LI 73, Sommer 2006
Kubanische Zeit
Radio dicke Lippe oder was mir in Havanna zu Ohren kamElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann
Textauszug
"Ich habe den Mund voller Nachrichten“, sagte Alejo Carpentier  regelmäßig, wenn er nach langer Abwesenheit wieder in Havanna eintraf.  Gern würde ich diesen Bericht mit dem gleichen Schwung beginnen, doch  ich möchte klarstellen, daß ich aus Kuba mit dem Mund voller  Fragezeichen zurückkehrte. Die Kubaner haben Beispiele und  Gegenbeispiele zu bieten, als kultivierten sie so etwas in Treibhäusern.  Ihre Vorliebe für Statistiken und Rekorde bringt sie dazu, auch wenn  davon gar nicht die Rede ist, mitzuteilen,  daß Sotomayor im Hochsprung  weiter den Weltrekord von 2,45 Meter hält und daß Che eine Montecristo  Nr. 4 rauchte. So ungesichert eine Information scheinen mag – die Zahlen  verleihen ihr die harte Hülle unumstößlicher Beweiskraft. Gleichzeitig  gibt es eine fest verwurzelte Kultur des Mißtrauens. Die Leute werden  leise, sobald man in ihrer Wohnung „diesen Herrn“ erwähnt (der nur einer  sein kann), und Telefongespräche wirken so hermetisch wie die Orakel  des Santería-Kults. Die Kubaner haben keinen allgemeinen Zugang zum  Internet, die meisten Nutzer verfügen lediglich über Intranet-Mail, sie  können nicht online chatten oder im Netz surfen, und sie dürfen  sicher sein, daß man ihre Meldungen mitlesen kann. In der regellosen  kubanischen Alltagskost vermischen sich Mitteilungsdrang und Mißtrauen;  man redet viel und verschweigt vieles. Der Reisende sieht sich  gezwungen, einen Mittelwert aus den von ihm registrierten Erklärungen,  Gegenerklärungen und dem Stillschweigen zu gewinnen. Wie soll man  wissen, was richtig ist; wie die Tatsache von der Legende unterscheiden;  wie erkennen, was sich noch nicht überprüfen läßt, sich aber später als  Wahrheit erweist? Eine Woche lang hörte ich auf die Botschaften von  Radio Dicke Lippe (Radio Bemba), also auf das, was von Mund zu  Mund mit der unauslöschlichen Wirkung des Gerüchts weitergetragen wird.  Im Unterschied zum Auslandskorrespondenten, der versteht oder verstehen  will, was geschieht, schreibt der Reisechronist in einem perplexen  Zustand, mit dem zwangsläufig anderen Blick des Uninformierten: Er steht  im Schatten und sieht, was ans Licht kommt.
Ich habe die Namen  der Personen und Orte verändert, mich jedoch bemüht, getreulich  wiederzugeben, was ich hörte. Im Fall Kubas bedeutet das: Wenn das Leben  nicht widersprüchlich scheint, so deshalb, weil es an sich schon  kompliziert genug ist.
(...)
Das alltägliche Kuba  widersetzt sich einer zusammenfassenden Schilderung. Es gibt wenigstens  zwei Wirtschaftsformen: die Pesos, mit denen man schlechte  Dienstleistungen zu lächerlichen Preisen bezahlen kann, und den in  Dollars rechnenden Parallelmarkt. Wenn man die Klimaanlage die ganze  Nacht anläßt, beläuft sich die Rechnung auf fünf Dollar im Monat – ein  Vermögen, wenn man bedenkt, daß ein Kinobesuch 15 Dollarcents kostet und  der monatliche Mindestlohn ungefähr drei Dollar beträgt.  Beziehungsweise eine Lappalie für jemanden, der Geld aus dem Ausland  oder von einem Touristen erhält.
In der fiktiven kubanischen  Wirtschaft ist ein Trinkgeld immer größer als ein Lohn. Es kommt nicht  selten vor, daß sich Ärzte bemühen, ihr Gehalt zu verdreifachen, indem  sie nachts als Taxifahrer arbeiten. Es gibt nur sehr wenig, was der  Besucher in Pesos bezahlen kann. Ich habe zehn Dollar eingetauscht und  (als Pesos) fünf davon in einer Woche ausgegeben.
Viele arbeiten  weiter aus Berufung – oder damit sie von zu Hause wegkommen. Andere  nehmen ihre Arbeit erst gar nicht in Angriff, da sie zunehmend  illusorisch scheint. Die Straßen sind zu jeder Zeit voll. Die Leute  warten, daß die Stunden vergehen, als handle es sich um eine Parade.
1990  war ich zum erstenmal in Kuba, als die „Spezialperiode“ gerade begonnen  hatte und der Fall der Berliner Mauer die Isolation ankündigte, der die  Insel bald unterliegen sollte. „Wir sind allein geblieben“, sagte  mir damals Eliseo Diego in seinem Haus in El Vedado. Unter  asthmatischer Atemnot leidend, redete der Dichter über das zukünftige  Schicksal wie über eine Zeit, in der alle Kubaner den gorrión,  die unerklärliche Melancholie der Tropen, bekämen. Nach Kuba fuhr man  damals als Mitglied von Solidaritätsdelegationen oder aus  Arbeitsgründen. Tourismus war praktisch ausgeschlossen. Das ehemalige  Hilton – in dem Batista vor seiner Flucht verlangte, ihm 18  Känguruhlederkoffer mit 12 Millionen Dollar in einer Reihe aufzustellen –  wurde in das symbolträchtige Habana Libre umgewandelt. Dort quartierte  sich der Stab des Comandante ein, als die Revolution siegte; dort  logierten die Jurymitglieder des Preises Casa de las Américas, die  zwei Monate in Havanna blieben. Heute fliegen schwarze Vögel über dem  Wolkenkratzer. Sie haben das untrügliche Aussehen von Aasfressern. Die  übrigen Hotels locken diese Tierart aus irgendeinem Grund nicht an.  Welche „erlesene Leiche“ erwarten sie im Habana Libre? Obwohl ein  spanisches Unternehmen dieses Hotel als Fünf-Sterne-Einrichtung  ankündigt, zeigt es die Spuren der sich wandelnden Zeiten: Die Portiers  verlangen fünfzig Dollar für die Genehmigung, daß man käufliche Schöne  mit ins Zimmer hinaufnehmen darf; die elfte und zwölfte Etage sind in  einem Dunkel versunken, das innerhalb des Gebäudes eine beunruhigende  Schattenzone schafft; und die Gäste sind keine Freunde der Revolution  mehr, sondern gierige Konsumenten, die zum Büfett stürmen, als kämen sie  aus Landstrichen, in denen schlimmere Not als in Kuba wütet, und sie  laden sich vier Eier mit sechs Würsten auf den Teller.
Jeder  Reisende vergleicht das, was er sieht, mit seinem Herkunftsort. Den  kubanischen Kellnern fehlt die Unterwürfigkeit ihrer mexikanischen  Kollegen. („Einen doppelten Kognak mit Ihrem Kaffee, Chef? Wenn’s  keinen gibt, besorge ich Ihnen welchen.“) Sie haben auch nicht den  grollenden Blick, der mit einer solchen Katzbuckelei einhergeht. Die  Kubaner sind apathisch und oft hochmütig, und sie verrichten Arbeiten  weit unterhalb des Niveaus, das ihnen aufgrund ihrer Ausbildung  eigentlich zustünde. Jeder von ihnen sieht gesünder als ein  Durchschnittsmexikaner aus. Obwohl die Rationierungskarte in den Städten  nur acht Eier monatlich und manchmal lediglich eines auf dem Land  garantiert, findet man dort nicht jene Unpersonen, die auf den  mexikanischen Straßen gleich jenen Häftlingen umherwanken, die in den  Konzentrationslagern den Realitätssinn verloren hatten und von den Juden  „Muselmänner“ genannt wurden. Die kubanische Armut erreicht  nicht die Erniedrigung des Mexikaners, die unseres Muselmanns, der keine  Schuhe besitzt und dessen Fingernägel Krallen gleichen. Ich vermute,  daß einem Schweden oder Holländer ein solch relativierender Blick für  die Mangelerscheinungen in Kuba fehlt.
Doch selbst wenn man die  Ungerechtigkeiten, denen man in Mexiko begegnet, als Vergleichsmaßstab  zugrunde legt, wirken die aus Kuba eintreffenden Nachrichten selten  ermutigend. Am Allerseelentag besuchte ich den Friedhof Cristóbal Colón.  Mit der landestypischen Leidenschaft, Rekorde zu brechen, erklärte man  mir, dies sei der größte Friedhof Amerikas und der drittgrößte der Welt.  Hier begrabe man 78 Prozent der Kubaner. „Das hier ist eine  Nekropole, kein einfacher Friedhof“, sagte der Führer zu mir. Ich  entfernte mich von ihm in ein anderes Viertel der Totenstadt. Dort  unterhielt ich mich mit einem ungefähr achtzig Jahre alten Totengräber.  Er sagte, es sei seine größte Freude, daß man jetzt sehr wenige junge  Menschen beerdige. Das kann mit den bemerkenswerten Fortschritten im  Gesundheitswesen zu tun haben, die von der Revolution erreicht wurden,  doch es gestattet auch eine andere Deutung: Die Jungen verlassen die  Insel, die Alten bleiben da. Die Bevölkerungsstruktur hat sich in  letzter Zeit verändert. Vor einer Schultür sprach ich mit zwei Müttern,  die auf ihre Töchter warteten. Sie erklärten, sie machten sich Sorgen,  weil alle Schüler, wenn sie 14 würden, als „Stipendiaten“ weiterlernen  müßten. Im Klartext: Sie müssen in ein Schülerwohnheim umziehen. Früher  habe es die Möglichkeit gegeben, daß sie bei den Eltern wohnen blieben,  aber für solche Schulen gebe es keine Lehrer mehr.
Alles, was in  Havanna als Leistung bewundert werden kann, läßt sich auch als das  Gegenteil davon betrachten. Ein begeisterter und hochherziger Anhänger  der Revolution erzählte mir, Kuba habe Tausende armer Venezolaner an den  Augen operiert: „Wenn sie das Augenlicht zurückgewinnen, bringt man  sie an einen besonderen Ort, damit Himmel und Bäume das erste sind, was  sie sehen. Manche erblicken ihre Kinder zum erstenmal. Es müßte mehr  Propaganda über etwas so Anrührendes geben.“ Ich sprach mit  Patienten des Krankenhauses für Augenheilkunde und bekam von der  Schattenseite zu hören, die den üblichen Kontrast zu dem sonnenhellen  Epos bildet, das ich kurz zuvor vernommen hatte. Kuba tauscht mit  Venezuela Ärzte gegen Erdöl aus; man hat Mittellosen geholfen, dies aber  auf Kosten der vernachlässigten Kubaner. Eine Frau erzählte mir, sie  warte seit sechs Monaten auf eine Glaukombehandlung. „Und das,  obwohl ich Beziehungen zum Ministerium habe – oder vielleicht gerade  deshalb.“ Sie lächelte ironisch.
Kuba, die Insel der  Paradoxe, verdankt sein Überleben weitgehend dem, was es anfangs  ablehnte: den Geldüberweisungen aus dem Ausland sowie den Touristen, die  nicht gerade auf der Suche nach dem ersten freien Land Lateinamerikas  herkommen. Die Alternative „Vaterland oder Tod“ wirkt extravagant, wenn  nichts so viel wert ist wie der Dollar. Seit dem 8. November 2005 gibt  es konvertierbare Pesos. Ich sah Fidel bei dem Gespräch am runden Tisch,  das zu diesem Thema im Fernsehen übertragen wurde. Seelenruhig auf das  Offensichtliche verweisend, sagte er, Kuba werde eine Währung wie die  aller Länder haben. Absolut wahr, gewiß – aber mußte man so lange  warten, bis man über eine konvertierbare Währung verfügte?
Als in  den neunziger Jahren der Dollar frei zirkulieren konnte, tauchten die jineteras  auf: die lokale Variante der Prostitutierten. Von den vielen  Meinungsäußerungen, die ich hierzu hörte, möchte ich diese wiedergeben: „Die  jinetera läßt dich glauben, daß sie sich in dich verliebt. Sie  träumt nicht davon, daß du sie bezahlst, sondern, daß du sie heiratest  und von der Insel fortbringst.“ Um die von ihm angesprochene  sentimentale Folklore zu veranschaulichen, erzählte mein Informant von  einem sechsundsiebzigjährigen Herrn aus Jalisco, der seine havannischen  Tage in den Armen einer Mulattin verbrachte. Am letzten Tag seines  Aufenthalts war er zu sexuellem Verkehr unfähig. Die jinetera weinte an  seiner Brust und stürzte ihn in einen überaus trostlosen Liebesschmerz. „Die  Spezialität der jinetera ist die Fiktion der Liebe.“ Sex als  Möglichkeit des Überlebens und der Flucht. Ein anderer teilte mir mit,  daß im früheren Judenviertel, wo noch eine Synagoge in Gebrauch sei, das  größte Kontingent der Jiddisch-Schülerinnen von jineteras  gestellt werde, die nach New York auswandern wollten.
Die  Kombination von Viagra und der kubanischen Krise hat den Sextourismus  des Seniorenalters geschaffen. In den paladares genannten  Privatrestaurants habe ich Schweizer Großväter in Begleitung junger  Mädchen beobachtet, die aussahen, als wollten sie gleich Ricky Martins Die  Jugend singen, und daneben Italiener, die sich sechs Jahrzehnte  dem Glauben hingegeben hatten, daß pasta nicht dick mache: Sie befanden  sich in der Gesellschaft von Mädchen, die wie für ein Casting des  Produzenten Sergio Andrade gekleidet waren.
Die Libido wird von  der Geopolitik beeinflußt, wie mir ein Bekannter verriet, der Stammgast  in einem Bordell von Barcelona ist, wo man eine neunzehnjährige Polin  für 150 Euro eintauscht: „Ist es meine Schuld, daß die Berliner  Mauer gefallen ist?“ In Spanien stehen in den Zeitungen Anzeigen  für Prostitution („Versaute und enthaarte Kleine macht mit bei  unanständigen Trios“); man vereinbart sie per E-Mail, und sie  findet an Orten statt, die mit klinischer Diskretion arbeiten; sie  tragen den nicht sehr zurückhaltenden Namen puticlubes.  („Hurenclubs“: Dieser Neologismus wird so häufig benutzt, daß sich der  Dichter und Akademiker Ángel González vorgenommen hat, ihn ins  Wörterbuch aufzunehmen.)
Unter verschiedenen Etiketten, aber  unwiderstehlich schwungvoll floriert der älteste Beruf der Welt auf der  ganzen Erde. In Kuba tritt er offensichtlicher in Erscheinung, weil die  Kontaktaufnahme auf der Straße stattfindet. „Nichts hilft soviel wie  ein toller Wagen dabei, Tussis aufzureißen: Das ist ein Supermagnet“,  vertraute mir ein mexikanischer Sextourist an. Was jedoch die  kubanische Prostitution tatsächlich auszeichnet: daß sie während der  „Spezialperiode“ aus der übermächtigsten Not entstand, als die „Steaks“  in Schweineschmalz gebratene Pampelmusenschalen waren.
Die Jahre  1993 bis 1996 brachten die Küche ohne Zutaten oder die „Als-ob“-Küche.  Die zwanghafte und erstaunliche Vorliebe der Insulaner für das Essen des  Festlandes (der köstlichste Fisch ist der, der nach Fleisch schmeckt)  verleitete dazu, sogar Haushaltsutensilien als Fleisch zu tarnen. Es  wird erzählt, daß von den Molen Havannas ein Container verschwand, der  Küchenlappen enthielt. Ein findiger Kopf, dessen Einfälle sich  eigentlich nicht allzusehr von Ferran Adriàs experimenteller Küche  unterschieden, tauchte die Feudel so lange in Zitronensaft, bis sie ihre  ursprüngliche Festigkeit verloren; danach panierte er sie mit dem  Feingefühl eines Pianisten und verkaufte sie als Sandwichs mit  „Mailänder Schnitzeln“.
(...)
 
   
   
   
  