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LI 126, Herbst 2019

Melvilles Lebensreise

Seemann und Deserteur, Romancier und Zollinspektor – eine Spurensuche

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der aus verzweifelter Beschränkung floh, auf einer Planke in polynesische Traumreiche gespült wurde, in die „Zivilisation“ zurücksegelte und dann, nachdem sein Genie (wie zu erwarten war) keinen Lohn fand, das Universum in einem kleinen Zimmer durchmessen mußte. Sein Biograph nannte ihn „einen unglückseligen Mann, der mittellos und dürftig gebildet zur Reife kam“. Unglückselig endete er gleichermaßen.
   Wer hätte vorhersehen können, welche Größe vor Herman Melville lag? 1841 schlich sich der eifrige junge Mann davon, ohne seine Zimmerwirtin zu bezahlen, und heuerte auf dem New-Bedford-Walfangschiff „Acushnet“ an, das in die Südsee fahren sollte. Er war 21, anstellig und erstaunlich offen für Neues, er sehnte sich danach, nicht lediglich etwas zu sehen, sondern zu leben. In Typee (1846) und Omoo (1847) und den anderen Seefahrerromanen, die von seinen Abenteuern während der nächsten drei Jahre inspiriert wurden und während des Halbjahrzehnts entstanden, ehe er Moby-Dick – seine Wörterreise an Bord der „Pequod“ – begann, schrieb Melville mit großherziger Neugier über schreckenerregende „Wilde“ und das kulturell Andere. Um diesen Propheten der Empathie zu ehren, machte ich mich dieses Frühjahr auf nach Französisch-Polynesien, um etwas vom wäßrigen Teil der Welt zu sehen und anzuschauen, was ich konnte, von dieser Örtlichkeit und ihren Bewohnern – die in unserem Romancier das moralische Bewußtsein formten und seine Sprache und seine Metaphern endlos unter Segel setzten. Zurückgekehrt nach Amerika mußte er lernen, diese Gaben zu genießen, denn nachdem ihm ganz kurz ein wenig Erfolg zuteil geworden war, hatte er nichts anderes mehr, von dem er sich nähren konnte.

   (…)

Heutzutage wird der erstaunlich blaue Wasserkreis der Taiohae-Bai weich von den Kurven hoher grüner Vorgebirge umfangen, die mit Regenwald und Farndschungel geschmückt sind. Mein erster Eindruck, als ich eine Serpentinenstraße von der trockenen Seite Nuku Hivas herabkam, war: Goldenes Licht schoß über die Wipfel der Palmen und Bananenbäume im schräg abfallenden Tal, und man spürte plötzlich einen sauberen, bitteren Duft. Zwei Tage später war der Hügelkreis um Taiohae trockener, und der Himmel hatte einen Teil seiner Leuchtkraft verloren. An einem anderen regnerischen Morgen trug die Bai glänzendes Spiegelgrau wie eine Daguerreotypie. Ich glaubte, Pua-Blüten zu riechen.
   Nachdem er vor Anker gegangen war, konnte sich der Kapitän der „Acushnet“ bei der Entlassung seiner Männer zum Landgang nicht enthalten, sie vor den „tätowierten Schuften“ zu warnen, welche die Weißen in einen Kochkessel zerren könnten. Die einschlägige Legende dieser Schufte ging ihnen schon lange voraus. Wie Typee vermeldet: „Ihr bloßer Name ängstigt, denn das Wort ‘Typee’ bezeichnet im Dialekt der Marquesas einen Liebhaber des Menschenfleisches.“ Immerhin offenbar nicht derart ängstigend, daß es keinen Landgang gegeben hätte. Was vermochten solche Warnungen gegen das Testosteron und die massive Neugier? Die Steuerbordwache ruderte los, Melville darunter. Es war der 9. Juli 1842. Er sollte nicht mehr auf die „Acushnet“ zurückkehren.
   Sogleich zwang ein Wolkenbruch Melvilles Landgangtruppe, Schutz zu suchen „in einem riesenhaften Kanuhaus, das gleich am Strand stand“. Nachdem die anderen eingeschlafen waren, schlichen sich Tom/Melville und sein Schiffskamerad Toby Greene hinaus und begannen, den Berg emporzusteigen. Der warme Regen wird ihnen nichts ausgemacht haben. Er wird den Gestank von verrottetem Walblut und altem Schweiß abgewaschen haben. Sie tauschten grausame Disziplin gegen Brotfrucht, stinkigen Schiffszwieback gegen Mango, grabgleiche dunkle Kojen gegen das smaragdhelle Leben, das durch Typee pulsiert. Ihre Hoffnungen waren bekränzt von wildem Taro mit seinen dicken dunklen Blättern, von den gelben Blütensternen der massiven Hibiskusbäume.

   (…)

Nur allzubald stoßen Tom und Toby auf steile Schluchten und Bergkämme, vor denen sie ratlos sind. Sie teilen sich ihre magere Brotration, stolpern voran, werden des Nachts in improvisierten Blätterhütten durchnäßt. Tom beginnt zu lahmen. Und dann nähern sie sich einem Felsvorsprung und schauen hinunter in ein paradiesisches Tal „von allbeherrschendem Grün“. Ungewiß, ob das Tal einen angeblich freundlichen Stamm von Nuku-Hivanern beherbergt oder die „wilden Typees“, steigen unsere Helden hinab in diesen feuchtgrünen Himmel. Und dann? Nun, man weiß durch den Titel des Buches, wo sie landen.
   Nachdem er den Schock angemessen betont hat, den dieser tollkühne Entschluß darstellt, beginnt Melville sogleich (und hierin hat Typee viel von seiner narrativen Fülle) die sinistren Züge, die er beschworen hat, zu konterkarieren. Zuerst füttern die Taipis die beiden, ein schönes Ende von fünf Hungertagen. Und der Segen setzt sich fort. Sie legen sich unbelästigt schlafen. Am Morgen führen mannbare Angehörige des „wunderschönen Geschlechts“ eine „lange und genaue … Untersuchung“ ihrer beider Personen durch.
   Der mächtige Häuptling Mehevi kommt nun vorbei, eindrucksvoll prächtig gekleidet. Was Tom, dessen Namen der Häuptling „Tommo“ ausspricht, „höchst bemerkenswert“ findet, ist „die komplizierte Tätowierung, die alle seine noblen Gliedmaßen bedeckte“. Die meisten Beobachter aus Europa oder Amerika hätten in dieser Epoche für die Tätowierung wohl eher ein Wort wie „abstoßend“ verwendet. Melville betont, daß man Mehevi „gewiß als einen Aristokraten der Natur hätte betrachten können, und die Linien in seinem Gesicht mochten seinen hohen Rang bezeichnet haben.“

   (…)

Von seiner Flucht – sehr hektisch dargestellt in Typee, was nicht heißen muß, daß die Beschreibung falsch ist; die Eingeborenen können ihn aber auch friedlich an die Europäer vertauscht haben – wissen wir nur gewiß, daß unser Autor im August 1842 auf den Walfänger „Lucy Ann“ geriet, ein Abenteuer, dessen er sich für das auf Typee folgende Buch Omoo bediente. Der Kapitän, dem einige Seeleute desertiert waren, rettete Melville, der sich verpflichtete, bis Tahiti mitzufahren. In Tahiti verbot der Kapitän, der nicht ohne Grund weitere Desertionen befürchtete, seinen Männern den Landgang; da schloß sich Melville, aufrührerisch wie stets, einer Meuterei an. (Sie scheiterte.)
   In Tahiti warf man ihn ins „Calabooza Beretanee“ (Melvilles Schreibweise), was auf tahitisch „englisches Gefängnis“ bedeutet. Ich hätte mir diesen Ort gerne angesehen, doch nichts ist erhalten. Unser Autor wußte sich zu arrangieren; bald wurde ihm seine Haft erleichtert, dann erlassen, und er war wieder ein Vagabund. In Tahiti beobachtete er, wie weiße Missionare sich zur Essenszeit in den Häusern der Einwohner breitmachten, während eingeborene Polizisten alle, die sie einfangen konnten, zu den Sonntagsgottesdiensten trieben. Der neue Moralkodex wurde mit strengen Strafen durchgesetzt; das Bildungssystem war eine Art Apartheid. Omoo beschreibt bitter die stockfuchtelnden Missionare des alten Schlages, bei deren Anblick die Eingeborenen „in ihre Hütten schleichen“. Melville konnte nur zu dem Schluß kommen, daß es „den Tahitianern jetzt schlechter geht“ als vor der Begegnung mit den Weißen.
   In Papeete auf Tahiti, der Hauptstadt von Französisch-Polynesien, war der Wirt meiner Pension, Luc François, auch dieser Ansicht: „Ich wünschte, die Missionare würden zu Hause bleiben, weil sie sagen, ihr Gott ist besser als anderer Gott!“ Er lachte. „Sie sagen: ‘Jetzt mußt du zu meinem Gott beten, du mußt ein Kleid anziehen, du mußt eine Tätowierung verstecken.’ Aber meine Tätowierung ist die Geschichte meines Clans, die Geschichte meiner Kinder. Aber sie sagen: ‘Meinem Gott gefällt nicht!’ Wir sind ein kleiner Ort, ein kleiner Teil vom Universum. Warum zu mir kommen und so etwas sagen?“
   Die eingeborene Kultur hatte sich verändert, und Melville kam zu dem Schluß, daß für die Inselbewohner „die Aussichten hoffnungslos sind“.

   (…)

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