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Lettre 149 / Pavlo Makov
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Inhaltsverzeichnis

LI 149, Sommer 2025

Braut des Mittelmeeres

Alexandria, Assuan, Suez, Nil – Ägyptische Streifzüge

Der Blick verzaubert. Vom zehnten Stock des Apartmenthauses schauen wir hinunter auf das Halbrund des östlichen Hafens und das Mittelmeer, fast geblendet vom Licht. Der schönste Ausblick in Alexandria, so wird die Wohnung angepriesen – zu Recht. Die Wände sind aus Glas und lassen sich aufschieben. Im Laufe des Tages verändert sich die Farbe des Wassers: Das Perlmutt des Morgens geht über in Hellblau, Hellgrün, Türkis, Ultramarin und das Graublau des Abends. Auch die vielen Fischerboote wechseln im Laufe des Tages Licht und Farbe.
     Es ist ein historischer Ort. In der Nähe, auf der geschwungenen Mole, die den Hafen vom Meer trennt, liegt die Kait-Bey-Zitadelle, eine große Festung aus gelbem Kalkstein mit vielen Innenhöfen, Mauern, Türmen und Zinnen. Sie wurde 1480 an der Stelle erbaut, wo einst der berühmte Leuchtturm von Alexandria stand, eines der sieben Wunder der antiken Welt. Der Leuchtturm, 283 v. Chr. vollendet, wurde von dem Architekten Sostratos aus Knidos entworfen und nach der Insel benannt, auf der er errichtet wurde: Pharos. Der Leuchtturm war 1 600 Jahre lang in Betrieb, bevor er verfiel. Bei einem Erdbeben im Jahr 1303 stürzte er ins Meer. Beim Bau des Kait-Bey-Forts wurden Steinblöcke des Leuchtturms für die Mauern verwendet. 
     In der Nähe liegt die kunstvolle kleine Manar-el-Islam-Moschee, deren Minarett dem alten Leuchtturm nachempfunden ist. In der ersten Nacht werden wir von den Gebetsrufen des Muezzins geweckt, dessen „Allahu Akbar!“ von zwei großen Moscheen aufgenommen und verstärkt wird. Entlang der Corniche, der von Palmen gesäumten Hafenpromenade, reihen sich europäische Gebäude aus dem 19. und 20. Jahrhundert mit schmiedeeisernen Balkonen aneinander: Gerichtshöfe, Unternehmen, berühmte Hotels wie Metropole, Windsor Palace und Acropolis. Neben einer breiten Straße für Autos, Taxis und schnelle kleine Sammelbusse verläuft direkt am Wasser eine Promenade, auf der die Einheimischen nachmittags flanieren, das Meer betrachten, ihre Angelruten auswerfen oder von einem der vielen Straßenhändler ein Glas Tee oder Limonade kaufen. Verliebte Paare gehen Hand in Hand spazieren – man sagt uns, daß dies nur hier erlaubt sei. Auf der anderen Seite der Bucht sehen wir das silbrig glänzende Dach der neuen Bibliothek von Alexandria, das die Form einer Sonnenscheibe hat. Sie wurde 2002 fertiggestellt und befindet sich am Ort der alten, berühmten Bibliothek von Alexandria.
     Am ersten Tag unternehmen wir einen Spaziergang durch unser Viertel. Der Stadtteil heißt „Bahari“, was soviel wie „im Meer“ bedeutet. Bahari, eine künstlich angelegte Halbinsel zwischen der Küste und der Insel Pharos, wurde im Laufe der Jahrhunderte aufgefüllt. Während Ägypter, Juden und die meisten Griechen weiterhin in der ummauerten Stadt lebten, ließen sich Fischer und ausländische Händler – Türken, Italiener und Griechen – hier nieder. Heute ist es ein Labyrinth aus engen, schmutzigen Straßen mit heruntergekommenen Wohnblocks, Lebensmittelläden, Bäckereien und Metzgereien, die ihre Schafe vor Ort schlachten, und mit Geflügelzüchtern, die lebende Hühner in Körben feilbieten. In den Trümmern niedergerissener Häuser laufen Ziegen und Hühner herum, Hähne stolzieren die Straße entlang, und es gibt Hunderte von streunenden Katzen. Die Müllabfuhr funktioniert nicht gut, und Jugendliche durchwühlen die Müllsäcke nach Sachen, die Geld einbringen, den Rest werfen sie auf die Straße. Die schöne, hellgelbe Abu-Abbas-al-Mursi-Moschee ist von Schreinen mit den Gräbern heiliger Männer und von Müllbergen umgeben. Auf dem Gehsteig neben der Moschee kampiert eine Schafherde. Fast alle Frauen tragen Kopftuch und lange dunkle Röcke. Die Männer tragen meist westliche Kleidung: Jeans und T-Shirts. Alle benutzen die Fahrbahn, die Gehsteige sind schmal und kaputt. Es herrscht eine lebendige, fröhliche Atmosphäre. Immer wieder werden wir herzlich begrüßt: „Willkommen in Alexandria!“ 

(…)

Chaos

Wie sieht das Zentrum des 2 300 Jahre alten Alexandria aus? Wir machen mit Islam Abdelkarim einen Spaziergang durch die Stadt. Er ist Mitte Vierzig, charmant und energisch und kennt eine Menge Geschichten. Er lehrt Kulturerbe und Tourismus an der Universität. Wir unterhalten uns abwechselnd auf englisch und spanisch, beide Sprachen spricht er hervorragend. Fast alle, denen wir begegnen, junge Leute in Jeans und Poloshirts ebenso wie Ältere in traditioneller Kleidung, halten ein Smartphone in der Hand. Der Verkehr rauscht vorbei, Autos überholen einander links und rechts, die Fahrer hupen ständig, behalten einander aber genau im Blick. Fußgänger werfen sich mit Todesverachtung zwischen die fahrenden Autos, um die Straße zu überqueren, mit subtilen Gesten und ohne zu zögern. Sie halten die vorbeifahrenden Sammeltaxis an und zeigen nach einem Eingeweihten-Kode mit erhobenen Fingern an, wo sie hinwollen.
     In den Seitenstraßen benutzen die Fußgänger überall die Fahrbahn. Tuuut-tuut! Seelenruhig treten sie zur Seite, wenn sich ein Auto nähert. Islam Abdelkarim lacht: „Ich sehe das gar nicht mehr. Die Leute meiden die Gehwege, weil sie oft von Straßenhändlern oder parkenden Autos okkupiert sind.“ In dem Moment stolpern wir über lockere Pflastersteine. „Wußtet ihr, daß die meisten großen archäologischen Ausgrabungen in Ägypten Ziegen und Eseln zu verdanken sind?“ sagt er und lacht. Wir schauen ihn erstaunt an. „Nicht selten versanken ein Esel oder eine Ziege  plötzlich im Boden. Ein solches Loch führte dann zu einem wichtigen Fund.“
     Abdelkarim arbeitet an einer privaten Universität. „Ägypten war schon immer für seine gute Bildung bekannt. Lehrer und Intellektuelle aus Ägypten wurden in die Emirate, nach Saudi-Arabien und in andere Länder des Nahen Ostens geholt, um dort zu unterrichten. Ihr Arabisch kommt dem klassischen Arabisch am nächsten, und sie sprechen gut Englisch. Ägypten war auch in den Bereichen Musik, Film und Literatur führend, doch mit dem Ende des Mubarak-Regimes, das von 1981 bis 2011 dauerte, ging es mit der Bildung bergab. Die Gehälter von Lehrern und Professoren in Ägypten waren so niedrig, daß Schüler und Studenten ihre Lehrer persönlich extra bezahlen mußten. Infolgedessen verloren die Lehrer ihre Unabhängigkeit, und Bildung und Diplome verloren an Wert. Die Regierung al-Sisi, die 2014 an die Macht kam, möchte unter dem Slogan ‘Neues Ägypten’ Bildung, Infrastruktur und Wohnungsbau verbessern.“
     Wir passieren heruntergekommene Gebäude und Villen. „Alexandria hat sein wunderbares soziales Gefüge verloren“, sagt Abdelkarim. „Es war eine Mischung aus ägyptischer Kultur und griechischen, italienischen, libanesischen, syrischen, französischen, türkischen und britischen Einflüssen. Bis 1959 verließen die meisten Ausländer die Stadt, und an ihrer Stelle kamen Menschen aus ägyptischen Dörfern und Städten im Süden. Dadurch hat sich das Gesicht der Stadt verändert, und der Sinn für Schönheit ist verschwunden. Als die Bewohner Alexandrias erkannten, daß sie im Begriff waren, ihre schöne Stadt zu verlieren, wurden sie nostalgisch, und jetzt versuchen sie alles, um die Überbleibsel dieses goldenen Zeitalters zu bewahren.“ Islam Abdelkarim liebt seine Stadt über alles. „Alexandria ist Chaos“, sagt er, „aber ein kreatives, erfinderisches Chaos.“

(…)

Einst Kosmopolitisch

Während der Hafen und die ausgedehnten Industriegebiete rund um Alexandria mit der Ansiedlung westlicher und chinesischer Unternehmen immer internationaler werden, ist die einstmals kosmopolitische und multireligiöse Atmosphäre der Stadt weniger stark spürbar. Alexandria ist von religiösem Fundamentalismus geprägt. Vor einigen Jahrzehnten trugen zehn Prozent der Frauen Kopftuch oder Schleier, heute sind es neunzig Prozent. Aus den Kiosken und Verkaufskarren an der Corniche ertönen nur noch arabische Musik und Korantexte, genau wie aus den klapprigen gelb-schwarzen Taxis, die in den Straßen der Stadt zu Tausenden unterwegs sind. Die alten, markanten europäischen Gebäude sind heruntergekommen. Das französische Kulturinstitut, das sich für das historische Erbe Alexandrias engagiert, wird durch Zäune, elektrische Tore und Sicherheitspersonal geschützt.
     Aber die kosmopolitische Vergangenheit ist keineswegs verschwunden. Eines Abends besuchen wir das Sayed-Darwish-Opernhaus, in dem neben klassischer arabischer Musik auch westliche klassische Konzerte aufgeführt werden. In dem schönen, mit mediterranen Pflanzen geschmückten Innenhof stehen die Besucher und unterhalten sich vor Beginn der Vorstellung. Die Plakate sind auf arabisch. „Was wird heute abend gespielt?“ fragen wir eine Frau. „Traditionelle arabische Lieder mit einem großen Orchester und vielen Sängern“, antwortet sie. Ein Mann kommt auf uns zu. „Wenn ihr arabische Musik hören wollt, dann ist das hier genau das Richtige“, sagt er. „Ich bin der Manager des Opernhauses, woher kommen Sie?“ „Aus Amsterdam.“ „Aus Amsterdam! Bitte, hier sind zwei Freikarten!“ Und so sitzen wir wenig später in einer Loge aus rotem Plüsch. Es ist ein ovaler Raum mit Balkonen, verziert mit vergoldeten Lorbeer- und Akanthusblättern, mit einem Kronleuchter und den Namen europäischer Komponisten an der Decke: Bach, Mozart, Bizet, Wagner. 

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 150 erscheint Ende September 2025.