LI 79, Winter 2007
Walter Benjamins Grab
Schönheit, Tod, Namenlosigkeit - Profane Illuminationen in PortbouElementardaten
Textauszug
(…) Als wir später auf dem Friedhof selbst nach einem Hinweis  auf Benjamin suchten, fanden wir einen etwa hüfthoch aus dem Boden  aufragenden Findling, naturbelassen, nur mit einer Platte versehen, die  ein weiteres Zitat aus Benjamins Schriften trug. Seine Texte scheinen  viele für Grabsteine und Denkmale geeignete prägnante Sprüche zu  enthalten, und es fehlt auch nicht an Autoren, die im Streben nach  geisterhafter Tiefe den einen oder anderen in ihre Texte montieren.  Armer Benjamin. Seine Perlen so vor die Säue geworfen zu sehen. Der Satz  lautete: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein  solches der Barbarei zu sein.“ 
Zunächst hielten wir das  für den Grabstein, unter dem Benjamins Gebeine lagen. Doch später ging  mir auf, wie naiv das war, konnte das gewichtige kleine Monument doch  eine Irreführung ohne Leichnam darunter sein, zumal ein Name, sogar ein  in Stein gemeißelter, nichts als Schall und Rauch ist und ziellos den  Launen der Zeit ausgeliefert durch die Lüfte fliegen kann wie ein  Papierschnipsel durch eine windige Gasse. Doch Friedhöfe sollen  zumindest den Anschein eines direkten Zusammenhanges zwischen Name und  Leichnam erwecken, und auf diesem Prinzip beruht ja auch unsere Sprache  selbst, die Wörter auf Bedeutungen festlegt, als bestünde ein innerer  Zusammenhang zwischen beiden – eine Form von Magie, wie Benjamin nicht  müde wurde zu betonen.
In der Tat gehört diese Magie zu seinen  grundlegendsten und fruchtbarsten Einsichten, die er 1933 in dem Essay Über  das mimetische Vermögen ausschöpfte, geschrieben auf der Insel  Ibiza – die ebenso wie Portbou in der katalanischen Kulturgeschichte  eine bedeutende Rolle spielt, obwohl sie acht Bootsstunden von der  Grenzstadt entfernt südostwärts im Mittelmeer liegt. Benjamin verbrachte  zwei Sommer auf Ibiza, wo auch sein legendärer Essay über den Erzähler  keimte. Er traf dort, verarmt und heimatlos, am 19. April 1932 ein, also  ebenso wie wir in Portbou mitten im Frühling. Die Blumenpracht und  Schönheit der Insel überwältigten ihn. Manchmal erschien sie ihm wie ein  urgeschichtliches Paradies, ein Ausflug in die ferne Vergangenheit vor  den Anfängen der europäischen Zivilisation.
Da Photos von  Benjamin selten sind, prangt auf Buchumschlägen immer wieder das gleiche  grüblerische Gesicht, mal mit, mal ohne Zigarette. Welch eine  Überraschung, ihn einmal am Strand zu sehen! Im Sommer. Auf Ibiza! Es  gibt Gruppenbilder im Querformat, die ihn vor dem Hintergrund eines  Strandabschnitts mit Sand und zerklüfteten Felsen zeigen. Doch während  seine beiden männlichen Begleiter weiße Unterhemden tragen und die Sonne  genießen, sitzt Benjamin todernst in Schlips und Kragen auf seinem  Liegestuhl, das Kinn wie üblich auf die rechte Faust gestützt, und  blickt ins dunkle Innere des Hauses anstatt auf den Strand und das Meer  hinaus.
 
Allerdings findet sich im Benjaminschen Photoarchiv ein  Bild, mit dem niemand – ja wirklich niemand – hätte rechnen können. Da  sind – im Mai 1933! – vier herrlich entspannte Männer, die sich an Deck  eines Bootes unter gespanntem Segel und vor schäumendem Kielwasser  sonnen: -Benjamin und ein Enkel Paul Gauguins nebeneinander auf dem  Rücken liegend, überragt von dem mit freiem Oberkörper auf der Bordkante  sitzenden, engelsgleichen französischen Maler Jean Selz, dahinter am  Ruder der ebenso verzückte örtliche Fischer Tomás Varó („Frasquito“) –  wie es scheint, allesamt völlig bekifft. Doch wie wäre dann der  hintergründige Untertitel zu verstehen, „Der Autor als Produzent“, den  die amerikanischen Herausgeber der ausgewählten Schriften Benjamins für  die Szene wählten? Ich habe ihn beim Wort genommen und das Photo an die  Tür meines Schlafzimmers gehängt, in dem ich auch produziere.
Die  Sonnenglut erschreckt ihn. Später wird er den fiebrigen Essay In  der Sonne schreiben, der zugleich ein Liebesbrief an eine enge  Freundin in Berlin ist. „Nur mit Befremden ruft er sich ins  Gedächtnis, daß ganze Völker – Juden, Inder, Mauren – ihr Lehrgebäude  unter einer Sonne sich errichtet haben, die ihm das Denken zu wehren  scheint.“ Diese Sonne sengt sich in die Landschaft ein und formt  sie unerbittlich. Eine Hummel schlägt an sein Ohr. Düfte von Harz und  Thymian schwängern die Luft. Seine Wahrnehmung verändert sich, als er  über die Beziehung zwischen Namen und Dingen nachdenkt, über die Namen  der 17 Arten von Feigen, die es auf der Insel geben soll. Seit seinem  aphoristischen Jugendwerk Über Sprache überhaupt und über die Sprache  des Menschen hat er dieses Thema nicht mehr aufgegriffen, um nun  wiederum ehrfürchtig zuzuschauen, wie aus dem Weben der Natur sich Namen  lösen, die wortlos in ihn eintreten und die er erkennt, während seine  Lippen sie formen. Sie tauchen in der namenlosen Ferne auf, zum Beispiel  als „Namen der Inseln, die dem ersten Anblick wie Marmorgruppen aus  dem Meer sich hoben“.
Neben Namen von Dingen beschwor die  Insel auch Geschichten herauf. Schon bei der ersten Überfahrt auf einem  Frachtdampfer, die von Deutschland aus elf Tage dauerte, hatte Benjamin  über das Verhältnis von Erzählen und Langeweile nachzudenken begonnen  und befunden, daß es ohne sie keine wirkliche Erfahrung gebe und damit  keinen Platz mehr für den Erzähler als einen „Mann, der dem Hörer  Rat weiß“. Gleichzeitig habe er vom Kapitän so viele Fingerzeige  erhalten, daß bei der Ankunft der ganze Schiffsbetrieb, von der  Besatzung über die Maschinen bis zu den Seekarten, ihm wie ein „Zifferngeschiebe“  vorschwebte und er im Geiste die Geschichte der Reederei bis auf  die Zeiten des Sklavenhandels zurückverfolgen konnte. „Langsam  bewegte sich das Gespräch“, erinnerte sich Benjamin, „wie eine  Lunte aber glomm es immer wieder auf ein Abenteuer, eine Geschichte zu.“
„Nicht  viele könnte ich wiedererzählen“, bekannte er, „aber keine war  da, aus der mir nicht ein Name oder ein Bild vor Augen stand, als ich  die Treppe hinunterlief, um vor der Abfahrt noch ein paar Worte mit dem  Kapitän zu tauschen.“
Sein Schreiben zielte darauf ab, den  Abstand zwischen den Wörtern und dem Angepeilten aufzuheben. Darauf wies  besonders Theodor Adorno hin, als er lange nach Benjamins Tod schrieb: „Unter  dem Blick seiner Worte verwandelte sich, worauf immer er fiel, als wäre  es radioaktiv geworden.“ Epistemologisch formuliert heißt das: „Der  Gedanke rückt der Sache auf den Leib, als wollte er in Tasten, Riechen,  Schmecken sich verwandeln.“
Wenn sich dagegen auf dem  Friedhof von Portbou die Namen von den Leichnamen lösten, so zerrten sie  auch an den Haltetauen der Sprache und machten die Kennzeichnung des  Todes zu einem Kernproblem im Sinne von Benjamins Sprach-theorie. In  seinen Kindheitserinnerungen Berliner Chronik, die ebenfalls zum Teil  1932 auf Ibiza entstanden, schrieb Benjamin: „Die Sprache hat es  unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur  Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz. Es ist das  Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten  Städte verschüttet liegen.“ In diesem müsse man graben und graben,  um die wahren Werte, die im Erdinneren steckten, zutage zu fördern: „die  Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als  Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späteren Einsicht –  wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.“ 
(…)
 
   
   
   
  