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Lettre International 150
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LI 150, Herbst 2025

Chaos muss sein!

Innenansichten einer Schauspielerin und Höllenerforscherin

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FRANK M. RADDATZ: Das "Delirieren" des Schauspielers ist vielleicht eine besonders raffinierte Variante des Method-Acting. Hat das Konsequenzen fÜr die Ästhetische Erfahrung des Publikums? Entsteht dadurch ein anderer Sog?

LILITH STANGENBERG: Walter Benjamin hat mal gesagt, daß die alten Tragödien wie Filmrollen sind, und der Zuschauerraum ist die Entwicklungsflüssigkeit. Es geht um eine Chemie, die beide Seiten bedingt und eine Art Erotik erzeugt. Das Bild entsteht erst durch die Reibung beider Elemente. Ich glaube, daß das Theater ein hocherotischer Moment ist. Diese Beobachtung trifft auf Filmvorführungen zu: Je nachdem, wer den Film betrachtet bzw. in welcher Stimmung man ist, sieht man einen anderen Film. 
     Der Sog entsteht durch die Lücken, also dadurch, daß der Zuschauer den Raum erhält, wo seine eigene Phantasie einsetzt. Das funktioniert nur durch das Unkontrollierte, die Rätsel, das Mysteriöse, Licht und Schatten. Diese „Operation“ spielt sich jenseits der Kontrolle ab. Kontrollverlust auf beiden Seiten. 

GEFILMTES TRAUMA

In den letzten Jahren ist das Wort „Exorzismus“ für mich wie ein Synonym fürs Schauspielen geworden. Ich spreche jetzt von der inneren Seite des Schauspielens als Versuch, sich den großen Fragen mitsamt allen Dunkelzonen stellvertretend auszuliefern, um sie sichtbar zu machen, zu exorzieren und im Leben dann bestenfalls davon entlastet zu sein. 

(…)

FRANK M. RADDATZ: Es gibt eine Formulierung von Nietzsche in bezug auf Künstler, die "den Mut zu sich und die Lust an sich" brauchen. Kann man im Fall des Schauspielers vom Mut zum Nicht-Ich sprechen? Aber woher weiß jemand, was ihm guttut? In der Liebe weiß man es meistens auch erst später.

LILITH STANGENBERG: Wenn ich eine Figur spiele, ist das wie eine Liebesbeziehung, in die ich hineingehe, oder wie eine Schwangerschaft. Ich begegne einem Stoff. Manchmal frage ich mich, ob Schauspielerei einfach eine Therapie für sehr scheue Menschen ist. Dein ganzes Leben versteckst du dich hinter Rollen und maskierst dich. Die Leute denken zwar, sie blicken dich an, aber sie blicken immer auf eine Figur, eine fremde Geschichte, eine fremde Sprache. Gleichzeitig spiele ich auch nach innen. Zu dem oder um das, was man nicht vergessen kann ... 

FRANK M. RADDATZ: ... dem traumatischen Kern. 

LILITH STANGENBERG: Als könne ich damit das Verlorengegangene, das man aber nicht vergessen kann, zurückholen. 

FRANK M. RADDATZ: Das Verdrängte ist nicht einfach an die Ränder der Erinnerung verlegt. Es ist auch angst- und moralbeladen.

LILITH STANGENBERG: In amerikanischen Filmen sehe ich oftmals einen Nazi als monströse Bestie dargestellt. Diese Hypermoralisierung macht es einem zu einfach, weil man damit diese Möglichkeit sehr weit von sich selbst wegdrängt. In Wirklichkeit liegen Mensch und Bestie jedoch nahe beieinander. Das beweist die allerjüngste Geschichte. Der Holocaust ist nicht lange her. 

FRANK M. RADDATZ: Diese Idee der klaren Grenzen ist im Grunde fast schon faschistoid. Ästhetisch auch vollkommen wirkungslos, weil sich der Rezipient sagt: "Eigentlich geht mich das alles nichts an. Ich stehe auf der richtigen Seite!" Schlechte Kunst also. Kitsch. 

LILITH STANGENBERG: Das Giftigste, was die Gesellschaft produziert, ist Normalität. Von dieser Normalität, vom Sich-Anpassen, gehen die größten Gefahren aus. Jeder Mensch ist, wenn er auf die Welt kommt, etwas Einzigartiges. Ihn zeichnet etwas aus, was ihn von all seinen Nachbarn unterscheidet. Paradoxerweise versuchen wir immerzu, ebendies zu kaschieren, um so zu sein wie alle anderen. Dabei ist das, was uns unterscheidet, das Wichtigste, was wir besitzen. Die Gegenwart ist sehr konformistisch. Es gibt kaum noch Individualisten. Wenn so getan wird, als wären alle individuell und kreativ, verbergen sich hinter diesem Lifestyle zumeist schlecht verborgene Strategien der Kommerzialisierung. Ich nehme die Zeit als tief verängstigt, moralisiert und angepaßt wahr. Das manifestiert sich für die Kunst in einer hochgradig betäubenden Weise. In den Theatern finden Skandale eigentlich nicht mehr statt. Ich sehne mich nach einer Explosion und suche nach Formen von Störung der Normalität. Deshalb interessieren mich Randgestalten, Störenfriede und Gescheiterte, also diejenigen, die im neoliberalen Wettkampf eher nicht vorkommen. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 151 erscheint Mitte Dezember 2025.