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Cover Lettre International, Magali Lambert
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LI 123, Winter 2018

Klänge unserer Zeit

Das Komponieren ist heute so vielfältig wie die Welt der Kunst

(…)

   1989 war ich im College, und die Welt von damals erscheint mir inzwischen vorsintflutlich. Wie meine Eltern wuchs auch ich mit Zeitungen und Magazinen auf, schrieb entweder von Hand oder auf einer Schreibmaschine und hörte Musik von LPs. Kommuniziert wurde mit Briefen, und Auto wurde mit Landkarten gefahren. So wie Virginia Woolf den „Geburtstag der Moderne“ festsetzt („um Dezember 1910 herum hat sich der Charakter der Menschheit verändert“), so muß es auch ein Pendant für unsere Generation geben, irgendwann Mitte der Neunziger.
   In der zeitgenössischen Musik bestand der große Umschwung aus dem Rückzug – ja, vielleicht sogar dem Untergang – der Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten sich weltweit und in Windeseile irrwitzig komplexe Systeme, um Musik in komponierte Bahnen zu bringen: Zwölftonmusik, ihre serialistischen Varianten, Aleatorik und so weiter. Das typische moderne Werk war vertrackt, abstrakt, kantig in der Gestik und abrupt in den Übergängen. Traditionelle Formen fielen in Ungnade. Emotionalität war verpönt. Der Hohepriester dieser Epoche war der kürzlich verstorbene Pierre Boulez, der alle Komponisten, die Schönbergs System nicht verinnerlicht hatten, als „nutzlos“ abkanzelte.
   Eine der schärfsten Kritiken des Ethos der Modernisten kam von der Musikwissenschaftlerin Susan McClary, die 1988 in ihrem Essay Terminal Prestige die „Mystik der Komplexität“ entlarvte. Modernismus sei eine „geradezu absurde Reduzierung der romantischen Idee des 19. Jahrhunderts darauf, daß Musik eine autonome Beschäftigung sei, isoliert von den Einflüssen der äußeren Welt“. Hinter der polemisierenden modernistischen Fassade sah sie eine Macho-Pose, eine Aversion gegen sanfte, sentimentale und alle vermeintlich weiblichen Qualitäten. Die ablehnende Haltung des Modernismus gegenüber Kommerzialisierung und Popularität übertünche nur dürftig den alternativen Basar, auf dem elitäre Künstler um Zuschüsse, Fördermittel und Professuren schacherten. All dies könnte man als einen Ausdruck der Nachkriegsmentalität ansehen, in der auch noch die abstrusesten Betätigungen mit pseudowissenschaftlichen Termini untermauert und legitimiert würden.
   Die siebziger und achtziger Jahre sahen eine allmähliche Rückkehr zu einer auf tonalen Prinzipien basierenden Tonsprache – ob Minimalismus, Neue Einfachheit oder Neoromantik. Diese Entwicklungen hatten ihre Parallelen in den anderen Künsten: der Wiederkehr von Ornamenten in der Architektur, der figurativen Kunst in der Malerei, der Erzählprosa in der Literatur. Das Werk, mit dem Rutherford-Johnson die Diskussion in seinem Buch eröffnet, ist das 1988 geschriebene Different Trains von Steve Reich. Es bedient sich eines klassischen Streichquartetts und digitaler Aufnahmen von Gesprächsfetzen, aufgenommenen Streicherpassagen und Hintergrundgeräuschen. Die rhythmisch schnaufende Vorwärtsbewegung und die sich wiederholenden Gesten geben eine einladend geschmeidige Oberfläche ab – obgleich das Material eigentlich den Holocaust thematisiert. Different Trains steht stellvertretend für die Rückkehr zu den Grundlagen der Musik. Oder, wie es McClary bezeichnet: zu einem „Komponieren für Menschen“.

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   Ein Großteil der Moderne des 20. Jahrhunderts klang nicht nur wie das Resultat eines automatisierten Ablaufs, wie die Ausarbeitung einer utopischen, mathematischen Formel: sie war es auch. Die Modernisten von heute, seien es die der sinnlichen Schule oder die Hyperkomplexität betreibenden, legen inzwischen weniger Gewicht auf die kompositorische Methode an sich. Ihre Musik tendiert dazu, direkter, spürbarer, griffiger zu sein. Eine überwältigende Persönlichkeit ist die in Israel geborene Komponistin Chaya Czernowin, einstmals Ferneyhough-Schülerin und inzwischen selbst eine einflußreiche Professorin. Ihre Oper Pnima (1999) charakterisierend, schreibt Rutherford-Johnson, daß der Hörer die gespielten Noten geradezu fühlen könne „… als unterschiedliche Formen von Druck und Reibung. Luft, die auf die halbgeöffneten Lippen drückt. Bogenhaare, die sich am Rauh der Saiten reiben. Gleitende und zupfende Fingerkuppen.“ Obgleich die sich im Schatten von Traumata abspielende Musik (Pnima handelt von der Verarbeitung des Holocaust aus der Sicht einer jüngeren Generation) dunkel und unnachgiebig ist, ist an ihr doch nichts Trocken-Akademisches oder Verkopftes. Czernowin komponiert schlicht die inverse Schönheit des Schreckens. Das Resultat ist ein musikalisches Äquivalent von Picassos Guernica oder Anselm Kiefers Margarethe.
   Die klassische Musik hat eine Art „Kandinsky-Problem“: Wo es Maler, Schriftsteller und Filmemacher der Moderne recht einfach hatten, ein breiteres Publikum zu erreichen, taten sich Komponisten deutlich schwerer. Die Menschen stehen um Straßenblöcke herum Schlange, nur um in eine Kandinsky-Ausstellung oder Rothko-Retrospektive zu kommen. Allein der Name „Schönberg“ auf einem Konzertprogramm drückt die Verkaufszahlen hingegen deutlich. Die Schuld liegt nicht unbedingt bei den Komponisten, haben doch die im Umfeld der klassischen Musik traditionell konservativen Institutionen viel zu der für Neue Musik schwierigen Atmosphäre beigetragen. Unleserliche, prätentiöse Begleittexte und eine hochnäsige Attitüde von seiten der Komponisten haben allerdings auch nicht geholfen, die Kluft zwischen Tonkünstler und Publikum zu verringern. Die Modernisten des neuen Millenniums gehen derweil einen anderen Weg. Trevor Bača, einer von Czernowins amerikanischen Schülern, beschreibt die Motivation hinter seinen eingängig-rauhbeinigen Kompositionen als eine „emotionale Notwendigkeit …, die phantastischen und unmöglichen Farben und Formen der Welt als Klang und schiere Freude auf Papier zu bringen. Gleichzeitig bin ich mir vollkommen bewußt, daß ich, wann immer ich komponiere, mit und in einem Code arbeite. Den angeblich zwischen Analyse und Emotion herrschenden Widerspruch weise ich entschieden zurück.“

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