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Cover Lettre International 34, Joseph Kosuth
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Inhaltsverzeichnis

LI 34, Herbst 1996

Grenzgängeleien

Es ist Sommer, in den Terrassenlokalen des Imperiums werden Spaghetti in drei Farben serviert und man atmet duftende Cappuchinos. In solchen Bezirken des kontrollierten Genusses, in denen der Qualm der Zigaretten einen GAU-Alarm verursachen könnte, hat der Wein einen besonders guten Ruf. Die olympischen Nordamerikaner benötigen ärztliche Zeugnisse für ihre Genüsse - und der Geist der Traube reguliert den Blutdruck. Der durchschnittliche Leser der Vereinigten Staaten widmet den Etiketten der Nahrungsmittel mehr Zeit als den Zeitschriften oder Comics. Dennoch befolgen nicht alle die gesundheitlichen Ratschläge. Die Ideologie der Gesundheit dient zur Beruhigung, ohne die Gewohnheiten zu verändern: "zumindest weiß ich, woran ich sterben werde". Es gibt so viele Varianten für die kontrollierte Selbstzerstörung, daß sich auch das Blätterteiggebäck von Tschernobyl gut verkaufen ließe, wenn die tödlichen Wirkungen nur peinlich genau auf der Verpackung beschrieben sein würden.

Jede Flasche Wein aus Kalifornien ist mit gastronomischen Attributen versehen, allerdings ohne jegliche Information über die kostbare Arbeit, die zur Herstellung nötig war. Wer ein Glas Rotwein aus Napa Valley erhebt, weiß nichts vom Abenteuer der Hände, die diese Trauben gelesen haben.

Alles beginnt auf der anderen Seite der Grenze, in der sengenden Wüste Mexikos, jenseits der Metallmauer, die von der nordamerikanischen Regierung mit Kriegsresten vom Persischen Golf aufgebaut wurde.

(...)

Die Willensbekundung der Vereinigten Staaten, der Grenze einen Riegel vorzuschieben, ist bis ins selbstversunkene Mexiko-Stadt vorgedrungen. Auch für die Hauptstadtbewohner ist alles Grenze, was hinter den Autobahngebührenstellen liegt. Als ich nach Tijuana kam, erklärte mir eine Lehrerin von einer Schule an der mexikanischen Nordgrenze, daß der Zentralismus selbst beim Wetterbericht eine Rolle spielt: "Der Nachrichtensprecher weist nur auf Orte im Zentrum und verdeckt mit seinem Kopf die Halbinsel von Südkalifornien, dabei ist es hier sehr wichtig zu wissen, wie das Wetter sein wird."

 

Nicht allein der Wetter-Mensch hält seinen Kopf auf die Grenze. In seinem zweiten Wahlkampf benötigt Bill Clinton leicht auszurechnende Gegner, wozu er die "Hispanics" aussuchte, die mit dem Namen der Bestie benannt werden, die überall draußen für Unruhe sorgt: Aliens. Der Präsident muß nicht gerade den Mut eines Pioniers aufbringen, aber zumindest sollte er beweisen, daß die Ausübung seines Amtes eine Wirkung zeitigt. Nach vier Jahren bleibt Bill Clinton das marzipanrosige, unentschlossene Dickerchen, das man sich gern im Supermarkt herausgreift, um es in die Einkaufstüte zu stecken. Ihm eilt der Ruhm eines harten Mannes voraus, und er fährt heftigen Attacken gegen das Land der gewürzten Avocadocreme. Im Senat pfeift der Wind in dieselbe Richtung: am 2. Mai 1996 wurde ein Einwanderungsgesetz, das die Lage von Personen ohne Papiere erschwert, mit 97 gegen 3 Stimmen angenommen. Um ihre Sorge wegen der kupferfarbenen Welle zu verdeutlichen, hielten die Republikaner ihre Parteiversammlung in San Diego ab, eine der konservativsten Städte an der Grenze, in der sich die Straßen wie unter der Befehlsführung einer Flotte anordnen: die Häuser blicken zum Meer und zu den Marinekreuzern.

Einige Kilometer südlich liegt Tijuana, dort folgt der Raum einen gegensätzlichen Befehl: die Stadt kehrt sich zu den Vereinigten Staaten um und berührt fast den Stacheldraht. Auf der mexikanischen Seite ist die Grenze einfach nur die Linie, als ob es ein imaginärer Demarkationsstreifen wäre.

Mexiko und die Vereinigten Staaten teilen sich die aktivste Grenze der Welt. Am Übergang Garita de Oray, der Tijuana mit San Diego verbindet, überschritten 1991 ganze 65,5 Millionen Menschen legal die Grenze. Ganz in der Nähe liegt Garita de San Isidro, wo täglich 40.000 Autos die Grenze überqueren. Es ist nicht möglich, die genaue Anzahl der "illegalen" Grenzgänger zu erfahren, die auf die "andere Seite" gelangten; man weiß lediglich, daß pro Tag 1.700 Personen im Bereich von San Diego festgenommen werden.

Neben vielen anderen Dingen sind die Grenzkontrollstellen von Tijuana eine gewaltige synkretistische Kunsthandwerkstätte, der einzige Ort im Westen, an dem ein Bart Simpson aus Gips als dekorativ angesehen wird. Das gilt auch für Power Rangers, Batmans, Pocahontas und Aladdins. In Übereinkunft mit den neuen Filmen aus Hollywood wird derzeit der bucklige Glöckner von Notre Dame vorbereitet. Jede Gipsstatue mißt etwa einen halben Meter, die Fertigung garantiert eine nutzlose Geschmacklosigkeit, gekrönt von Erfolg, selbstverständlich!

Auf der nordamerikanischen Seite verrät eine Werbeanzeige die Art des Handels zwischen beiden Ländern: Herpes? Call 800 336 CURE. Um elf Uhr morgens (oder zu jeder anderen Uhrzeit) gibt's in den Spelunken auf der Straße Coahuila den Striptease einer Liliputanerin, einer Walküre oder einer Herde Koreanerinnen. Außer Sex bietet Tijuana noch Stierkämpfe, Hunderennen, billige Zahnärzte und Arzneimittel, Tonnen von Arzneimitteln (die streng bewachten Pillen bekommt man ohne Rezept). Was die nächtlichen Neon-Ideogramme betrifft, so handelt es um eine helle Schriftart von beiden Seiten der Grenze. Nach dem Schriftsteller Daniel Sada ist die wahre Kultur, die Mexamerica verbindet und eint, die chinesische Küche.

Viele Häuser in Tijuana sind auf Säulen von Autoreifen erreichtet - in der Art von Pfahlbauten. Die Reifen dienen als Stütze auf einem sandigen Boden, der häufig von Erdstößen heimgesucht wird. Je näher man der Grenzlinie kommt, desto mehr und fast ausschließlich sieht man die Autoreifen als multifunktionales Objekt (Hecken, Zäune, Mauern, Schaukeln und Lückenfüller jeder Art). In der Stadt, die ihr Zeltlager-Ambiente für Nomaden nicht aufgegeben hat, wo das Leben stets als eine provisorische Einrichtung erfahren wird, hat sich das Emblem der Bewegung - der Autoreifen - in ein Symbol der Seßhaftggkeit verwandelt.

 

In der unmittelbaren Umgebung der Grenzkontrollstellen stehen die weißen Häuschen, wo die Batmans aus Gips gemacht werden. Im Freien fallen andere Gestalten auf; Menschen, die auf die richtige Gelegenheit hoffen und in Hockstellung unbeweglich warten (die Haltung ist ein rassischer Beweis der Misere: kein Landsmann mit spanischem Blut kann sich so "ausruhen"). Viele von ihnen waren bereits mehrmals drüben und machen sich und den anderen Mut, indem sie Anekdoten austauschen. "Ich habe drei Kinder auf der anderen Seite; ich hatte schon eine Anstellung, aber ich bin nach Oaxaca gegangen wegen meines jüngsten Kindes", sagte mir ein Mann mit fünfzig Jahren mit Baseball-Mütze und Tennisschuhen, die gewöhnliche Kleidung der Grenzgänger. Ich dachte, daß es schwierig sein würde, mit ihnen zu reden, aber auf dieser Seite des Flusses sprechen sie wie ein Wasserfall, bevor sie als "Aliens" gesucht werden, ohne Ausweispapier, verfolgt von den Scheinwerfern der Helikopter. Die Grenze ist eine weitläufige narrative Operation: die Erzählungen belegen, daß es möglich ist, durch den Zaun zu kommen, und Ruben, Carmen, Chucho und Ramona bereits bei der Erdbeerernte und der Weinlese arbeiten, daß die Bekannten die Grenzbullen mit ihren Mosquito-Maschinen und Tigeraugen, die mit Wärmesensoren ausgestattet sind, genarrt haben. Die negativen Angebereien gibt's auch zuhauf: "Mich hat man über dreißig Mal ausgewiesen." Die Losung heißt Weitermachen. Wenn eine Patroulle eine Menge Leute aufspürt, können lediglich zwanzig Personen aufgehalten werden. Wenn du nach Mexiko zurückgeschickt wirst, mußt du den Hunger aushalten, die Hitze der Wüste am Tag und die Kälte der Morgendämmerung, dann heißt es: alles wieder von vorne anfangen. Auf der anderen Seite, nach etwa zwanzig Minuten Fußmarsch, warten die Taxis, schnelle Autos, die auf der zwischenstaatlichen A 5, der goldenen Route der Arbeit, nach drüben fahren.

"Die Regierung soll zum Teufel gehen!", brüllt ein junger, kräftiger Mann, der ein schwarzes T-Shirt mit einem gotischem Emblem von einer Rock-Gruppe trägt. "Wir brauchen einen neuen Pancho Villa." Er macht eine Pause, um kleine Steinchen wegzuschießen. "Ist es denn gerecht, daß man dafür bestraft wird, betteln zu gehen? Soll man mich doch einbuchten, weil ich klaue, aber nicht für's Betteln. Das ist eine Gemeinheit!" Die mexikanische Polizei hat ihn vor kurzem festgenommen, weil er in der Nähe der Einwanderungsbehörde bettelte. Die anderen schauen ihn verstohlen an und lächeln, sie sind ziemlich genervt von seinen Sprüchen. "Was man braucht, ist Gerechtigkeit und Demokratie", sagt ein Alter. "Und ein Bajonett, um diese Scheißkerle abzuschlachten. Eine Revolution, das wäre obergeil!", fügt der Hitzkopf hinzu. Ich frage mich indes, wie die Alten es wohl anstellen, die Stacheldrahtzäune zu überwinden und dann zu laufen, was das Zeug hält; aber sie scheinen nicht, besorgt zu sein. Alle kommen von weit her: Zacatecas, Morelos, Aguascalientes. Nachts bechern sie ihren Orangensaft mit Tequila, um warm zu werden und sich dann mit Pappe zuzudecken. "Wenn wir wach werden, müssen wir die Pappe verbrennen. Siehst du, da liegt die Asche von der letzten Nacht." "Warum?" "Das Gesetz verlangt es." Mexamerica ist ein Bezirk mit eigenen Regeln. Einige kennen bereits die Polizisten, die sie auf der anderen Seite festnehmen: "Ich bin Kubaner. Ich will politisches Asyl beantragen", lautet ein bekannter Scherz, der mit den Grenzbullen gemacht wird. Der verbotene Grenzübertritt hat ein wechselseitiges Netz geschaffen, total durchorganisiert und so kostspielig wie der Tourismus nach Cancún: Für 700 US-Dollar bringt dich ein Fluchthelfer nach San Francisco - ohne Reisepaß; für die Mehrzahl der Auswanderer bedeutet das natürlich soviel wie ein Mietschlitten.

Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist eins der größten Absurditäten des Planeten: Arbeit gibt es genug, aber dafür müssen Einweihungsriten überwunden und durchlitten werden, die das strengste und rigoroseste Volk hinlänglich zufriedenstellen würde. Die US-amerikanische Regierung weiß, daß die Mexikaner weiterhin kommen werden, aber sie stellt Hindernisse auf, um ihr Cowboy-Image beim Viehhüten zu beweisen. Clinton möchte damit die rassistische "Wählerstimme" gewinnen (einschließlich die der Chicanos, die bereits ordentliche Ausweispapiere haben und keine Konkurrenz wollen). Die mexikanische Regierung nutzt ihrersiits das Thema, um außenpolitisch zu erreichen, was sie innenpolitisch nicht schaffen kann. Im Melodram der Grenzgängeleien spielen wir die Rolle des Opfers und die Qualen lassen an die Jungen Helden erinnern: sechs Kadetten, die im Kampf gegen die nordamerikanische Invasion von 1847 fielen. Seitdem wurde die Landkarte von Mexiko in Gestalt einer Pizza aufgeteilt: die Hälfte ohne Jalapa-Wunderblume ging an die USA. Diese verödete Erde ist heute der prosperierende Standort, wo die Mexikaner als Dienstboten der Chinesen, der Koreaner und bestenfalls der Nordamerikaner arbeiten. Jede neue Beleidigung (wie der Entwurf Nr. 187 des Gouverneurs Pete Wilson, der den illegalen Arbeiter jedes Recht versagte) ist eine Gelegenheit, das Rosenkreuz der Anmaßungen einzufädeln und aufzuzeigen, daß sich die aztekische Regierung um ihre Leute kümmert, vor allem wenn sie weit weg sind. Die unbequemen Daten (zum Beispiel, daß die Einwanderer in ihrem Land keine Arbeit finden) vergißt man für eine bessere Gelegenheit; aus der Perspektive der Regierung ist das Wichtige, daß sich durch die Rassentrennungspolitik der USA der Böse des lokalen Kinos in den Rächer des Export-Kinos mausert. Die Mexikaner, die in Transportzügen erstickten, die Knochen, die man in Felsenschluchten fand, die erniedrigenden Erklärungen der Polizei von Los Angeles erlauben dem Vorsitzenden Präsidenten der Länder ohne Demokratie im Namen der Toleranz Einspruch zu erheben. Während man also den Sommerwein schlürft und die USA sich auf die Prasidentschaftswahlen vorbereitet, lesen die Mexikaner die Trauben in Napa Valley. Nicht weit davon entfernt, in einem beliebigen Keller von Hollywood, konservieren die Werbeplakate des Kinohits Alien ihre phosphoreszierende Botschaft: "Draußen kann niemand deinen Schrei hören".

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024