LI 81, Sommer 2008
In brennendem Haus
Annäherungen an die Ursachen des Todes von Anna AltschukElementardaten
Genre: Erinnerung, Tagebuch
Übersetzung: Aus dem Russischen von Elena und Dirk Uffelmann
Textauszug
Nach dem Verschwinden meiner Frau Anna Altschuk am 21. März diesen  Jahres durchlebte ich drei Wochen unter dem ständigen Eindruck  polizeilicher Ermittlungen, des Sichgewöhnens an die Leere neben mir und  an den Abgrund, der sich immer weiter auftat und drohte, auch noch den  Rest meines Lebens zu verschlingen.
Ich schreckte zurück vor ihren  Photos mit der Bildunterschrift „Die Polizei bittet um Ihre Hilfe“, die  in Cafés, Apotheken und Geschäften aushingen; wann immer ich diese  Suchmeldungen erblickte, mußte ich mich abwenden, weil ich es nicht  ertragen konnte, ihr Gesicht auf diesen Photos zu sehen.
Und dann ist  da die Wohnung, in der mich jeder einzelne Gegenstand an sie erinnert;  die Straßenzüge, in denen ich mit jedem Haus gemeinsame Erlebnisse  verbinde. Wie kann man einen Teil seiner selbst amputieren? Wie alles  neu sehen lernen, ohne den helfenden Blick des anderen, der so sehr Teil  von einem selbst geworden war, daß man diesen Blick gar nicht mehr  bemerkte?
Tagaus, tagein spielte ich Anrufbeantworter: Mehrmals  am Tage erklärte ich den erschütterten Anrufern, daß es eigentlich  nichts zu berichten gebe, daß die Suche weitergehe und man bisher keine  einzige Spur habe. Die Stimmen im Telefonhörer begannen zu zittern,  wurden leiser, verwandelten sich in ein Flüstern. Wenn ich mit Moskau  sprach, klang es doppelt: Jedes Wort hallte wieder, als ob ich einen  weiteren Gesprächspartner in der Leitung hätte …
Noch aber gab es  eine leise Hoffnung.
Drei Wochen später, am 11. April, standen  zwei Kriminalbeamte vor unserer Tür. Daran, daß die Uhr und die im  Wasser aufgeweichten Gegenstände, die auf den von ihnen mitgebrachten  Schwarzweißphotos zu sehen waren, meiner Frau gehörten, konnte ich noch  zweifeln, aber als ich den Ehering sah, den Anna 33 Jahre lang getragen  hatte (den gleichen, wie ich ihn trage, nur etwas kleiner, mit derselben  Repunze und demselben Juweliersstempel), sagte ich zuerst zu mir selbst  (was das schwerste war) und anschließend zu den Polizeibeamten: „Ja,  höchstwahrscheinlich ist sie das.“ Während ich mich umzog, um  mitzukommen und das Protokoll zu unterzeichnen, achteten die Polizisten,  die in ihrem Berufsleben offensichtlich schon vieles hatten mit ansehen  müssen, darauf, daß die Tür einen Spalt offenblieb, wissend, daß man  Menschen in einem Zustand wie dem, in dem ich mich befand, manches  zutrauen kann.
Nach Annas Verschwinden fand ich ein Tagebuch  ihrer Träume der letzten fünf Jahre, während derer meine Frau und andere  Künstler in Rußland Opfer einer Hetzkampagne geworden waren. Im Radio,  im Fernsehen und in der Presse wurden ganze Kübel Dreck über sie alle  ausgegossen. Dann wurde meine Frau, deren Unschuld dem Gericht von  vornherein klar war, als einzige angeklagt; nach über fünf Monaten  ununterbrochener Beleidigungen und Erniedrigungen im Gerichtssaal sprach  sie der Richter, dem kein einziger Beweis ihrer Schuld vorgelegt werden  konnte, von den Vorwürfen frei (was in Rußland äußerst selten  geschieht, denn Freisprüche schaden einer Richterkarriere).
Ein  Freispruch ist eine formal-juristische Angelegenheit. In einer  autoritären Gesellschaft aber trägt jemand, der einmal zum Schuldigen  auserkoren wurde, weiterhin das Stigma der Schuld. Die Moskauer  Künstlerszene begriff, wer die Macht hat (und damit, so denkt der  Sowjetmensch von gestern, auch das Recht gepachtet hat), und wandte sich  von Anna Altschuk ab.
Was hatte sie all diese Jahre hindurch  gefühlt? Wie spiegelten sich diese Gefühle in ihren Träumen? Wie geschah  es, daß sie sukzessive mit der Opferrolle, die ihr aufgezwungen wurde  und die sie anfangs ironisch als etwas Äußerliches betrachtet hatte (im  Jahr 2005, als der Prozeß noch im Gange war, machte sie eine  Gedicht-Collage und ein Video mit dem Titel An allem schuld!),  zu verwachsen begann und ihr Vertrauen in die Außenwelt einbüßte? Zum  ersten Mal wurde ich unmittelbar damit konfrontiert, wie die Geschichte,  eine Fügung von auf den ersten Blick unpersönlichen Ereignissen,  plötzlich wie eine galvanisierte Leiche lebendig wurde, die Zähne  fletschte und den Menschen zerfleischte, der mir am nächsten stand. Ich  habe viel über soziale Tragödien, über Präsidenten, mediale Strategien  und Tricks geschrieben, mit deren Hilfe die Mächtigen für Gehorsam  sorgen, aber diesmal geschah etwas völlig anderes – die Brechung der  Zeitgeschichte im Schicksal eines konkreten Menschen.
Manches  begriff ich in diesen Tagen: Das Geschehen auf der großen politischen  Bühne schlägt sich nicht automatisch wie ein allen gemeinsames Fatum in  den persönlichen Tragödien einzelner Menschen nieder. Jeder durchlebt es  auf seine Art, und keine noch so breit angelegte Strategie funktioniert  ohne die Mitwirkung jedes einzelnen. Es reicht nicht zu befehlen: „Macht  es so!“; der gewaltsame Akt des Befehlens muß die Maske des  Freiwilligen übergezogen bekommen und zum Verhaltensimperativ für viele,  sehr viele Menschen werden. Wenn dabei jemand, der zum politischen  Feind erklärt wurde, trotzdem nicht erleben muß, wie seine Freunde sich  von ihm abwenden oder wie sie, während sie ihm die Hand reichen, nach  allen Seiten schielen, um sicher zu sein, daß es niemand merkt; mit  anderen Worten, wenn der Kontakt zu diesem Menschen kein Tabu für  diejenigen wird, die ihn insgeheim schätzen und wissen, daß er  unschuldig ist – dann ist eine Gesellschaft noch nicht gänzlich  versklavt, und die Folgen aus zivilem Ungehorsam (andernorts  menschlicher Anstand genannt) führen noch nicht zu einer Katastrophe.
Auch  genügt es noch nicht, sich die von der Logik der Konfrontation und des  Hasses durchdrungenen Reden von Politikern bloß anzuhören; die Folgen  dieses Hasses müssen erst einen konkreten Menschen treffen, der Haß muß  von unten unterfüttert werden, ein emotionales, menschliches Äquivalent  bekommen. Erst wenn dieses Äquivalent gefunden ist, wenn das, was von  der Bühne der großen Politik aus verkündet wird, Teil eines  einschneidenden, traumatischen Erlebnisses wird, dann haben fragile  Persönlichkeiten, die auf Ungerechtigkeit empfindlich reagieren (und  meine Frau war eine solche Persönlichkeit), deutlich geringere  Überlebenschancen, erleben sie es doch als Ungerechtigkeit, wenn andere  (wie auch Annas Freunde) dem neuen sozialen Imperativ folgen. In der  neuen Erscheinungsform des allgemeinverbindlichen Imperativs sehen diese  zerbrechlichen Menschen eine Perversion; sie wagen den Protest und  unterliegen in einem ungleichen Kampf.
In einem autoritären  sozialen Klima beginnt ein Mensch, wenn er zum Schuldigen erklärt wird,  sich langsam, aber sicher selbst für schuldig zu halten; er  verinnerlicht die ihm aufgepfropfte Schuld – nicht etwa weil alle  anderen von seiner Schuld überzeugt wären (er hat Freunde, doch die  können ihm nicht mehr helfen), sondern weil er von einer Instanz  schuldig gesprochen wurde, die im Namen aller spricht, und alle,  unabhängig davon, ob sie das gehetzte Opfer für schuldig halten oder  nicht, sich ihm gegenüber so verhalten werden, als ob seine Schuld  längst feststünde. Der so zum Sündenbock Erkorene beginnt mit der Zeit,  seine Schuld in seinen eigenen Körper einzuschreiben; irgendwann kommt  bei ihm dann der Wunsch auf, diesen schuldigen Körper abzustreifen, aus  ihm auszubrechen in einen Raum jenseits jener pervertierten  Gesellschaft, die ihn verurteilt hat.
(...)
 
   
   
   
  