LI 149, Sommer 2025
What is Noise?
Klang, Lärm, Geräusch – die musikalische Emanzipation der DissonanzElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Jens F. Laurson
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Textauszug
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Der deutsche Physiker Hermann von Helmholtz beschreibt in seinem Werk Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik von 1863 Musik als das Gegenteil von Lärm. Lärm lasse sich daran erkennen, „daß im Verlaufe eines Geräusches ein schneller Wechsel verschiedenartiger Schallempfindungen eintritt … Ein musikalischer Klang dagegen“, so Helmholtz, „erscheint dem Ohre als ein Schall, der vollkommen ruhig, gleichmäßig und unveränderlich dauert.“ Manche Tonkombinationen wirken dabei angenehmer als andere – alles eine Frage physiologischer Prinzipien, die Helmholtz mit eindrucksvoller Akribie darlegt. Die europäischen Komponisten haben die Kunst der Harmonie zur Vollendung geführt – und damit, so könnte man meinen, als Bollwerk gegen den Lärm.
Allerdings hatten zu dem Zeitpunkt Komponisten da schon andere Ideen. Wie die Vögel, so hatten auch sie sich auf die veränderte Welt um sie herum eingestellt – und ahmten zunehmend ihren lärmenden Charakter nach. Schon in Wagners Rheingold wird die subterrane Schmiede der Nibelungen auf Geheiß der Partitur unter Zuhilfenahme von – unter anderem – 18 Ambossen imitiert. Einige Takte lang schweigt der Rest des Orchesters – und die Ambosse hämmern allein: Industriekrach in Reinkultur. Gleichzeitig löste sich die Harmonie immer weiter von ihren tonalen Ankerpunkten. Furchterregende Dissonanzen bei Mahler, Strauss und Skrjabin ließen sowohl die äußere Verdichtung des modernen Lebens als auch die innere Zerrissenheit des Individuums anklingen. Mahler wird zitiert: „Wir Modernen brauchen einen so großen Apparat, um unsere Gedanken, ob groß oder klein, auszudrücken … weil wir gezwungen sind, uns vor falscher Auslegung zu schützen; weil unser Auge im Regenbogen immer mehr und mehr Farben und immer zartere und feinere Modulationen sehen lernt, [und] weil wir, um in den übergroßen Räumen unserer Konzertsäle und Operntheater von vielen gehört zu werden, auch einen großen Lärm machen müssen.“
Im Jahr 1913 spitzte sich die Situation bedeutend zu. Die animalischen Akkorde, mit denen Strawinsky durch den zweiten Teil seines Le Sacre du printemps stapft, packen sieben der zwölf Töne der westlichen chromatischen Skala auf engstem Raum zusammen. Das Ergebnis ist ein überwältigendes Schwirren und Flirren. T. S. Eliot schrieb später, das „Frühlingsopfer“ verwandle den Rhythmus der Steppe in „das Hupen von Autos, das Rattern von Maschinen, das Schleifen der Räder, das Hämmern von Eisen und Stahl, das Dröhnen der U-Bahn ... und wandle all diese verzweifelten Geräusche in Musik“. Am 31. März 1913, zwei Monate vor der Uraufführung des Sacre, kam es in Wien zu einem noch heftigeren Aufruhr bei einem Konzert mit Werken von Arnold Schönberg und seinem Umkreis. In Alban Bergs Orchesterlied Über die Grenzen des All intonieren Holzbläser und Blech ein sanftes, geisterhaftes Klangfeld, in dem alle zwölf Töne zugleich zu hören sind – eine instrumentale Annäherung an White Noise, lange bevor der Begriff erfunden war. Das Konzert endete prompt in Ausschreitungen, die selbst der Skandal rund um das Sacre nicht überbot. Eine Schlägerei brach aus, die Polizei wurde gerufen, und es wurde Anzeige erstattet.
Im selben Jahr der Skandale veröffentlichte der futuristische Maler Luigi Russolo ein Manifest mit dem Titel L’arte dei rumori („Die Kunst der Geräusche“). Darin schrieb er: „Beethoven und Wagner haben während vieler Jahre unsere Nerven erschüttert und Herzen bewegt. Heute sind wir ihrer überdrüssig und genießen es viel mehr, die Geräusche der Tram, der Verbrennungsmotoren, allerlei Vehikel und schreienden Menschenmengen in unserer Vorstellung zu kombinieren …“ Zu diesem Zweck entwickelten Russolo und sein Bruder Antonio einen ganzen Maschinenpark selbstgebauter Lärminstrumente. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1921 klingt wie eine Café-Kapelle, die in einem Zimmerchen mit maroden Rohrleitungen vor sich hin quietscht. Das konnten andere Komponisten deutlich überzeugender: Werke von Amadeo Roldán für Schlagzeug, Kompositionen von Edgard Varèse, frühe elektronische Experimente von Paul Hindemith und Oskar Sala, Lärmcollagen von John Cage. Varèses monumentales Orchesterstück Amériques, das 1926 auf die Bühne der Carnegie Hall gehievt wurde, entfesselte das ganze Getöse der Metropole – inklusive einer Sirene der New Yorker Feuerwehr. George Antheil wollte in seinem Ballet Mécanique, im Jahr darauf am selben Ort, Flugzeugpropeller auf der Bühne anwerfen – mußte sich dann aber doch mit Ventilatoren begnügen.
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Auch populäre Musik wurde von Noise heimgesucht. Jazzmusiker, die in der Blues-Tradition arbeiteten, erweiterten die Tonpalette über die zwölf chromatischen Halbtöne hinaus. Das höhnisch jaulende Glissando der Posaunen wurde zum Markenzeichen. Im Knistern der Schallplatten ging der Jazz nicht unter – sondern blühte gar erst so richtig auf. Das Aufkommen einer eigenständigen, vollwertigen Jazz-Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg trieb den musikalischen Modernismus zu neuen Spitzen. Rock hatte in den Siebzigern und Achtzigern seine Noise-Art-Phase – mit dem industriellen Dröhnen von Bands wie Throbbing Gristle oder Einstürzende Neubauten. Der Hip-Hop arbeitete von Anfang an mit Noise. Hank Shocklee, der als deren Produzent den Sound von Public Enemy schuf, sagte dazu: „Wir waren überzeugt, daß Musik nichts anderes ist als organisierter Lärm. Du kannst alles nehmen – Straßengeräusche, unser Gespräch hier, was auch immer – und es zu Musik machen, wenn du es nur organisierst. (…) Das, was wir Musik nennen, ist viel umfassender, als wir denken.“ Das hätte genau so auch von Varèse oder Cage kommen können.
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In der Noise Art steckt freilich immer auch implizit ein Widerstand. Über Jahrtausende war die Musik ein Mittel der Kontrolle – ergo, so die Folgerung, ist Krach ein Mittel der Befreiung. Schönberg ging so weit, um von der „Emanzipierung der Dissonanz“ zu sprechen, als läge seinen harmonischen Innovationen eine bürgerrechtliche Dimension inne. In seinem Buch Bruits, essai sur l’économie politique de la musique von 1977 gab der Sozialtheoretiker Jacques Attali diesem Argument einen intellektuellen Anstrich: Das bruit nouveau, das Attali im aufkommenden Free Jazz und der europäischen Avantgarde zu hören meinte, hatte für ihn eine revolutionäre Dimension. Es verweigert sich dem Markt, es verneint jegliche Popularität, es „erfindet neue Codes“ und „spielt nur zum eigenen Vergnügen“. Spätere Abhandlungen wie Paul Hegartys Noise/Music hielten zwar an der Helmholtzschen Dichotomie zwischen Klang und Lärm fest, kehrten jedoch deren Wertung um: Lärm war auf einmal der heroische Zerstörer einer uns erstickenden musikalischen Banalität.
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