LI 81, Sommer 2008
Spuren im Sumpf
Elementardaten
Genre: Meditation, Reportage
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Textauszug
„Wo sind wir jetzt, Buck?“
„Wir nähern uns einem der wildesten  Winkel aller Meere der Welt, Kumpel.“
Ich bin an Bord des  Hummerfängers „Velocity“, und wir halten auf Tasmaniens Südspitze zu.  Regen peitscht nieder, eine drei Meter hohe Dünung wirft hohe  Gischtwogen auf, und der Wind fegt mit 140 Stundenkilometern über das  Deck.
Das Südwestkap ist umrundet, und langsam stampfen wir  nordwärts, Tasmaniens tückische Westküste entlang. Ein unfaßbar  frischer, sauberer Wind, der ungehindert 16 500 Kilometer weit von der  nächsten Landmasse, von Feuerland, herüberweht, gibt eine pausenlose  Breitseite auf uns ab.
Ich klammere mich an die Reling und blicke mit  zusammengekniffenen Augen über die grauen Wellen auf uralte  Quarzitfelsen, Buttongrasebenen und die Konturen der hinter uns  zurückbleibenden Berge – heute nur noch eine unbewohnte Wildnis.
„Schon  mal hier gewesen?“ frage ich Buck mit seinem langen Prophetenbart,  dem roten Hemd einer australischen Football-Mannschaft und der  halbleeren, Langhals genannten Bierflasche in der Hand.
Er lacht  verächtlich. „Schon oft. Ich komme immer wieder in diese Gegend,  Kumpel, weil ich mir ansehen will, wo der Aborigine in mir herkommt.“
Das  Land, das ich im Regen kaum ausmachen kann, war bis vor nicht allzu  langer Zeit noch von Bucks Vorfahren besiedelt, jenen tasmanischen  Ureinwohnern, die seit der letzten Eiszeit auf dieser Insel gelebt  hatten. (Buck stammt außerdem von einem im 19.Jahrhundert eingewanderten  schottischen Matrosen namens Brown ab.) 1803 kamen dann die Briten, und  innerhalb einer einzigen Lebensspanne waren die tasmanischen  Ureinwohner tot, allesamt, ohne Ausnahme. Ihr Schicksal, ihre rasche  Auslöschung, erscheint mir zunehmend beispielhaft für das, was die  übrige Menschheit erwartet, sollten wir nicht unverdient Glück haben.  Mir fällt ein Plakat an der Straße ein, daß ich auf der Fahrt zur  „Velocity“ gesehen habe, eine Warnung an alle rücksichtslosen  Autofahrer. Eine Hand, schnippende Finger und die Worte: „Einfach  so."
Der Wind sprüht Gischt über das Deck. Ich klammere mich  fester an die Reling, atme tief ein und fülle meine Lungen mit der  verbrieftermaßen reinsten Luft dieser Welt.
Folgt man den uralten  Felsklippen nach Norden, kommt man zur Cape Grim -Baseline Air Pollution  Station, die 1970 meldete, dieser Wind – eingefangen in Behältern wie „fette  Glaswürste“ – sei die „sauberste je auf Erden gemessene Luft“.  Die Meßstation ist eine von 22, die Veränderungen in unserer  Atmosphäre prüfen. Cape Grim mag am Ende der Welt liegen, doch sind die  auf dem gut hundert Meter hohen Felsgipfel herausgefilterten  Informationen für unseren ganzen Planeten von Bedeutung.
Als ich  das letzte Mal mit der leitenden Wissenschaftlerin Jill Cainey sprach,  durfte sie keine Aussagen zum Klimawandel machen, da Australien das Kyoto-Protokoll  nicht unterzeichnet hatte. (Das tat es erst in diesem Jahr.)  Allerdings konnte sie mir sagen, daß die Konzentration von Kohlendioxid  von 330 Teile pro Million im Jahre 1983 auf 372 Teile pro Million im  Jahre 2003 gestiegen war. Gefährlich, sagte sie, wird es ab 400. Als ich  mich jetzt, fünf Jahre später, erneut mit Cainey unterhalte, einer  bescheidenen, unaufdringlichen Engländerin, sagt sie, der Wert seit um  weitere 10 Punkte auf 382 Teile pro Million gestiegen. Und diesmal zeigt  sie in dem, was sie zu sagen hat, keine Zurückhaltung.
Cainey ist in  meinem Alter und wuchs in Nord-england mit der in unserer Generation  verbreiteten Ansicht auf, die Natur würde schon mit dem fertig, was wir  ihr zumuten. Wir warfen nicht bloß Plastiktüten, sondern auch unseren  Giftmüll und radioaktiven Abfall in die Meere – oder wir verpesteten die  Luft und verbrannten das Zeug einfach. Wir testeten Wasserstoffbomben,  holzten ganze Wälder ab, betrieben Raubbau an unserem Planeten und  glaubten, er würde schon auf die eine oder andere Weise damit  zurechtkommen. Allein im Laufe meines Lebens aber hat sich  herausgestellt, wie groß unsere Ignoranz wirklich ist. 60 000 Jahre  brauchte die Menschheit seit ihren Anfängen in Afrika, um einzusehen,  daß es Grenzen dessen gibt, was wir unserer Umwelt zumuten dürfen, doch  scheint unser Wissen damit auch schon an sein Ende gekommen zu sein. „Wir  wissen nur, über wie viele Vorgänge wir nichts wissen“, sagt  Cainey im Laufe eines Gespräches, das für mich zu den wichtigsten  gehört, an die ich mich erinnern kann. Ich notiere mir das Datum: 23.  April 2008.
Der Klimawechsel, den wir heute feststellen, so  Cainey, ist eine Folge des Kohlendioxidausstoßes von gerade mal dreißig  Jahren. Die jüngsten Emissionsmessungen von Cape Grim zeigen, daß wir  unser Verhalten nicht geändert haben, ganz im Gegenteil. „Wir führen  ein Experiment durch, wie es sich größer kaum denken läßt, und haben  keine Ahnung, was dabei herauskommen wird.“
Cainey findet,  Australien sei in dieser Hinsicht einzigartig, da hier die Folgen des  Klimawandels unmittelbar zu sehen sind. Einige Kilometer hinter Cape  Grim hat der ansteigende Meeresspiegel bereits dafür gesorgt, daß  Landstriche rund um Circular Heads zu salzhaltig wurden, um sie noch  länger landwirtschaftlich nutzen zu können. Aber -Cainey machen nicht  nur die Folgen der Eisschmelze Sorgen. „Wir haben keine Ahnung, wie  das Plankton reagiert, wenn der Salzgehalt der Ozeane fällt, wie Bäume  und Wälder darauf reagieren, wie das Getreide.“ Ein Beispiel. Die  Meere werden säurehaltiger, also geht die Planktonproduktion zurück. „Folglich  gibt es weniger Krill, also auch weniger große Fische.“ Bleibt  noch die Tatsache zu erwähnen, daß die Meeresströmungen unser Wetter  beeinflussen. „Letztens hatte ich jemanden bei mir im Büro, der den  Klimawandel für Blödsinn hält, aber ob man glaubt, daß klimatische  Veränderungen ein Problem bedeuten, hängt größtenteils davon ab, ob man  Wasser hat. Hat man Wasser, glaubt man nicht, daß es ein Problem gibt.  Hat man kein Wasser, ist man allerdings davon überzeugt.“ Die Bauern an  der tasmanischen Ostküste (wo ich im Winter wohne) haben seit einem Jahr  keinen Regen mehr gehabt. Sie wissen, wie groß das Problem ist. Cainey  fährt fort: „Langfristig gesehen wird es die Erde sicher noch geben,  die Frage ist nur, wieviel Leben wir mit in unseren eigenen Untergang  reißen. Wenn wir nicht in den nächsten zwei bis fünf Jahren unser  Verhalten ändern und den Kohlenstoffausstoß begrenzen, ist es vermutlich  zu spät.“ Ich wiederhole diesen Satz, da ich dieses Todesurteil so  zuvor noch nicht gehört habe: Wenn wir nicht in den nächsten zwei bis  fünf Jahren unser Verhalten ändern und den Kohlenstoffausstoß begrenzen,  ist es vermutlich zu spät. Diskussionen über einen Zehnjahresrahmen  etwa für die vermehrte Nutzung von Kernkraft können da wohl kaum die  Lösung sein.
Wenn Cainey von „unserem Verhalten“ redet, meint sie  das Verhalten jedes einzelnen, doch findet sie, entwickelten  Gesellschaften obliege die Verantwortung, bevölkerungsreichen Ländern  wie Indien und China zu helfen (die gegenwärtig jede Woche zwei  neue Kohlekraftwerke bauen). „Wir tragen die Verantwortung für die  Emissionen der Vergangenheit, müssen künftigen Kohlendioxidausstoß  reduzieren und Entwicklungsländern helfen, ihre Ziele zu erreichen. Man  darf die anderen Länder auf ihrem Weg nicht bremsen. Wir haben  Hilfestellung zu leisten. Die reichen Länder konnten ihren Sprung nach  vorn schließlich schon machen, und wir besitzen die nötigen  Voraussetzungen, anderen zu helfen.“
Hinsichtlich der  raschen und radikalen Veränderung unseres Verhaltens, so dringend sie  auch sein mag, ist Cainey nicht sonderlich optimistisch. „Vor zwei  Wochen war ich in Neuseeland zum Treffen einer Arbeitsgruppe Kohlenstoff  und bin ziemlich deprimiert zurückgekommen. Wie lange man doch braucht,  um sich auf den genauen Wortlaut eines gemeinsamen Statements zu  einigen – ob es nun ,menschliche Ursache‘ oder ,natürliche Variation‘  heißt, scheint wichtiger zu sein, als etwas zu unternehmen. Wir  revidieren Worte, statt unser Verhalten zu revidieren.“
Cainey  beschreibt unsere Lage mit einem Bild: „Wir sitzen auf offenem  Wasser in einem Kanu, weit und breit kein Land in Sicht. Das Kanu  schlägt leck, aber wir bleiben sitzen und diskutieren, ob wir das Loch  nun mit einem Lappen oder einem Stück Holz stopfen sollen, dabei kann  nur eines passieren, wenn wir uns nicht um das Leck kümmern: Das Kanu  geht unter. Wir streiten darüber, was wir tun sollten, tun aber nichts.“
Sie  pflichtet mir bei, daß das, was zum Schmelzen der Gletscher Grönlands  und der Antarktis führt, vergleichbar sei mit dem, was den Ureinwohnern  Tasmaniens widerfuhr. „Das haben wir denen angetan, und jetzt tun  wir es der ganzen Welt an.“
Mit anderen Worten: Leben wir so  weiter wie bisher, haben wir bald keine Geschichte mehr zu erzählen.
(...)
 
   
   
   
  