LI 86, Herbst 2009
Zwei Türme plus Einer
Alexanderplatz, Olympiastadion, Telegraphenberg - FeldforschungenElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism, Stadtporträt
Übersetzung: Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Textauszug
(...) Unser Gang durch Berlin am 12. August 2009 begann am  Fernsehturm. Auf dem Platz bei der Marienkirche, wo ich, bevor wir mit  dem Fahrstuhl aufwärtsschweben, einen Engel mit Schwanenflügeln  begutachte, besetzen diskrete Stadtstreicher Bänke und greifen in Säcke  und Taschen nach ihren Flaschen. Wieder schwenke ich nach Hackney: der  Kanal frühmorgens, die Trinker auf ihren Plätzen, die flotten Geher,  alle in Schwarz, in intensiven Gesprächen auf Deutsch begriffen. Während  unsere entfremdeten Künstler aus besetzten Speicherlofts nach Berlin  ziehen, wo es billiger und interessanter ist, revanchieren sich junge  Deutsche. Journalisten, Architekten, Photographen. Eine davon zog mich  an einer Bushaltestelle in der Kingsland High Street in ein Gespräch.  Sie suchte das berühmte Lesbenviertel von Hackney, die Bars und Cafés  mit den Performancekünstlerinnen, von denen sie so viel gelesen hatte.  Der Dorn der Moschee weiter südlich war wie ein schwaches Echo des  Fernsehturms.
Heute ist das rotierende Restaurant wegen einer  Hochzeit in Weiß geschlossen. Die Schlange, in der wir gestanden hatten,  und die komplizierte Ticketprozedur erinnern an das ehemalige  Ostberlin. Doch das Panorama der Stadt, die Engelsvision, derer Wim  Wenders sich bedient hatte, erlaubt uns eine Justierung und daß wir uns  die Straße, auf der wir weit in den Westen, zum Olympiastadion, gehen  wollen, schon einmal ansehen. Am eindrucksvollsten ist die  Karl-Marx-Allee: unerbittliche Geometrie, darin Vegetationsflecken – ein  formales Alphabet von Hochhaussiedlungen.
Als wir zum  Alexanderplatz hinabgleiten, ist er nicht da. Wir sind in einen anderen  Osten versetzt, Ostlondon und Essex: Barking, Dagenham, Romford. Eine  trostlose Piazza mit schlecht gestalteten architektonischen Eingriffen,  ein Bahnhof und eine Auswahl wenig einladender Cafés. Verwirrte  Touristen schneiden in festes Gebäck, gluckern Ersatzkaffee. Meine Frau  macht eine Bemerkung zu fehlenden Hunden und Katzen. Wir sind am  falschen Ort, sage ich ihr. Hier sind die Hunde schon alle aufgegessen.  Beim Abendessen mit dem Herausgeber, der mein Berlin-Stück bestellt hat,  erfuhr ich, daß es in den Außenbezirken jede Menge Hunde gebe. Vielmehr  sei es eine Stadt der Füchse, die in den Kellern verlassener Gebäude  lebten. Der Marder, die sich in Automobilen häuslich einrichteten und  auf Kabeln kauten. Sogar Wölfe würden langsam wieder näher an die Stadt  herankommen.
Ein Mann, den ich in Manchester kennenlernte, wo ich  eine Reise durch eine Stadt beschrieb, die mir ebenso unbekannt ist wie  Berlin, enthüllte mir, er habe ein eigenes Projekt am Alexanderplatz  begonnen. Er folgte der Bahnlinie zu Fuß bis an die polnische Grenze.  Keine Photos, viele Zeichnungen. Für einen möglichen Comicroman. „Hast  du Döblin gelesen?“ fragte ich. „Nie gehört. Es war einfach  eine günstige Haltestelle.“
Die ersten Spuren der Leichtathletikweltmeisterschaft  waren im Schaufenster eines Kaufhauses ausgestellt: blutlose  Albinofiguren, Billigversionen von Leni Riefenstahls arischen Meistern,  angetan mit den passenden Farben ihrer Nationen. Die Niederlande,  Australien, Korea. Skulpturen, weiß wie Schmalz: fleischlos, Muskeln auf  den Übungsgeräten gestählt, die im Fitneßstudio im Untergeschoß des  Fernsehturms zu sehen waren. Hinter den Modellen spiegelten sich in  Wolkenschwaden die Häuserblocks des Platzes. Eine Stadt in Flammen. Mein  einheimischer Informant meinte, die Behörden seien nervös so kurz vor  den Wahlen. Wegen der ernsthaften Beteiligung Deutschlands an den  High-Tech-Aspekten des Afghanistaneinsatzes erinnerten sich die Leute an  die Anschläge in Madrid. Es war zu Verhaftungen gekommen, Zugezogene  und gebürtige Deutsche, in einem Haus auf dem Land.
Unter den  Linden reißt uns dahin, wie man es von der Straße erwartet, Richtung  Brandenburger Tor. Ein erfrischender Schauer kühlt uns ab. Es gibt so  viel aufzunehmen, daß es fast ist, als würden wir gar nicht gehen. Wir  sind auf einem Flughafenrollband, einem fahrenden Gehweg, der uns durch  Stätten genehmigter Erinnerung zieht. Isherwood entsinnt sich eines  Vorfalls, kurz bevor er Berlin verließ, als „eine Gruppe  aufgeblasener SA-Männer“ schwatzend und lachend den freien  Durchgang auf dieser Allee blockierte. Gehende wurden zu einem Umweg  durch die Gosse gezwungen. Der englische Autor studiert in dem Wissen,  daß eine zentrale Periode seines Lebens vorüber ist, die Spiegelungen  der öffentlichen Gebäude in den Fenstern eleganter Geschäfte. Er schaut „mit  trauervoller Festigkeit“, als wollte er diese Bilder seinem  Gedächtnis einprägen, sie mitnehmen. Und als Fiktion wieder aufbauen.
Das  Brandenburger Tor, das hielt, was seine Ansichtskartenidentität  versprach – daß nämlich dort die Mauer schließlich durchbrochen wurde –,  ist eine Barriere anderer Art: Straßenkünstler, spontane Musikgruppen,  eine Horde Touristen. Ein Mensch, der Fritz Langs Frühwerk vermutlich  nicht kennt, steht mir im Weg. Er ist als ein stormtrooper aus Star  Wars verkleidet. Das Franchise ist unausweichlich. Ein tapsender  Berliner Bär nimmt den Kopf ab und bittet einen grüngesichtigen  Vampirsoldaten um eine Zigarette. Der aussieht wie einer der Toten, die  von einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs zurückkehren. Oder wie eine  oxidierte Militärstatue, die von ihrem Sockel herabgestiegen ist. Der  rauchende Bär erinnert mich an eine Karte aus dem Filmmuseum,  die Brigitte Helm in Metropolis in ihrem Vor-Star-Wars-Roboteroutfit  zeigt, wie man ihr einen Strohhalm reicht, damit sie aus dem Glas  trinken kann, das ihr eine Frau in einem weißen Mantel hinhält. Während  eine Assistentin mit einem Fön sich ihres Schweißes annimmt.
Auf  der Nordseite der Allee wirbt die würdevolle amerikanische Ikone Gary  Cooper, direkt aus Zwölf Uhr mittags, für Solidarität. „Yup.“  Der Sheriff triumphiert, bevor er seinen Stern zurückgibt. Verbannte  Hollywood-Linke wie Carl Foreman verzerren die westliche Mythologie. Und  sind hier ihrerseits verzerrt. Coop steht aufrecht an einer Grenze, die  keine mehr ist. Fußgängern und selbst artigen Radfahrern ist es  verboten, durch das Tor zu gehen oder zu fahren. Wir müssen nach links  abbiegen, einen Umweg durch den Tiergarten machen. Weswegen wir uns ganz  wie zu Hause fühlen. Die Auswirkungen eines Großprojekts, wie in London  erlebt, zeigen sich als Schließung von Wegen, Sicherheitsbarrieren quer  über öffentliche Wege, gesperrte Bahnhöfe.
Fremdenführer wollen  uns in die Gruppe zerren, die zum Denkmal für die ermordeten Juden  Europas strebt, Peter Eisenmans Labyrinth der Erinnerungen –  ein Garten aus scharfen grauen Stelen. Doch wir geraten in ein Krokodil  aus älteren, Poncho tragenden Radfahrern, die ihre Räder folgsam durch  den erlaubten Eingang zum Park schieben.
Mein Herausgeber sagte  mir, wenn man tiefer in den Tiergarten gehe, begegne man immer wieder  Menschen, die an Figuren Becketts erinnerten: Pennern mit Bündeln,  Trinkern mit irrem Blick, humorigen Unzufriedenen. Da könnte er, dachte  ich, auch Becketts Geist selbst begegnet sein – nicht dem berühmten, vom  Blitz getroffenen Dramatiker, der zurückgekommen ist, um eine karge  Produktion zu überwachen, sondern dem jungen, unbekannten Wanderer, dem  Philosophen der Einsamkeit. Am Beginn seiner Karriere, 1936, setzte  Beckett die Segel, hoffte, Verwandte in Deutschland zu besuchen, Gemälde  zu befragen und Kontakt mit Malern zu schließen. „Wie wird  Deutschland sein?“ schrieb er in sein Tagebuch. „Sechs Monate  umherwandern.“ Allein in seiner Hütte, las er Célines Tod auf  Kredit. Die perfekte Wahl für eine unbekannte Stadt: Elan, Delirium  und Gestörtheit, die er gegen seine Ruhe, seinen Stillstand, seine  Erschöpfung setzen konnte. Der junge Beckett, in einem Berlin gefangen,  das noch keine Insel war, ging stundenlang im Tiergarten umher. Man  spürt noch immer das Muster seiner Schritte in den Sandwegen. Das Mahlen  seiner Zähne.
Die Straße des 17. Juni hat, als wir wieder darauf  dürfen, Aspekte der Mall vom Admiralty Arch bis zum Buckingham Palace,  aber auch des Phoenix Park in Dublin. Denkmäler schimmern immer wieder  durch den wohlgepflegten Schirm aus städtischem Grün. Kriege in Stein  oder Bronze. Siegessäulen. Figuren dunkler Bestimmung. Mich beeindrucken  die Parkarbeiter: wie sauber sie ihre Werkzeuge ausrichten, wie sie  schuften, Wege fegen, Bäume stutzen, Pflanzen wässern. Als ich  stehenbleibe, um einen limonengrünen Wohnwagen mit dem Logo eines  gewetzten Hackebeils und dem Wort „carnivore“ zu  photographieren, fahren zwei Radfahrer so dicht an mir vorbei, daß ich  den Luftstrom spüre. „Kinski! Klaus Kinski!“ schreit der eine.
(...)
 
   
   
   
  