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Lettre 143 / Wilhelm Sasnal
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LI 143, Winter 2023

Vier Männer

Ein Schriftsteller mischt sich unter Obdachlose einer Stadt

Am 7. März 2023, einem verschneiten sonnigen Tag, wachte ich morgens auf und sah mit einigem Vergnügen durch meine weiße Gardine in gleißendes Sonnenlicht, das, so schien es von drinnen aus, bereits wärmte. Warum also nicht ein bißchen spazierengehen. Sollte ich mich erkälten, würde mich dieses warme Zimmer wieder aufnehmen – immerhin deuteten einige dunkelbraune Pfützen auf den leeren Grundstücken in der Second Street auf den nahenden Frühling hin, wenn man mal absah von dem unangenehmen kalten Wind, der vom Fluß herauf wehte, oder der standhaften Weigerung der preisverdächtigen Eiszapfen in der First Street, endlich anzufangen zu tropfen. Ich glaube eben gerne an den Frühling, so wie ein guter Christ an den Himmel glaubt. Warum sich unnötig über sommerliche Sorgen den Kopf zerbrechen? Der Wind könnte mir das Gesicht einfrieren, aber meine Arbeitshandschuhe aus Leder würden meine Hände ausreichend wärmen. Kurz gesagt, ich war ein furchtloser Tourist, der sich vorgenommen hatte, hier in Reno, Nevada, drei obdachlose Männer zu finden, downtown, denn in den Vereinigten Staaten verrotten die Städte vom Zentrum aus. Seit Reno 1903 eigenständige Gemeinde geworden war, mußte sich, so meine Überlegung, in der Innenstadt doch sicher ein Problemviertel entwickelt haben, oder es sollte wenigstens ein paar Landstreicher geben. Gleich beim ersten Versuch zog ich das große Los: Zwischen der Second und Third, Höhe Bell Street, verlief eine lange matschige Gasse, mit grellen Schneegebirgen am östlichen Ende, während in westliche Richtung, einige Häuserblocks weiter, ein Mann in einem blauen Anorak, an dessen Wägelchen mindestens 15 schwarze Müllbeutel hingen, unter Beobachtung auf einer Stromleitung aufgereihter Spatzen immer wieder seine Habe inspizierte und neu ordnete. Auch ich beobachtete ihn. Warum ihn nicht gleich fragen, ob er der erste der drei Männer sein wollte? Doch ehe ich ihn erreicht hätte, hätte er mein Kommen bestimmt bemerkt und wäre, was weiß ich, unter Ächzen auf die sich über der Amtrak-Station zusammenbrauende Gewitterwolke zugelaufen, weswegen es ratsamer schien, sich an jemand Näheres heranzuschleichen, zum Beispiel in der Second Street, in die der flußseitige Wind die Obdachlosen von der First Street vertrieben hatte. Besser noch, warum sich nicht erst mal aufwärmen und so tun, als würde ich überlegen, wo ich noch suchen konnte. Mit dem richtigen Plan würde ich vielleicht sogar als Journalist durchgehen. 

Unterwegs achtete ich, wie es jeder alte Mann tun sollte, auf rutschige Stellen auf dem Bürgersteig, stieg im Zeitlupentempo wieder die Treppe hoch, auf die der Vermieter fürsorglich Salz gestreut hatte, schloß hinter mir ab, warf Handschuhe, Mantel, Schal und Weste aufs Sofa, und heizte dann meinen Unterschlupf gemütlich ein, indem ich einfach auf einen dicken roten Knopf auf der Fernbedienung drückte. (Wir Indoor-Menschen verstehen es eben, das Leben zu genießen.) Ich schlug die Zeitung auf und las, Schwerer Sturm zieht über Reno-Tahoe auf. Jetzt wußte ich, warum der Coffee-Shop-Besitzer ein paar Häuser weiter Sandsäcke bereitgelegt hatte. Allerdings ging mir jegliches finanzielle oder sentimentale Interesse an Renos Erdgeschoßimmobilien ab. Mein eigenes Atelier in Sacramento konnte ab jetzt jedes Jahr überflutet werden, und es ließ sich nicht verhindern, was scherte mich also Renos zukünftiges Elend. Reno scherte sich ja auch nicht um mich. Allmählich wurde es Zeit, die Sonne auf dem schrägen Dach meines Nachbarn zu bewundern, die Ziegel schimmerten silbergrau, kein Schnee weit und breit. Ein Wacholderbaum gestikulierte im Wind. Er duckte sich, bog sich und zuckte mit den Schultern. In der Dämmerung schüttelte sich dieser Baum jämmerlich. Ich lag im Bett und stellte mir die ziemlich leidige Frage, die ich noch nie losgeworden bin: Wie kommt es, das ich in sauberer warmer privater Umgebung Schneewolken dabei zuschauen kann, wie sie über sonnenbeschienene Backsteingebäude kriechen, solange mein Geld reicht, während andere Menschen draußen schlafen?

ROLAND

Am Mittwoch, dem 8. März 2023, für die Nacht war ein stürmischer Wind vorhergesagt und eine Flutwarnung herausgegeben worden, meldete das Shelter Census Dashboard auf der Homepage der Washoe County Housing and Homeless Services null freie Plätze der insgesamt 44 Plätze im Cares Campus Safe Camp. Obwohl jeder gestandene Patriot vermutet hätte, daß Washoe County optimal plant und baut, um genauso viele Betten anbieten zu können, wie jeder Sturm, jede Kündigung, Vertreibung oder Zwangsvollstreckung verlangt, fing ich, pervers wie ich bin, wieder an, meine Frage zu stellen. Insbesondere fragte ich mich, ob heute abend wohl jemand an Unterkühlung sterben würde. Bestimmt nicht im Safe Camp – schon der Name versprach ja Sicherheit – und möglichst nicht, nachdem Safe Camp ihm zuvor die Tür gewiesen hatte, was kein schönes Licht auf Washoe County geworfen hätte. Sehr wahrscheinlich würde zwischen jetzt und morgen früh überhaupt niemand auf Renos Straßen sterben, wozu also die ganze Aufregung. Klar, eine Leiche auf dem Bürgersteig würde den Preis dieses Artikels natürlich in die Höhe treiben. Wie dem auch sei, die Zeitung war ziemlich dünn, wie die meisten regelmäßig erscheinenden amerikanischen Blätter heutzutage, die ihren dünnen Inhalt weitgehend mit Ankündigungen aus der Indoor-Welt füllen, jeder Todesfall outdoor somit unbemerkt blieb und mich davor bewahrte, davon zu erfahren – schlecht für meinen Artikel, gut für ein entspanntes Gewissen. Mit dieser angemessen beschränkten Haltung machte ich mich wieder an die Arbeit.

Ich war der erste der vier Männer für diesen Artikel, denn jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sah, war ich schon da. Aber, wie gesagt, lieber sollte ich mir drei obdachlose Männer suchen, denn das wäre leichter, als meine Überschrift zu ändern. Wenn das geschafft war, konnte ich meine lyrischen Krokodilstränen vergießen und mich wieder ins Bett verkriechen. Wie Sie sehen, wollte ich mich eben unbedingt warm halten. Noch ein Grund, warum ich der erste sein mußte. Zweifellos würde ebenso jeder meiner drei neuen Brüder meinen, er stünde im Mittelpunkt dieser Geschichte, aber was konnte ich dafür, oder sie? Bin ich Hüter meines Bruders? Ehrlich gesagt, lieber nicht. Das senkte meine Kosten. Aber ich konnte meine Freundlichkeit bewahren, ohne mich dazu zu verpflichten, irgend jemanden zu retten. 

Und so drehte ich am frühen Abend die Heizung ab, panzerte mich in meiner Outdoor-Kleidung, stieg die vereiste Treppe hinab und siehe da, binnen zweimaligen Klingelns der himmlischen Registrierkasse fand ich den zweiten Mann für meinen Artikel. Er bewohnte einen Hauseingang in der Second Street, Ecke Virginia. (Sehen Sie jetzt, wie leicht Journalismus geht?) Mit dem Hintergedanken, diesem Menschen ein Essen zu spendieren (und ihn nebenbei an einem warmen Ort zu interviewen), lud ich ihn ins Casino des Club Cal Neva auf der anderen Straßenseite ein. Der Mann hieß Roland. Einen von uns beiden hätte es in Verlegenheit gebracht, hätte ich gefragt, warum er draußen schlafen mußte und ich nicht, weswegen ich aus Taktgefühl meinen Fokus schärfte oder auch nur verlagerte. Mit anderen Worten, ich fragte ihn, wie er gedachte, sich dem Sturm zu stellen, der sich bereits mit einem fiesen Wind ankündigte. Er antwortete auf die geduldige, gelassen apathische Art, vorherrschend bei Amerikanern, die sich mit ihrer Obdachlosigkeit abgefunden haben (in bestimmten anderen Rechtssystemen, zum Beispiel Mexiko, sähe man in solchen Momenten Klassenhaß aufflammen, doch im Land of the Free neigen die Armen dazu, sich selbst die Schuld zu geben). Kurzum, er schien weder besorgt noch sonderlich glücklich über die drohenden Schwierigkeiten. Vielleicht versteckten sich hinter seiner Leidenschaftslosigkeit irgendwelche anderen Gefühle, aber ich wollte lieber glauben – Sie etwa nicht? –, daß dieser Mann tatsächlich so entspannt war, in welchem Fall ich ihn nicht einzuladen brauchte, die Nacht in meinem geheizten gemieteten Zimmer zu verbringen. Wenn ich es mir recht überlege, war ich von solchen Pflichten bereits freigestellt. Denn der liebe Gott, der Zufall oder die Ökonomie hatten schon vor langer Zeit unsere unterschiedlichen Schicksale festgelegt: Er war ein Outdoor-Mensch und ich ein Indoor-Mensch, so daß alles, was vor meinem Panoramafenster geschah, Mutter Natur überlassen werden konnte. Oh ja, so arm wiederum war Roland nämlich auch nicht dran. Zum Beweis brauche ich nur anzuführen, daß, als ich ihm ein Bier seiner Wahl bestellte, er es nur zur Hälfte trank. Gut, vielleicht wollte er den Flüssigkeitspegel absichtlich hoch halten, um noch etwas länger in Cal Nevas verrauchter Wärme, unbehelligt von der Security, sitzenbleiben zu können. Aber was meine Interpretation noch glaubwürdiger macht, ist die Tatsache, daß er die zwanzig Dollar, die ich ihm gab, bevor wir auseinandergingen, eine Weile lang ansah und erst dann verschwinden ließ. (Stimmen Sie mir jetzt zu?)

Normalerweise gehe ich einfach rein, bemerkte er, in einen Hauseingang oder in ein Casino.

Ein Hauseingang war also drinnen für ihn. Nun ja. Selbstverständlich war Cal Neva auch für mich drinnen, oder wenigstens nahe dran. Ich erklärte also diesen schmuddeligen, Zigarettenrauch ausdünstenden Teppich, die Bartische entlang der Wand zwischen Theke und der breiten Treppe zur Straße, mit Blues- und Rock-Musik der siebziger Jahre als Soundtrack, zu meinem provisorischen Büro. Ich würde auch die nächsten beiden Obdachlosen ins Cal Neva einladen, ihnen ein Bier und was zu essen spendieren, sie ausfragen, danach die Rechnung zahlen (wir Indoor-Menschen sind meistens gut im Zahlen), mich gegen den Wind wappnen, die behandschuhten Hände in den Taschen vergraben und die Second Street hinaufstapfen zu meinem gemieteten Bett.

Haben Sie manchmal Angst, im Schlaf überfallen zu werden?, fragte ich.

Nein, antwortete er, sehr ruhig und langsam. Davor habe ich keine Angst, weil ich Gott nicht fürchte – was ich augenblicklich so verstand, daß er sich vor nichts fürchtete, womit Gott ihn heimsuchen würde. Früher habe ich mit meinem Leben gespielt, fuhr er fort, zum Beispiel einmal, als jemand eine Waffe auf mich richtete, und ich hörte ein Klicken und diese Stimme, die vom Teufelswahn sprach und was als Nächstes passiert, weil man es schon weiß, wie das Jüngste Gericht. Ich habe mal einen Typen in Utah kennengelernt, der das gleiche beschrieben hat.

(Als er mich so musterte, wie es jeder gute Lehrer machen würde, als wäre dieser Teil damit erklärt, wurde mir klar, daß bestimmte Erklärungen vielleicht unerklärlich blieben.)

Was würden Sie machen, wenn Sie sich heute abend nicht aufwärmen und trocken bleiben können, falls Sie wieder hierherkommen?

Normalerweise, sagte er geduldig, lassen sie einen in Ruhe, wenn man die anderen nicht belästigt.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024