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Cover Lettre International 90, Luc Tuymans
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LI 90, Herbst 2010

Der Papst trägt Prada

Katholische Kirche, sexueller Mißbrauch und Homosexualität

(Auszug/LI 90)

 

(...) In seinem Buch Goodbye, Good Men schreibt Michael Rose, die liberalisierten Vorschriften hätten eine Übernahme der Priesterseminare durch Homosexuelle eingeläutet.

 

„Das Zweite Vatikanische Konzil liberalisierte Vorschriften, ließ aber gerade die überholteste von allen unangetastet: das Zölibat. Dieses Gelübde wurde ursprünglich eingeführt, weil die Kirche verhindern wollte, daß etwaige Erben Anspruch auf Geld und Grundbesitz erheben könnten. Doch es führte letztlich dazu, daß der Priesterpool zusammenschrumpfte und die falsche Sorte Kandidaten angezogen wurden – sexuell verwirrte Männer, die eine Gefahr für unsere Kinder darstellen.“

 

Eine Woche zuvor, in ihrer Kolumne vom 30. März, hatte Dowd von den Versuchen gesprochen, schwule Priester zu verteufeln und damit der Hierarchie die Möglichkeit zu bieten, sich aus der Verantwortung zu stehlen: „In einer Anzeige in der Times vom letzten Dienstag schrieb Bill Donohue, der Vorsitzende der Catholic League, die folgenden erhellenden Worte: ‘Die Times wird nicht müde, über die ‘Pädophiliekrise’ zu leitartikeln, während es nie etwas anderes als eine Homosexkrise gewesen ist. Achtzig Prozent der Opfer sexuellen Mißbrauchs durch Priester sind männlichen Geschlechts, und die meisten von ihnen haben die Pubertät bereits hinter sich. Zwar bedingt Homosexualität nicht per se ein aggressives Beuteverhalten und sind die meisten schwulen Priester keine Belästiger, aber die meisten Belästiger sind doch schwul.’“

 

In dieselbe Kerbe schlug Kardinal Tarcisio Bertone, als er im folgenden Monat erklärte, die Ursache des Kindesmißbrauchs in der Kirche sei nicht das Zölibat, sondern die Homosexualität. „Viele Psychologen und Psychiater“, sagte er, „haben aufgezeigt, daß kein Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie besteht, doch viele andere haben gezeigt, und das hat man mir erst kürzlich gesagt, daß zwischen Homosexualität und Pädophilie durchaus eine Beziehung besteht. Das ist die Wahrheit. Das habe ich in einem von Psychologen verfaßten Dokument gelesen; darin liegt also das Problem.“ (Der Vatikan hat sich von den Äußerungen des Kardinals distanziert.)

 

Es ist interessant, daß Kevin Dowd sich ebensosehr wie Bill Donohue und Tarcisio Bertone bemüßigt fühlte, die Existenz homosexueller Priester und Seminaristen als ein Problem für die katholische Kirche zu erwähnen. Und ebenso interessant ist es, daß er – wie ihn seine Schwester zustimmend zitierte – sich in die Zeit vor der „Übernahme“ von Priesterseminaren durch Homosexuelle zurücksehnte; daß er das „Zusammenschrumpfen“ des „Priesterpools“ bedauerte, das es „sexuell verwirrten Männern“ gestatte, Priester zu werden. Seltsam erscheint allerdings, daß er glaubte, es habe irgendwann eine Zeit gegeben, in der „sexuell verwirrte Männer“ nicht Priester geworden wären, sondern nur andere Sorten von Männern – Männer, die keine diesbezüglichen Wirrungen kannten – ordiniert wurden. Ihn erfüllte eine tiefe Nostalgie nach einer früheren Kirche: „Die Kirche, in der ich aufwuchs“, schrieb er, „war schwarz und weiß, ohne Grautöne. Deswegen schätzte mein Vater, ein irischer Einwanderer, sie so sehr. Der Kaplan der Polizei und Feuerwehr sagte einmal zu mir: ‘Ihr Vater war ein glühender, ein sehr glühender Katholik.“

 

Daß sich das Problem mit der Homosexualität und der katholischen Kirche, das Donohue, Kardinal Bertone und Maureen Dowds „konservativem und frommem“ Bruder so viel Kopfzerbrechen zu bereiten scheint, in nächster Zukunft in Wohlgefallen auflösen wird, ist eher unwahrscheinlich. Für die vielen schwulen Priester innerhalb der Kirche ist es zutiefst beunruhigend, ja beängstigend, daß ihre sexuelle Orientierung so leicht mit Vergewaltigung, sexueller Grausamkeit und dem Mißbrauch von Minderjährigen in Verbindung gebracht werden kann und daß die Ansicht herrscht, bevor sie auf den Plan traten, sei mit der Kirche alles in bester Ordnung gewesen, und wenn es irgendwie möglich wäre, sie auszumerzen und die Kirche in den seligen Schwarzweißzustand von Dowd père zurückzuversetzen, würde alles wieder gut werden.

 

Es gibt sehr gute Gründe, warum sich Homosexuelle von jeher zum Priestertum hingezogen gefühlt haben. Ich kenne diese Gründe, weil ich selbst, als jemand, der „sexuell verwirrt“ war, mich mit der Idee auseinandersetzen mußte, möglicherweise in den Priesterstand einzutreten. 1971, im Alter von 16, opferte ich meine Osterferien, um an einem Workshop für Jungen teilzunehmen, die die Berufung zu haben glaubten.

 

Einige der Gründe, aus denen schwule Männer früher Priester wurden, sind offensichtlich und leicht nachvollziehbar; andere weniger. Priester zu werden schien zuallererst die Lösung des Problems zu sein, andere nicht wissen zu lassen, daß man andersrum war. Als Priester konnte man zölibatär leben beziehungsweise unverheiratet bleiben, und jeder würde die Gründe einsehen. Es lag eben daran, daß man eine Berufung hatte; daß man von Gott berufen, von ihm eigens auserwählt worden war. Für andere Jungen war die Vorstellung, nie mit einer Frau Sex zu haben, schier undenkbar. Für einen selbst war solcher Sex problematisch; man hatte also keinen Entwurf für eine einfache Zukunft. Umgekehrt bedeutete die Aussicht, das Gelübde abzulegen, niemals mit einer Frau Sex zu haben, eine wahre Erleichterung. Die Möglichkeit, daß man den Wunsch verspüren könnte, mit Männern Sex zu haben – daß man „so veranlagt“ sein könnte, wie es damals hieß –, kam während dieses Workshops, in dem sonst alles nur irgend Erdenkliche erörtert wurde, kein einziges Mal zur Sprache.

 

Daß man schwul war, schaffte man damals irgendwie gleichzeitig zu wissen und nicht zu wissen. Als ein Priester mich einmal in der Schule vor einem Jungen warnte, der sein Haar in der Mitte gescheitelt trug und damit angeblich seine Homosexualität verriet (das einzige Mal, daß ich das Wort in jenen Jahren überhaupt hörte), dürfte er kein klares Bewußtsein davon gehabt haben – da bin ich mir so gut wie sicher –, daß er selbst eine Schwäche für halbwüchsige Jungen hatte. (Mehr als zwanzig Jahre später würde er eine Haftstrafe wegen sexuellen Mißbrauchs ebensolcher Jungen verbüßen.) Er beherrschte wahrscheinlich eine – während der Adoleszenz aus gutem Grund erlernte – Technik, manche seiner Handlungen und Wünsche vor sich selbst geheimzuhalten. In seinem Machtgefühl und seinem Anspruchsdenken dürfte er außerdem geglaubt haben, daß die von ihm begangenen Verbrechen wahrscheinlich nie ans Tageslicht kommen würden. Was ihn betraf, hatte das Priestertum sämtliche Probleme gelöst.

 

Dies ist geradezu ein Wesenszug der katholischen Religion: der Trick, etwas gleichzeitig zu wissen und nicht zu wissen, eine Illusion von der Wahrheit gesondert zu halten. So wußten wir, daß während der Messe das Brot und der Wein vom Priester buchstäblich und real in den Leib und das Blut unseres Herrn Jesu Christi verwandelt wurden, und gleichzeitig müssen wir gewußt haben, daß dies nicht der Fall war, daß sie in Wirklichkeit blieben, was sie waren: Brot und Wein.

 

Man darf nicht unterschätzen, welche Scham in jener Zeit ein Jugendlicher wegen seines Schwulseins empfand; das Gefühl, unwürdig zu sein, die Angst, daß die Leute, wenn sie die Wahrheit erführen, einen verachten würden, saß tief in der Seele. Das war ein weiterer Grund, Priester zu werden. Man konnte dadurch seine Ohnmacht in Macht verwandeln. War man erst Priester, würden einen die Leute bewundern und zu einem emporschauen, würde man sein Leben – wie es viele katholische Priester tatsächlich tun – damit zubringen, Gutes zu tun und gut zu sein. Und als gut angesehen zu werden, von den Kranken und den Sterbenden gebraucht, bei Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen benötigt zu werden, die heiligen Worte zu sprechen, die der Gemeinde so viel bedeuteten – all das würde einem ein erfülltes und erfüllendes Leben schenken. Priester zu werden löste nicht nur das äußere Problem verbotener, unaussprechli-cher sexueller Bedürfnisse, sondern bot auch – was vielleicht wichtiger war – eine Lösung des Problems, eine beschämende Identität zu besitzen, die man in den tiefsten Tiefen seiner selbst verborgen hielt.

 

(...)

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