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Cover Lettre International 36, Haralampi G. Oroschakoff
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Inhaltsverzeichnis

LI 36, Frühjahr 1997

Das Grün der Lust

(...)

In unserer Straße, gegenüber dem Haus mit den "drei Einzeltöchtern", wie uns jemand einmal liebevoll genannt hatte, wohnte ein Barbier. Tzortzios Naréas mit Namen. Er war nicht direkt unser Bruder, aber in jener in weite Ferne gerückten, fast unvorstellbaren Zeit - und doch ist es nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Jahre her -, in jener Zeit waren die Nachbarn wie eine Familie; besonders in den Orten, die keine Ameisenhaufen waren wie jene Städte, wo die Menschen keinen anderen Namen kennen, als den eigenen. Außerdem liebte Tzortzios Mariánthi und sollte bald unser Schwager werden.

Ich betrachtete also Tzortzios auch ein bißchen wie einen Bruder, und so war es für ihn ganz natürlich, sich um mich zu kümmern und mich zu streicheln, zumal ich mich damals bei solchen Dingen, das heißt dem Leben gegenüber, mit einer herrlichen Einfalt - die ich für immer zu behalten hoffe - verhielt, mit einer klaren, gleichsam geheimnisvollen Naivität. Für mich war damals alles sinnlich. Die Menschen, die unaufhörlich geboren werden und unaufhörlich sterben; der Regen, der zu uns spricht und dem wir zuhören, ohne ihn zu verstehen; die Tiere, deren Geschichte durch keine Tierkunde erzählt, durch keine Tierliebe erfaßt wird; die Gerüche, die uns ohne Netz und ohne Plan für immer umgarnen; die Nächte, die den einen inspirieren, den anderen ängstigen; die Geschichten, die wir hören oder verfolgen, erleben oder erfinden und die in unserem Leben ihr eigenes führen; alles, ob Gut oder Böse in einem Abenteuer, in seinem Gespinst - alles war sinnlich. Die Sonne, der Mond, die Kleider, das Bettzeug, die Bäume, die Heuschrecken, die Träume, die Beerdigungen - alles. Meine Sinne waren damals so wach, wie heute diese Erinnerungen in mir wach sind.

Tzortzis hatte einen Barbierladen, den ich über alles liebte. Er hatte etwas von der Atmosphäre eines Romans oder des italienischen Films der fünfziger Jahre, so wirkt sie jedenfalls in mir nach, jetzt, wo ich diesen Laden noch einmal betrete. Es war ein langer und nicht allzu enger Raum wie ein Flur, voller Spiegel. Spiegel an beiden Wänden, von der Tür bis in die hinterste Ecke, und Schränke, Regale, dazwischen kleine Konsolen, darunter Marmorflächen und Waschbecken und rechts und links vor jedem Spiegel Vasen mit Blumen, die, doppelt und dreifach gespiegelt, dem Barbierladen das Aussehen eines Gartens verliehen; vergilbte, sepiafarbene Postkarten oder Photographien mit längst verstorbenen Stars, damals auf dem Zenit ihres Ruhms; da waren auch all die Arbeitsutensilien und was dazugehörte: Flaschen, die ich zitternd berührte oder deren Duft ich seufzend und mit geschlossenen Augen einsog, Ledersessel, weiße Handtücher, weich wie Katzen, dunkelgrüne oder mandelgrüne Essenzen in Zerstäubern, Dosen mit Puder, der herrlich nach Rosen oder Magnolien duftete, Taschenbücher - Liebesromane und Krimis -, Illustrierte, metallene Kleiderbügel und weinrote Vorhänge. Vor dem einen Türflügel, der sich nicht öffnen ließ, stand ein zierlicher, zartgrüner Porzellanofen mit Reliefmustern und an der gegenüberliegenden Wand, weit hinten im Raum, eine Drehorgel, auf deren großem ovalen Bild und in blendenden bunten Farben eine wunderschöne Zigeunerin mit tränenfeuchten Augen ihr Tamburin schwang. Auf der Drehorgel lag ein Saiteninstrument, das wir tsaboúra nannten, wahrscheinlich war es das bekannte Bousoúki oder etwas derartiges.

Tzortzios spielte oft auf der Tsaboúra. Immer wenn keine Kunden da waren und er keine Lust zum Lesen hatte, nahm er die Tsaboúra, warf sich in einen Sessel oder stellte sich hinter die Tür und spielte. Er spielte, und gegenüber im Haus war mir so zumute, als riefen Sirenen nach mir, als wollten sie mich dorthin locken. Ich kam wie hypnotisiert und setzte mich draußen auf die Stufen oder drückte das Gesicht an die Fensterscheibe; ich sah Tzortzios in die Augen, auf die Finger und hörte ihm zu. Ich preßte den Mund an die kalte Scheibe, die Scheibe beschlug sich, wurde wärmer. Irgendwann hörte er auf, winkte mir zu, daß er gleich weiterspielen würde, und dann, ohne mich anzusehen, öffnete er die Tür einen Spalt und flüsterte: "Komm!" oder "Herein!". Das geschah meistens mittags, im Sommer wie im Winter, wenn die anderen Läden zugemacht hatten und die Straße wie leergefegt war. Tzortzios wich ein wenig zurück, wir öffneten die Tür etwas mehr, unschuldig sah ich mich um und schlüpfte hinein.

Tzortzios zog jetzt, in der sanften und geschickten Weise, wie er Tsaboúra spielte oder die Männer rasierte, die Vorhänge zu und drehte den Schlüssel, krak, krak, zweimal herum. Der Barbierladen wurde in ein veilchenblaues und smaragdgrünes Licht getaucht, verwandelte sich in eine andere Welt. Die Luft war voller Liebkosungen, die verschlossenen Flakons bogen sich, zersprangen lautlos - Jahre später habe ich das in Tarkowskis Spiegel wiedergesehen -, Toilettenwasser und Parfums ergossen sich mit einem wollustigen, spielerischen Kli-kli... Kli-kli... Kli-kli-kli... Die Blumen stiegen, einzeln oder als Sträuße, aus ihren Vasen heraus, einige schwebten hinauf zur Decke, andere glitten auf den Fußboden, wiederum andere legten sich wie schöne nackte Frauen vor die geliebten Spiegel.

In den Spiegeln schwamm alles wie tief auf dem Grund des Meeres. Mein Kopf sah wie eine Meerespflanze aus, auch Tzortzios' Kopf; getragen von der Strömung, schwankten wir unter der Oberfläche hin und her, berührten uns, trieben auseinander, kamen wieder zueinander. Es war wie mit offenen Augen träumen ... Die Stars auf den Photos bekamen einen anderen oder tieferen Gesichtsausdruck. Mit einem Mal waren sie wirklich lebendig, einige wurden plötzlich ganz sanft, andere wilder, und alle schienen zu lächeln, selbst diejenigen, die nicht lächelten, bei manchen ragte sogar die Zunge zwischen den Zähnen hervor.

Die Zigeunerin schloß ihre feuchten schmachtenden Augen und schlug das Tamburin mal an ihren, mal an meinen Kopf, wirbelte es dann in der Luft herum wie besessen. Dort oben drückte der liebe Gott auch beide Augen zu, verbot jedenfalls nichts ... und ich hatte den seltsamen Eindruck, daß die Lebenden das, was ich tat, was ein kleines Mädchen von sieben, acht Jahren mit einem erwachsenen Mann machte, verurteilten und für eine Schande hielten, wogegen die Toten dem ihren Segen gaben und sich daran freuten - wären sie lebendig, würden sie es auch tun. Dessen war ich mir absolut sicher, und daher unterhielt ich damals zu den Toten arglosere, harmonischere Beziehungen als zu den Lebenden. Auch Tzortzios kam mir wie ein Toter vor. Ich selbst mir natürlich auch. Mitten in Spiegeln und süßer Feuchtigkeit. In den darauffolgenden Jahren suchte ich immer wieder, fast schmerzhaft, aber vergeblich, nach jener ... - nein, es war eigentlich nicht Lust, es war etwas von der Beschaffenheit der Lust, das in meinem Leben einsam und einzigartig geblieben ist.

Tzortzios stellte sich hinter mich und spielte auf der Tsaboúra. Klein und zierlich, wie ich war, reichte ich ihm kaum über den Nabel. Außerdem senkte ich den Kopf, und die Tsaboúra berührte meinen Nacken, kühl wie ein Dolch. Seine Finger bewegten sich auf den Saiten, und mir war es, als rührte er andere Saiten, in mir, ... Mir gefiel das, mir schwanden fast die Sinne ... ich spürte ein süßes Brennen im Bauch, ein Brennen und ein Dröhnen, was mich tief erfreute. Tzortzios war zwischen den Schenkeln heiß wie glühende Kohlen, er rieb sich ganz langsam an meinem Rücken tiefer und tiefer ...

"Niemand sieht uns", sagte er heiser, "niemand!"

Ich hob ein wenig den Kopf und sah ihn im Spiegel.

"Nur der Spiegel sieht uns, und der Spiegel ist still wie ein Grab", sagte er, "niemand sonst!"

Ab und zu fragte er mich: "Ist es nicht schön?"

Ich nickte, ohne etwas zu sagen; oder sagte leise, etwas erstaunt, "ja".

"Weißt du, was wir da machen?" fragte er manchmal.

"Was die Kinder machen, um geboren zu werden", sagte ich und erschrak ein wenig.

Er lachte.

"Was die Männer und die Frauen miteinander machen", verbesserte er mich, "damit die Kinder geboren werden."

Nein, soweit gingen wir nicht, nicht auf die bekannte Weise. Aber wenn ich es mir jetzt überlege, es war doch eine andersartige und tiefgreifende, vage und durchdringende Weise ... jene Atmosphäre von Sinnlichkeit, in die wir in bestimmten Träumen getaucht werden, die wir ganz in uns aufsaugen möchten und die uns so quält: lieber sterben, als aufzuwachen und dieses schale, uns verhöhnende Gefühl zu spüren - das schon im Traum uns beschleicht: Es ist nur ein Traum.

Wenn Tzortzios merkte, daß ich bei einer gewagten Bewegung errötete und er fürchten mußte, daß ich erschrecken und weglaufen könnte, versuchte er mich von dem, was zwischen uns und hinter meinem Rücken geschah, abzulenken:

"Was hat euch heute der Lehrer erzählt?" fragte er.

Ich erzählte ihm, was ich behalten hatte, wie ich es behalten hatte. Ab und zu erzählte ich ihm auch etwas ganz anderes, das ich von keinem Lehrer gehört hatte, erfundene Geschichten, Dinge, über die ich nachdachte, oder was mir gerade in den Sinn kam.

"Ach so ... ach so ...", sagte er immer wieder - ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt zuhörte.

"Ja, so", sagte ich und erzählte weiter oder schwieg plötzlich.

Manchmal waren wir ganz still. Er stöhnte nur dumpf von Zeit zur Zeit, und die Tsaboúra spielte weiter ... von allein. Dann lauschte ich auf alles, auf das Nahe und das Entfernte und Unfaßbare, auf das Unhörbare. Ich fühlte mein Blut brennen wie Feuer, fühlte, wie das Blut von mir wich und nur das Feuer blieb, wie meine Knie weich wurden wie aufgedröselte Schnüre, meine Hände ganz taub. Irgendwann ließ mich Tzortzios jäh stehen, lief nach hinten, hielt sich mit der einen Hand an der Drehorgel fest, wie ein am Bauch Verwundeter Halt sucht, lehnte die Stirn an die Wand - die Tsaboúra ließ er in einen Sessel fallen -, und mit der anderen Hand holte er das, was unruhig und herrisch in seiner Hose steckte, heraus, umfaßte und rüttelte es eine Weile, bis alles erleichtert war, sich fast in nichts auflöste und er ein kurzes Heulen wie eine Hyäne ausstieß, das nur ich und er hören konnten. Der weiße Strom ergoß sich, floß zwischen seinen Fingern, und Tzortzios versuchte sein Gesicht zu verbergen, während er Worte stammelte, die in keinem Wörterbuch stehen. Reglos, wie verloren zwischen Spiegeln und Blumen, verfolgte ich dies alles wohl mit offenem Mund, sicherlich aber mit weitgeöffneten Augen. Tzortzios wusch sich, trocknete sich ab, ging hinter ein kleines Paravent, um sich zurechtzumachen. Als er wieder erschien, war er frisch, munter und gesprächig, mir gegenüber aber jetzt seltsam fremd. Ein Schluchzen saß mir dann im Hals, ein Jammer, so unbestimmt und unfaßbar wie alles, was sich in diesem unvergeßlichen Barbierladen zutrug.

Er kam zu mir und streichelte mich wie ein Lehrer am Ohr. "Du bist ein liebes kleines Mädchen", sagte er - ich hätte ihn gern in die Hand gebissen. Einmal habe ich es auch getan. Ich habe ihn wirklich in die Hand gebissen. Aber er wurde nicht böse. Er sah mich nur etwas erstaunt, gleichwohl verständnisvoll an, dann beugte er sich hinunter und gab mir einen Kuß auf die Wange. "Du bist ein sehr liebes Mädchen", sagte er, jetzt nicht mehr nur so dahingeredet, und ich fing zu lachen an. Er lachte auch.

Und während ich immer noch mit gespannten Nerven dastand, besprühte mich Tzortzios buchstäblich von oben bis unten mit wohlriechenden Parfums, erstickte mich in Puder. Und als wir auch damit fertig waren, holte er die Tsaboúra und fing wieder zu spielen an, und ich hörte ihm friedlich und sanft wie ein Engel zu. Bevor die Läden wieder öffneten, ging ich nach Hause; ich nahm diese ganze andere Welt mit mir.

Tzortzios zog die Vorhänge zurück und lüftete pfeifend den Laden. Dann setzte er sich neben den Ofen, zündete eine Zigarette an und breitete auf seinen Knien eine Illustrierte aus.

Die erste Zeit verlief es etwas anders. Er sah mich zum Beispiel im Hof stehen oder auf der Straße vorbeigehen und klopfte an die Fensterscheibe. Ich ging hin, er öffnete ein wenig die Tür und fragte mich, ob er mir Tsaboúra vorspielen solle, oder er schlug gleich vor, ich solle hereinkommen und er würde für mich auf der Tsaboúra spielen. Es versteht sich, daß keine Kunden da waren, es war zur Mittagszeit. Ich trat also in den Laden und setzte mich brav auf einem Stuhl oder in einen Sessel. Er holte die Tsaboúra, stellte sich vor mich und sah mich an. Er hatte eine dunkle, sehr reine, glatte Haut, fast bronzefarben und etwas glänzend - trotzdem nicht fettig -, fast porenlos. Er war schön. Vor allem seine Augen waren schön - grüne, funkelnde Augen, wie die Katzen sie haben. Persephóni nannte ihn deswegen "Kótour", was auf slawisch Kater heißt. Diese Augen sollen irgendwie furchterregend gewesen sein, vielen schienen sie jedenfalls wie die eines Teufels oder eines vom Teufel Besessenen, weshalb ihn auch keine Frau haben wollte, so sagte man; Mariánthi begnügte sich zu sagen: "Wenn er nur nicht diese Augen hätte ...", mehr nicht. Mich aber zogen gerade seine Augen am meisten an. Er hatte pechschwarzes, glattes, säuberlich gepflegtes Haar, das er überaus kunstvoll nach hinten kämmte und genau in der Mitte, wie mit einem mit dem Lineal gezogenen Strich, scheitelte; eine hohe, gewölbte Stirn - ich nannte sie Arena - und Ohren, die nach oben spitz zuliefen, die Ohrläppchen lagen wie angeklebt am Hals; sein Mund war wollüstig, seine Zähne waren wie die eines Negers. Gewöhnlich trug er grün - Ölgrün, Zypressengrün, ein kräftiges, bitteres Grün wie das der Olive ... Im Sommer zog er sogar ein gräßliches weißkohlgrünes Hemd an. Und gab richtig damit an oder machte sich wohl auch darüber lustig: "Grün! Die Farbe der Hoffnung!"

Ob der Hoffnung, weiß ich nicht, Grün ist jedenfalls für mich die Farbe der Lust geblieben, jener Art von Lust, die wie ein kleiner Sproß, am Anfang unvermutet, sprießt, sich langsam festigt, heraufwächst und sich verzweigt - wie die meisten Pflanzen ist auch die "Pflanze" der Lust grün. (Ich spreche vom richtigen Grün, vom tiefen finsteren Grün wie das Grün der Flüsse oder vom strahlenden dennoch dunkelschimmernden Grün - Weißkohlgrün und ähnliches haben damit nichts zu tun.)

Er sah mich also an und wartete ... Ich sagte: "Spiel mir vor: Jagen wollen wir gehen / Zu tun ist gar nichts mehr / Auf Vögel wollen wir schießen / mit unserem Schießgewehr ..." Ich sagte nicht nur den Anfang, sondern die ganze Strophe auf, denn die "Vögel" mußten unbedingt erwähnt werden. Das war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen uns beiden - wie es dazu gekommen war, weiß ich nicht mehr genau. Tzortzios fing an, das Lied zu spielen und es zu singen. Es handelte von irgendwelchen jungen Schneiderlein, die eines Tages Nadel, Faden, Fingerhut und Maßband hinwerfen, statt dessen ihre Gewehre nehmen und auf die Jagd gehen. Auf Vogeljagd. Unterwegs kommen sie an einem Apfelbaum vorbei, auf dem ein wunderschönes blondes Mädchen sitzt und Äpfel ißt. Die Schneiderlein fallen auf die Knie, legen die Gewehre neben sich und flehen sie an, vom Apfelbaum herunterzusteigen und einen von ihnen zu heiraten ... Das Mädchen aber lehnt beharrlich ab, mit bitterem Hohn antwortet sie, sie wolle nichts mehr von Männern und von der Liebe hören, lieber bleibe sie ein Leben lang auf dem Baum und äße Äpfel ... Zum Schluß sagt sie: Wie ein Apfel im Baum will ich nun sein / Geht Vögel jagen und laßt mich allein. Da kamen schon wieder die Vögel vor ... Tzortzios hielt an dieser Stelle inne, er sah mich wieder an:

"Vögel ...", sagte er, als spräche er zu sich.

"Sing weiter ... sing das, was danach kommt!" sagte ich.

"Es ist aber traurig", erinnerte er mich.

"Das macht nichts", bestand ich darauf, "ich möchte es hören."

Tzortzios protestierte ein wenig, hielt es aber schließlich für angebracht, mir den Gefallen zu tun. Er beugte sich wieder über seine Tsaboúra und sang das Lied zu Ende:

"... Der eine sieht einen Apfel rot / Der andere ein Vöglein klein / Er zielt und schießt das Mädchen tot / Ob Apfel rot, ob Vöglein fein."

Der Schlußakkord ähnelte kaum einem Schuß, im Gegenteil, der Ton war sanft und getragen, wie eine Klage. Ich schreckte dennoch auf wie ein Vogel ...

In dieser Geschichte gab es aber noch einen Vogel. Tzortzios fragte mich: "Möchtest du einen Vogel anfassen, so einen wie die Vögel, die die Schneiderlein jagen?"

"Einen Vogel ...?" fragte ich.

"Ja, ein Vöglein", sagte er, "du kannst es streicheln ..."

"Wo ist es?" fragte ich.

"Da, hier", sagte er und zeigte auf seine Hosentasche, "hier drin habe ich es, steck deine Hand hinein, faß es an."

"Und wenn es mich piekt?"

"Es wird dich nicht pieken. Im Gegenteil, es wird sich sehr freuen."

(Diesen Dialog führten wir jedesmal, fast genauso, es war ein Ritual, eine Art Einleitung ... nach dem Präludium des Liedes.)

Ich steckte die Hand in seine grüne Hosentasche - es war ein wenig, als steckte ich sie ins kühle Gras -, und dort, umhüllt in seidenem Futterstoff, wartete auf mich der eigenartigste Vogel der Welt. Ich erinnere mich, wie er sich blindlings regte, meine Finger als Stütze suchte ... Über mich gebeugt, spornte uns Tzortzios beide an:

"Faß es. Faß es an, das Vöglein ... Komm, lieber kleiner Vogel ... Es ist ein liebes Vöglein, hab keine Angst, es hat dich lieb ... Faß es an, streichle es, spiel mit deinen Fingerchen damit, wie mit einem Puppenkopf ... So ... So ... Aah! ... Wie sich das Vöglein freut! Merkst du das? ... Es freut sich, hat dich lieb ..."

Einmal bin ich ärgerlich geworden. Mich hatte plötzlich die Wut gepackt, und ich sagte zu Tzortzios: "Du Lügner! Das ist kein Vöglein, das ist ein ... Schlänglein!" Das habe ich offenbar in einem sehr kritischen Augenblick ausgesprochen, denn Tzortzios sagte: "Ob Vöglein, ob Schlänglein, nicht loslassen ... drück so fest du kannst und ..." Das Vöglein, das Schlänglein war jetzt riesengroß und schwer geworden und unbändig, wollte durch den Futterstoff hindurch mir die Finger auffressen. Ich erschrak, zog aber die Hand nicht weg. "Ich drücke ihm den Hals zu!" sagte ich noch wütender. "Ja!" sagte Tzortzios in rasender Erschöpfung. Ich hatte offensichtlich den idealen Zeitpunkt gewählt, um dem Vöglein den Hals zuzudrücken. Gleich ... jetzt ... der Vogel, die Schlange (Verkleinerungsformen wären nunmehr fehl am Platz gewesen) hing leblos, weich wie Teig und dampfend zwischen meinen Fingern, ein warmer Bach floß ...

Tzortzios sind damals die Tränen gekommen, glaube ich, seine Augen waren feucht. Er hatte den Kopf nach hinten geworfen und ekstatisch gesagt: "Noch nie war es so schön!"

Ich war erschrocken, stand da wie eine Salzsäule und sah ins Leere. Ich wußte nicht mehr, was geschah, was Vögel, was Schlangen waren, was Lieder, was Gewehre und was Menschen. Dann rief ich unwirsch: "Das sage ich, das sage ich dem Lehrer!" Ich glaubte selbst nicht daran - und wußte, daß ich nicht daran glaubte, daß ich es nicht tun würde. Aber wenn wir in allem Komplizen waren, sollten wir nun auch diese Angst teilen, das war alles, was ich wollte. Tzortzios muß völlig fassungslos gewesen sein - so etwas war noch nicht vorgekommen. Er war verblüfft, lief rot an, kniete sich zu mir hinunter und preßte den Kopf an meine Brust. Ich hatte das Gefühl, er würde bald - er würde jetzt herzzerreißend zu heulen anfangen. In Wirklichkeit hätte Tzortzios mich am liebsten geohrfeigt, doch er wußte, daß so etwas die Sache noch verschlimmert hätte. So unterdrückte er seine Wut, konnte aber seine Angst nicht verbergen. "Ich sprühe dich mit Lavendelwasser ein, soviel du willst, da wirst du noch nach zehn Jahren duften ... Ich gebe dir Schokolade ... Ich kaufe dir ein Halskettchen ...", sagte er wie benommen.

Ich machte meiner vorübergehenden Illoyalität auf eine beinahe heroische Weise ein Ende: "Ich möchte kein Lavendelwasser! Ich möchte auch keine Schokolade und keine Halskette. Und ich sage es auch niemanden", sagte ich. Und ging.

Und ich bin wieder hingegangen. Mehrere Male noch. Vögel hin, Schlangen her, das war schließlich gar nicht so wichtig. Dort war alles so betörend und so seltsam, unwirklich und beängstigend. Ein Zauber ohnegleichen. Und Spiegel. Spiegel in Spiegeln ... Tzortzios spielte Tsaboú ra, betupfte mich am Hals und unter der Nase mit Lavendelwasser, tat mir auch einige Tropfen hinter die Ohrläppchen, ins Innere der Handgelenke und in die Kniekehlen, danach puderte er mich ein und gab mir ein paar grüne Lutschbonbons, die "Rendezvouschen" hießen; meine Kehle brannte, meine Augen tränten, bis ich ihn eines Tages bat: "Ich möchte die roten, die grünen sind zu scharf, die mag ich nicht."

Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, hörten wir auf. Tzortzios aber spielte für mich weiter auf der Tsaboú ra und spendierte mir rote Rendezvouschen, die er eigens für mich besorgte - er selbst bevorzugte nach wie vor die grünen. Über Vergangenes sprachen wir nicht. Und über Gegenwärtiges und Zukünftiges schwiegen wir wie zwei Sphinxe. Wir sahen uns an, eigentlich nur in den Spiegeln, und nur dann merkten wir ab und zu, wie etwas flimmernd in unseren Augen aufflackerte, bald aber wieder erlosch - die Vögel schlossen ihre Flügel und schliefen; die Schlangen regten sich nicht mehr.

Er ist nach einigen Jahren plötzlich an einem Herzleiden gestorben. Er war neununddreißig Jahre alt. Mariánthi hatte er nicht geheiratet, auch eine andere nicht. Der Barbierladen wurde geschlossen. Eines Tages waren Leute mit einem Lastwagen gekommen und räumten alles aus, wie man eine Stickerei Stich für Stich aufzieht. Nichts ließen sie stehen. Ich kann mich noch erinnern, wie brutal sie die Spiegel von den Wänden abschraubten und aufluden ...

An jenem Tag habe ich um Tzortzios mehr geweint als am Tag seiner Beerdigung, als sie ihn in die Erde senkten und ich das Körbchen mit den kólliwa und den Oliven trug und mit meinen Gedanken bei den Vögeln war ... Ich konnte nicht glauben, daß er tot war, obwohl ich gesehen hatte, wie er im Leichentuch lag, wie man den Sarg schloß und an zwei Seilen ins Loch hinabließ. Ich dachte, ich würde vom Friedhof nach Hause gehen, die Straße überqueren und ihn in seinem Laden auf der Tsaboúra spielen hören - er würde an die Fensterscheibe klopfen und für mich singen: Augen wie deine Augen / die gibts nur einmal im Leben / Und wer sie sieht und wer sie küßt / hat keine Angst vorm Sterben ...

Aber an jenem Tag, als ich die kahlen, schmucklosen, kalten Wände und die verschnürten Spiegel auf dem Lastwagen sah, an jenem Tag habe ich begriffen, daß er gestorben, dem Tod nicht entkommen war. Ich habe es durch und durch gespürt, und mir war ganz elend zumute. Mit ihm war so vieles verlorengegangen, ein ganzes Leben. Mir. Ich konnte nicht aufhören zu weinen - da hatten wir es nun, warum die Zigeunerin weinte! -, und mitten in dem Durcheinander, das durch die eiligen Träger entstanden war, schlüpfte ich in den Laden. Heimlich nahm ich eine Flasche Lavendelwasser, ein Handtuch, eine Schere, eine kleine Schüssel für den Seifenschaum, den Pinsel und ein Rasiermesser mit. Ich habe das alles immer noch.

Zwei, drei Monate später hat man den Barbierladen vermietet; er wurde zu einem Notariat. Ich habe es nie betreten.

 

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