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Cover Lettre International 72, Shana & Robert ParkeHarrison
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LI 72, Frühjahr 2006

Welcher Multikulturalismus?

DER Multikulturalismus steht heutige im Brennpunkt des Interesses. Ob im sozialen, kulturellen oder politischen Bereich: Der Multikulturalismus wird häufig beschworen – vor allem in Westeuropa und den USA. Das ist nicht verwunderlich, denn aufgrund der gewachsenen Zahl globaler Kontakte, Interaktionen und umfassenden Migrationsbewegungen sind die unterschiedlichsten Praktiken verschiedener Kulturen eng zusammen gerückt. Die allgemeine Akzeptanz des Gebots „Liebe deinen Nächsten“ geht auf Zeiten zurück, da Nachbarn einen in etwa gleichen Lebensstil pflegten („Laßt uns nächsten Sonntag darüber reden, wenn der Organist Pause macht“); doch heute erfordert „seinen Nächsten zu lieben“, daß Menschen sich für die völlig verschiedenen Lebensweisen ihrer Nachbarn interessieren. Daß dies keine einfache Aufgabe ist, haben uns die dänischen Mohammed-Karikaturen und die davon ausgelöste Entrüstung vor Augen geführt. In einer globalisierten Welt können wir uns den Luxus nicht leisten, über die schwierigen Fragen des Multikulturalismus hinwegzusehen.

Eine der zentralen Fragen dabei betrifft das Menschenbild. Sollen Menschen nach ihren überlieferten Sitten, insbesondere der Religion, der jeweiligen Gemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden, eingeteilt werden – wobei vorausgesetzt wird, daß eine nicht frei gewählte Identität automatisch Vorrang hat vor anderen Zugehörigkeiten, wie zum Beispiel Politik, Beruf, Klasse, Geschlecht, Sprache, Dichtung, sozialen Bezügen? Oder sollten sie als Personen mit vielfältigen Zugehörigkeiten und Bindungen begriffen werden, die in diesem Beziehungsgeflecht ihre eigenen Prioritäten setzen und die die Verantwortung solch einer begründeten Wahl übernehmen müssen? Dazu kommt die Frage, ob die Fairneß des Multikulturalismus in erster Linie danach beurteilt werden soll, inwieweit Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen nur „in Ruhe gelassen“ werden, oder danach, inwieweit die sozialen Bedingungen hinsichtlich der Beteiligungsmöglichkeiten an der Zivilgesellschaft und der Bildungschancen ihrer Fähigkeit entgegenkomn, begründete Entscheidungen zu treffen? Bei der Diskussion von Theorie und Praxis des Multikulturalismus kann es nützlich sein, sich die britischen Erfahrungen näher anzuschauen. Großbritannien nimmt, was die Propagierung eines integrierenden Multikulturalismus anbelangt, eine Vorreiterstellung ein und kann auf eine Reihe von Erfolgen und Schwierigkeiten zurückblicken, die auch für andere Länder von Bedeutung sind. In Großbritannien brachen 1981 in London und Liverpool Rassenunruhen aus, die allerdings nicht ganz so schwer waren wie die Ausschreitungen vom Herbst 2005 in Frankreich. Sie bildeten den Anlaß für weitere Bemühungen um Integration, und seit fast einem Vierteljahrhundert ist die Situation auf der Insel ziemlich stabil und ruhig. Dieser Integrationsprozeß profitiert in nicht unerheblichem Maße von dem Umstand, daß alle Einwohner Großbritanniens, die – wie die Mehrheit der dort ansässigen nichtweißen Einwanderer – aus den Ländern des Commonwealth stammen, sofort das volle Wahlrecht genießen, auch wenn sie nicht die britische Staatsbürgerschaft besitzen. Zudem wird der Integrationsprozeß durch die Gleichbehandlung befördert, die Einwanderern im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich und bei der Sozialversicherung zuteil wird. Trotzdem kam es auch hier zur Entfremdung einer Gruppe Einwanderer und zu einem „hausgemachten“ Terrorismus, der sich zeigte, als jugendliche Muslime aus Einwandererfamilien – in Großbritannien geboren, großgezogen und ausgebildet – im Juli 2005 in London zahlreiche Menschen durch Selbstmordattentate in den Tod rissen.

Diskussionen über die britische Politik in Sachen Multikulturalismus erlangen deshalb eine weiterreichende Bedeutung und erregen mehr Aufmerksamkeit und Leidenschaft, als man es zunächst erwarten dürfte. Sechs Wochen nach den Terrorangriffen in London, als in Le Monde der kritische Essay „Die Krise des britischen Multikulturalismus“ erschien, mischte sich James A. Goldston, Chef der liberalen Menschenrechtsorganisation Open Society Justice Initiative, in die Debatte ein, um auf die „lautstarken Signale“ vom Festland zu antworten: „Es wäre falsch, die nur zu reale Bedrohung durch den Terrorismus zum Anlaß zu nehmen, mit den britischen Errungenschaften ethnischer Integration der letzten 25 Jahre aufzuräumen.“ Damit war eine wichtige Debatte um den Status des Multikulturalismus eröffnet.

Ich vertrete den Standpunkt, daß es nicht um die Frage geht, ob es mit dem Multikulturalismus „zu weit getrieben“ wurde, sondern darum, welche Form der Multikulturalismus annehmen soll. Ist Multikulturalismus nichts anderes als Toleranz angesichts der Vielfalt der Kulturen? Kommt es darauf an, wer kulturelle Praktiken wählt – ob sie Menschen schon im Kindesalter im Namen der „Kultur der Gemeinschaft“  eingetrichtert werden oder ob sie aus freien Stücken gewählt werden von Personen, die ausreichend Gelegenheit hatten, Alternativen kennenzulernen und darüber zu reflektieren? Welche Möglichkeiten haben Angehörige verschiedener Gemeinschaften in Schulen und in der Gesamtgesellschaft, sich über den Glauben oder Unglauben unterschiedlichster Menschen auf der Welt zu informieren und zu begreifen, wie man zu einem vernünftigen Diskurs über Entscheidungen kommen kann, die jeder Mensch, manchmal auch nur implizit, treffen muß?

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