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Cover Lettre International 137
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LI 137, Sommer 2022

Wie ich Lucy Sante wurde

Über leidvolle Geheimnisse, ein Coming-Out und eine späte Erlösung

Am 15. Februar 2021 lud ich die sogenannte FaceApp auf mein Smartphone herunter, nur zum Spaß. Ich hatte seit einigen Monaten ein neues Gerät, und ich war neugierig. Obwohl die App ihren Benutzern gestattet, Alter, Körperform oder Frisur zu verändern, war ich insbesondere – eigentlich ausschließlich – an der Gendertausch-Funktion interessiert. Ich gab ein steckbriefartiges Selfie ein und erhielt im Gegenzug etwas, das mir nicht schlecht gefiel: das Foto einer attraktiven Frau, in deren Gesicht meine Züge zu erkennen waren. Der Gendertausch war eine seltsame und elektrisierende Idee, die den größten Teil meiner 67 Jahre lang irgendwo in einem Winkel meines Bewußtseins gelebt hatte. Doch hatte ich mir nur selten eine solche graphische Verkörperung gestattet – im Lauf der Zeit hatte ich gelegentlich Bilder gezeichnet und Fotografien verändert, um mich als Frau vor mir zu sehen, hatte aber die Ergebnisse immer sofort vernichtet. Doch dieses Cyber-Bild löschte ich nicht. Statt dessen suchte ich in den folgenden Wochen alle Bilder von mir heraus, die ich besaß, alle, die entstanden waren, seit ich zwölf war: Schnappschüsse, Ausweise, Studioaufnahmen, Porträts auf Buchumschlägen, Bilder in sozialen Medien. Ich verspürte eine tiefe Erschütterung. Ich konnte nun, aufgereiht auf meinem Bildschirm, das Panorama meines Lebens als Frau vor mir sehen, vom kichernden kleinen Mädchen bis zur Matrone des letzten Jahres. Ich hatte es immer gehaßt, Bilder von mir selbst zu betrachten, aber diese hier ergaben einen Sinn. Mein Wunsch, als Frau zu leben, war – das konnte ich nun erkennen – ein stabiler Zusammenhang, der all die Jahrzehnte dicht unter der Oberfläche meines offiziellen Lebens existiert hatte, trotz meiner ganzen Anstrengungen, so zu tun, als gäbe es ihn nicht.
     Danach übernahm etwas die Regie, eine Welle reiner Bewegungsenergie, ein Impuls, der immer noch anhält und an guten Tagen meine mich stets lähmende Selbstbeobachtung überrollt. Was immer auch dieser Antrieb ist (wohl die Schubkraft von etwas lang Eingesperrtem, das plötzlich freigesetzt wird), er hat die abstrakte Einsicht in ein konkretes Gebot verwandelt. Meine Maskierung war aufgeflogen, ich hatte keine andere Wahl, als nun die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.

(...)

Was bedeutete es eigentlich, transsexuell zu sein (der Begriff war damals populär)? Anscheinend beinhaltete das, daß man nach Bangkok oder Casablanca reiste und sich den Apparat untenrum eliminieren ließ. Der Gedanke war schmerzhaft, und ich mied ihn. (Ein paar Jahre später, als ich zwanzig war, ging ich spät nachts durch Malmö. Ich kam an einem Pornoladen vorbei, wo ich mitten in einer dichtgedrängten Collage an der Eingangstür das Foto eines hübschen Mädchens mit einem Penis entdeckte. Wie ging das zu? Ich war aufgewühlt.) Ich plünderte das Bibliotheksmaterial, das kaum sehr umfangreich war. Ich las Krafft-Ebings blutleere Klassifikationen und endlose sexualwissenschaftliche Schwarten, die üblicherweise dem „Transvestitismus“ eine halbe Seite widmeten, mit Diagnosen, die von einem neurotischen Leiden bis zu einem läßlichen gelegentlichen Schlafzimmer-Trick reichten.
     Aber war ich ein Transvestit? Ich liebte Frauenkleider, und ich liebte es, sie zu tragen – bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie mir in den Schoß fielen: eine rote geblümte Bluse, die in einem Apartment des East Village vergessen worden war, in das ich einzog; ein ganzer Stapel Wäsche, der auf einem Trockner in einer Studentenwohnung der Universität Genf liegengeblieben war. Doch ich stieß diese Sachen schnell wieder ab. Für mich hatte damals der Transvestitismus etwas Schmutziges, etwas Unechtes. So, wie die Dinge standen, hinderte ich mich selbst daran, irgendwie zu handeln. Ich konnte in bestimmten legendären Läden Manhattans (Lee’s Mardi Gras Boutique) nicht einkaufen oder mich auch nur dort umsehen – ich konnte nicht ins Edelweiss oder in den Club 82 oder später in den Pyramid Club, obwohl der eine Zeitlang kaum eine Querstraße von meinem Apartment entfernt war. So oder so, auch wenn ich diese Kultur von außen zu schätzen wußte, das war nicht meins. Ich wollte eine Frau sein, keine Satire. Ich war nicht an ausladenden Frisuren interessiert, an großen Titten, an hohen Absätzen, und ich haßte den Gedanken, von Männern angestarrt zu werden. Das war jedenfalls der Hauptgrund. Der zweite Grund war, daß mich angesichts der Gewalt meines Wunsches Entsetzen ergriff. Ich hatte tödliche Angst vor dem Prozeß, den ich durchlief.

(...)

Die meiste Zeit komme ich mir in meiner neuen Identität normal vor. Ich führe den Hund aus, gehe zur Eisenwarenhandlung und in den Supermarkt (die Covid-Masken helfen in prekären Situationen), unterrichte mein Seminar, fahre Zug oder Bus, gehe mit Freunden essen, veranstalte Lesungen – alles ohne Beunruhigung. Die existentielle Krise, die ich befürchtet hatte, weil ich eine Perücke brauche (meine Birne zeigt, seit ich 17 bin, das klassische männliche Halbglatzenmuster, das ich damals als Strafe Gottes für meine Sehnsüchte empfand), die trat nicht ein. Ich kann mit der Perücke nicht schlafen oder duschen, aber davon abgesehen wird sie einfach zu meinem Haar. Ich bin prinzipiell gelassen, ich flicke meine Besorgnisse zu und beiße die Zähne zusammen, wenn ich Angst habe, obwohl mich auch hie und da die tiefe Merkwürdigkeit des Ganzen überfällt.
     Hier bin ich mit 67, ich beginne etwas Enormes, das schon vor Jahrzehnten hätte getan werden wollen. Manche Veränderungen sind oberflächlich, doch andere sind metaphysisch. Zu Beginn meines Übergangs spürte ich diesen Tidenhub sehr deutlich. Ich empfand Ehrfurcht und Angst, ich zitterte und bebte tagelang, buchstäblich. Jetzt weiß ich, daß ich (wie wir alle) in einer Wolke des Nicht-Wissens lebe, wo Gewißheiten zusammenbrechen und Kategorien sich verflüssigen. Keiner von uns weiß irgend etwas, das nicht provisorisch wäre. Und nun, wie Lou Reed es gesagt hat: „I’m set free / to find a new illusion.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024