LI 70, Herbst 2005
Verhöre in den Anden
Wo sich ihr Traum erfüllte: Für die Revolution zu sterbenElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann
Textauszug
Jesus Sosa veränderte sich in Totos  außerordentlich schnell. Als sein Aufenthalt im September 1983 endete,  hatte er beinahe alles mitgemacht, was man von einem in der  Subversionsbekämpfung eingesetzten Armeeangehörigen erwarten konnte:  Gefangennahmen, Verhöre, Hinrichtungen, Spähtruppunternehmen,  Zusammenstöße und Hinterhalte. Der ständige Kontakt mit den Gefangenen  und die Märsche durch die Landgebiete gaben diesem Zeitraum eine brutale  Erlebnisdichte, füllten ihn mit so vielen blutrünstigen Episoden, daß  sie einen Mann fertigmachen konnten. Aber Jesús Sosa hielt durch. Wie  Schakal war er offenbar nicht dazu verurteilt, in die psychiatrische  Abteilung des Armeelazaretts eingeliefert zu werden – ein Schicksal, das  viele Offiziere der Unruhegebiete traf.
Während dieser Zeit  verhörte Jesús Sosa ungefähr 200 angebliche Sendero-Kämpfer am  Stützpunkt. Kommandant Pato hatte vierzig bis fünfzig von ihnen aus  Ayacucho hergeschickt. Logischerweise hatte man die meisten bei den  Spähtruppunternehmen im Zuständigkeitsbereich des Stützpunkts verhaftet,  der außer den bereits genannten Orten Veracruz, Vilcanchos, Chuschi,  Tucu, Sachabamba, Quispillacta, Paras und Cancha Cancha auch Espite,  Patahuasi, Potrero, Condorpacha, Huanu Huanu, San Juan de Cucho Quesera,  Pucaccasa, Viscachayo und andere Gemeinden umfaßte, in denen viele  Personen festgenommen wurden. Wie wir gesehen haben, kamen nicht alle am  Stützpunkt an; wenn sie aber einmal dort waren, wurden sie zunächst  verhört und dann hingerichtet, was entweder Paz oder Schakal befahl, je  nachdem, woher sie kamen. Niemand verließ die „Trauminsel“ lebend.  Ausgenommen zwei Häftlinge, die, obwohl sie gefesselt waren und eine  Kapuze trugen, durch ein Loch entkamen, das sie in die Luftziegelwand  der Zelle gebohrt hatten. Als man ihre Flucht einige Minuten später  entdeckte, konnten die Patrouillen sie im nächtlichen Dunkel nicht  entdecken.
Jesús Sosa wurde ein Fachmann für die Hinrichtung von  Gefangenen. Als Vierundzwanzigjähriger hatte er in weniger als zwei  Monaten die nötigen Fertigkeiten entwickelt, damit diese Aktionen  schnell und unauffällig vonstatten gingen. Der Gefangene mußte nach  einem einzigen Schuß in die Schläfe augenblicklich sterben, und das  möglichst, wenn er nicht darauf gefaßt war. Ohne Zuckungen, ohne Lärm.  Der Einsatz der Soldaten oder eines unerfahrenen Unteroffiziers hatte  bei so etwas gewöhnlich verheerende Folgen. Es konnte passieren, daß sie  den Körper mit FAL-Feuerstößen zerfetzten oder auf die falschen  Körperteile schossen, so daß weitere Salven notwendig wurden. Auch wenn  man sie begrub, verlangte das Planung und vorbereitende Arbeiten – man  mußte im voraus Gräber ausheben – sowie einen tadellosen Abschluß, indem  man das Ganze mit einer dicken Schicht aus Steinen und Erde bedeckte.
Für  diese Recherche wurde Jesús Sosa vier Jahre lang – zwischen 1997 und  2000 – vom Autor befragt. Im Lauf der Jahre kamen wir immer wieder auf  dieselben Szenen zurück, und der schwierigste Punkt war die  Tötungsbereitschaft des Agenten, denn die Wahrheit schien sich in  unterirdischen Tiefen zu verbergen, und dies auch noch unter der  Voraussetzung, daß Sosas Erklärungen vollständig aufrichtig und  wahrheitsgetreu waren. Wie er es darstellte, war seine Rolle als  Vernehmer in Totos auf einen zufälligen Umstand zurückzuführen: Man gab  ihm Goytizolos Platz, vielleicht, weil er gesunden Menschenverstand und  Geistesgegenwart bewiesen hatte, als er in den wenigen Wochen, die er in  Huamanga verbracht hatte, mit Gewalttaten fertig wurde, oder vielleicht  auch, weil er ordentlich und verantwortungsbewußt war. Auf keinen Fall  geschah es allerdings wegen seiner Erfahrung. Nie hatte er mit einem Sendero-Kämpfer  zu tun gehabt, und möglicherweise hätte ein anderer Agent, wenn er an  Sosas Stelle gewesen wäre, diese Arbeit besser ausgeführt. Nun aber, da  er in Totos war und sich um die Gefangenen kümmern mußte, zeigte sich  für seine Vorgesetzten eindeutig, daß er die Dinge gut erledigte.  Schakal mußte sich nicht über ihn beschweren. Und er auch nicht über  Schakal. Im Gegenteil: Er lernte viel, indem er ihm bei der Arbeit  zusah. Mit seiner persönlichen Autorität und seiner Großzügigkeit wurde  Hauptmann Santiago Picón Pesantes bald zum Führer des Agenten.
Wenn  man sich weiter an Sosas Darstellung hält, war seine Rolle bei den  Hinrichtungen andererseits auf mehrere Eigenschaften zurückzuführen, die  nichts mit Grausamkeit zu tun hatten. Vor allem hielt er die Spannung  aus, die die Tötung eines anderen Menschen mit sich brachte, und er  konnte auch lästige Verwaltungsangelegenheiten übernehmen. War er  deshalb abnorm veranlagt oder einfach jemand, der ein größeres Talent  für gewisse militärische Aufgaben besaß? Etwas zeigte sich eindeutig:  Einen psychologischen Schutz bei seinen Handlungen bot ihm das  militärische Wertsystem, nämlich die absolute Disziplin, mit der er dem  Befehl des Oberkommandos gehorchte, Vaterlandsfeinde zu vernichten. Es  hätte Verrat bedeutet, wenn er diesen Befehl mißachtet hätte. Hingegen  war es verdienstvoll und ein Anlaß zu berechtigtem Stolz, wenn man den  Befehl vollständig ausführte.
Gleichzeitig vereinbarte er  innerlich seine Handlungen mit der christlichen Gesinnung, an die er  sich gebunden fühlte. „Ich glaube nicht, daß Gott diese  Scheißterroristen unterstützt“, sagte er sich, wenn er ernsthaft  nachdachte. Das war die Grundfrage: Mußte man Sendero-Kämpfer  töten oder nicht? „Selbstverständlich, ja“, dachte der Agent.  Er nahm sich nicht vor sich selbst in Schutz, indem er behauptet hätte,  daß er seine soldatische Pflicht erfüllte, obwohl das stimmte. Er  fühlte, daß er eine höhere Verantwortung übernahm. Das war eine  Verantwortung den anderen gegenüber, eine selbstlose und gefährliche  Aufgabe, bei der ihm, wie er es empfand, nicht nur die Armee beistand.  Auch Gott half ihm, gab ihm Kraft und verzieh ihm.
Nachdem er  diesen Punkt geklärt hatte, daß es notwendig war, Sendero-Kämpfer  zu beseitigen, blieb noch die Frage, wer einer war und wer nicht. Dann  kam ein weiterer Punkt ins Spiel: daß man sich irren und Gerechte  anstelle der Sünder töten konnte. Das war ein unlösbares Problem, ein  Preis, den man unverzagt bezahlen mußte. Unter den Umständen, die die  Arbeit am Stützpunkt bestimmten, erwies es sich als unmöglich,  vollständig sicher zu wissen, ob die Festgenommenen schuldig waren. Das  durfte ihren Tod nicht verhindern. Falls man einen angeblichen  Unschuldigen freiließe, der danach erzählen würde, was er erlebt hatte,  hieße das, sich einem äußerst großen Risiko auszusetzen und einen  möglichen Beweis bestehen zu lassen, daß das Militär kriminelle  Handlungen beging, womit man die gesamte Subversionsbekämpfung gefährdet  hätte.
Wenn daher ein wahnsinnig gewordener oder betrunkener  Offizier eine ordnungswidrige Tötung verschuldete, war diese  unvorhergesehene Tat – mit ihrer Grausamkeit und ihren Mißhandlungen –  nicht der wahre Grund für den Todesfall. Das Schicksal des  Festgenommenen stand von vornherein fest, es hatten sich nur der Tag und  die besonderen Umstände geändert.
 
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