaten … oder vielleicht vor hundert Jahren. Heute Nacht nun fuhren die gepanzerten Fahrzeuge vor Abu A.s Haus, die Hubschrauber kreisten darüber, und die ganze Gegend war ein einziges Chaos aus Lärm und Lichtern.

E. und ich gingen wieder nach unten. Meine Mutter stand verängstigt in der Küchentür und sah zu meinem Vater, der am Tor stand. E. und ich liefen zu ihm hinaus und betrachteten, was sich ganze drei Häuser weiter abspielte. Es wurde gebrüllt und geschrien – die tiefen, zornigen Laute der Soldaten mischten sich mit den schrilleren Stimmen der Familie und der Nachbarn – die ganze Sinfonie ließ Unheil und Furcht erahnen.

„Was machen die da? Wen wollen sie?“ fragte ich mich, hielt das warme Eisentor gepackt und suchte die Straße nach Antworten ab. Das ganze Gebiet war in das grelle Weiß von Scheinwerfern und Leuchten getaucht, und Dutzende von Soldaten standen vor dem Haus, die Waffe im Anschlag – angespannt und schußbereit. Es dauerte nicht lange, bis sie herauskamen: als erster der Sohn, der zwanzigjährige Übersetzerstudent. Er hatte die Hände auf dem Rücken, zwei Soldaten, auf jeder Seite einer, hielten ihn gepackt. Dabei ruckte er immerzu ängstlich mit dem Kopf zurück, als sie ihn barfuß aus dem Haus führten. Als nächstes wurde Umm A. herausgebracht, Abu A.s Frau; sie schluchzte, bat darum, ihnen nichts anzutun, flehte um eine Antwort … Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ich sah, wie sie völlig verwirrt nach rechts und links schaute, und ich sprach die Worte für sie: „Was ist denn los? Warum tun sie das? Weswegen sind sie hier?“

Dann kam Abu A. Er hielt sich aufrecht und schaute sich wütend um. Seine Stimme übertönte alle anderen auf der Straße. Er bellte Fragen – verlangte eine Antwort von den Soldaten und den Umstehenden. Sein ältester Sohn A. folgte ihm mit weiteren Bewachern. Als letztes Familienmitglied kam Reem aus dem Haus, seit vier Monaten erst A.s Frau. Sie wurde von zwei Soldaten auf die Straße geführt, jeder hielt einen ihrer dünnen Arme fest.

Nie werde ich diese Szene vergessen. Zitternd stand sie mit ihren 22 Jahren in der warmen, schwarzen Nacht. Das ärmellose Nachthemd, das ihr nur knapp übers Knie reichte, entblößte zitternde Gliedmaßen – man hatte das Gefühl, daß die Soldaten sie an den Armen hielten, weil sie sonst bewußtlos zu Boden sinken würde, wenn sie auch nur einen Augenblick losließen. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, weil sie den Kopf gesenkt hielt und die Haare darum herumhingen. Zum ersten Mal sah ich ihre Haare … normalerweise trug sie einen Hidschab.

Da wollte ich weinen … schreien … etwas auf das Chaos dort werfen. Ich spürte Reems Demütigung, wie sie so dastand, den Kopf vor Scham gesenkt – vor aller Welt entblößt, mitten in der Nacht.

Einer der Nachbarn, der näher dran war, traute sich vor und versuchte, mit einem der Soldaten in Kontakt zu treten. Der Soldat richtete sofort sein Gewehr auf den Mann und brüllte ihn an, zurückzugehen. Der Mann hielt eine Abaya hoch, ein schwarzes Gewand, das manche Frauen tragen, und zeigte auf das zitternde Mädchen. Der Soldat nickte knapp und sagte, er solle zurückgehen. „Bitte“, kam die zögernde Antwort, „bedecken Sie sie …“ Vorsichtig legte er die Abaya auf die Erde und ging zu seinem Tor zurück. Der Soldat schaute verunsichert, ging aber hin, um das Kleidungsstück aufzuheben, und legte es dem Mädchen unbeholfen um die Schultern.

Ich hielt mich am Tor fest, da mir die Knie weich wurden, ich weinte … und versuchte, mir das Durcheinander zu erklären. Viele Nachbarn standen dabei und sahen bestürzt zu. Abu A.s Nachbar, Abu Ali, versuchte, mit einem der Soldaten Kontakt aufzunehmen. Er zeigte auf Umm A. und Reem und dann auf sein Haus; offensichtlich bat er um die Erlaubnis, die Frauen bei sich aufzunehmen. Der Soldat winkte einen anderen zu sich, offenbar ein Dolmetscher. Bei Razzien hält sich immer ein Dolmetscher unauffällig im Hintergrund – sie schicken ihn nicht gleich vor, um mit den verängstigten Leuten zu sprechen, weil sie hoffen, daß jemand zufällig etwas ganz Wichtiges auf Arabisch sagt, weil er denkt, die Soldaten verstehen ihn nicht, zum Beispiel: „Schatz, hast du die Atombombe im Garten vergraben, wie ich es dir gesagt habe?!“ Schließlich durften Umm A. und Reem in Begleitung von Soldaten in Abu Alis Haus. Reem ging mechanisch, wie benommen, Umm A. dagegen war hektisch. Sie blieb erst noch stehen und wollte wissen, was nun geschehe … ob sie ihren Mann und ihre Jungen mitnehmen wollten … Abu Ali drängte sie hinein.

Das Haus wurde durchwühlt … gründlich nach was auch immer durchsucht – Vasen wurden zerbrochen, Tische umgeschmissen, Kleider aus Schränken gezerrt …

Gegen sechs Uhr morgens waren die letzten Fahrzeuge abgefahren. Die Gegend war wieder ruhig und still. In dieser Nacht schlief ich nicht mehr, auch nicht am Tag und in der nächsten Nacht. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloß, sah ich Abu A. und seinen Enkel L. und Reem … Ich sah Umm A., wie sie vor Angst und Panik weinte und um eine Erklärung bat.

Abu A. ist noch nicht wieder da. Das Rote Kreuz ermöglicht den Kontakt zwischen ihm und seiner Familie … L. läuft freitags nicht mehr schokoladenverschmiert die Straße entlang, und ich frage mich, wie alt er wohl sein wird, bis er seinen Großvater wiedersieht …

(...)

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