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Lettre 144, Kunst Mathias Deutsch
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LI 144, Frühjahr 2024

Island

Land aus Stein und Kälte, auf feurigem Grund, von Eis bedeckt

(...)

Das erste Parlament auf europäischem Boden nach der Antike hatte ja seinen Sitz auf Island, in Þingvellir, und bestand von 930 bis 1262. Um das Jahr 1000 führte diese Versammlung freier Bauern aus freien Stücken das Christentum ein, im Jahr 2000 ein gewichtiger Grund, dieses Ereignis zu feiern. Knapp 30 000 Menschen – Wikinger aus Norwegen, Mönche und Händler aus Irland – besiedelten die Insel in den ersten Jahrhunderten.
     „Die Insel Ißland liegt unter dem Polo Arctico und insonderheyt gegen dem Wind, Circius genennet, nahe bei dem eisechten Meer, umb welcher Ursachen willen sie dann Eißland, von Eiß, genennet wird, denn gar nahe über das gantze Jar Eiß in dieser Insel gefunden wird. (...) Es erstrecket sich diese Insel von Mittag gegen Mitternacht biß in die hundert teutscher Meil wegs, ist zum mehrertheyl bergig und ungebauen, fürnemlich gegen Mitternacht, und solches von wegen der Schärffe des rauhen Windes Circii, der auch nicht eyn Stäudlin und Gräßlin läßt auffkommen. Und ist aber diese Insel von wegen der seltzamen Wunderwerck, so darinnen fürgehen, insonderheyt zu loben. Denn es ist eyn grosser Berg darinn, der für und für gleich wie der Berg Aethna brennet und Feuer von sich würfft, also daß die Leuth vermeynen, es seie die Hell am selbigen Ort. So sihet man offtermals verstorbener Leuthe Geyster, dir durch durch andere ermordt worden oder sonst gewaltsamer Weise umbkommen seind …“
     Heute liegt die Einwohnerzahl bei etwa 370 000 bis 380 000. Sturmumtost ist die Insel, die Natur entwickelt extreme Kräfte und verlangt von den Menschen Improvisationsfähigkeit und Flexibilität. Ihr zu entsprechen ist geradezu eine Leidenschaft der Isländer, behauptet Sigrun Valbergsdóttir: „Es bricht ein Vulkan aus und man muß eben die Gegend verlassen; es bricht ein Stück von einem Eisberg ab und die Flüsse treten über die Ufer; es kommt ein Erdbeben und man verläßt sein Haus.“ 
     An dramatischen Geschehnissen ist Island bekanntlich so reich wie kaum anderswo eine Vulkaninsel, denn Natur und Geschichte gehen hier ineinander über. Dem Innendruck der Natur, der sich in vulkanischer Gewalt zeigt, korrespondiert, so könnte man meinen, ein Innendruck der Menschen – entlädt sich hier jedoch eher in Dichtung als in Katastrophen. Nur die Sagas sind voll von unsublimierter, direkter, nachhaltiger und ruinöser Gewalt, sie erzählen von Rache und Verderben. Auf historischem, auf Sagaboden, sind wir überall, hier in den Westfjorden wandeln wir auf den Spuren der Gisli Saga und derjenigen der Schwurbrüder. Halldór Laxness hat seinerseits mit der Kunst der Ironie die Saga historisch gegen sich selbst gewendet und mit Gerpla. Die glücklichen Krieger ein bedeutendes Antikriegs- und Antigewaltbuch geschrieben, eine meisterhafte Parodie des mittelalterlichen Heldenromans isländischer Prägung.

(…)

Augenblicksgötter

In dieser extremen Welt, in der das Geschichtenerzählen ein Reproduzieren der eigenen Familiengeschichte ist, kommt die gemeinschaftsbildende Kraft des Erzählens in besonderer Weise zur Wirkung; es ist das Band, das Vergangenheit und Gegenwart zusammenfügt, das die Menschen mit ihrer eigenen Geschichte modellhaft verbindet und Muster für eine in unsicheren Schatten liegende Zukunft entwirft.
     Wer so isoliert in Land und Welt zugleich lebt, und dies über eine Folge von Generationen hinweg und mehr oder minder am selben Ort, muß in der Erzählung eine Kraft der Kontinuität erkennen, die sein Überleben sichert.
     Im Grunde läßt sich in dieser Landschaft, die so voller Dämonen und Namen steckt, jene Kraft erkennen, die von der sinnlichen Wahrnehmung zum Sinn der Existenz führt. Indem die Menschen die Ambivalenz des Berges als Bedrohung und als Fluchtpunkt, des Felsens als bergende Hilfe eines Flüchtenden oder als Ort des Steinschlags, des Wassers als durstlöschend und damit lebensrettend wie auch als gefährlich und bedrohlich sinnlich wahrnehmen und diesen Erscheinungen und Situationen einen Namen geben, statten sie sie mit Sinn aus. Die Erzählung ist eine sinnstiftende Einrichtung. Sie ist es auf andere Weise als die Philosophie in ihrer Begrifflichkeit. „Augenblicksgötter“ nannte Hermann Usener dieses Auftauchen von Sinn aus dem Sinnlichen. Und das fasziniert noch uns Heutige; manchen bringt es auch in der Ferne zur dichterischen Kraft, wo immer die Natur ihre Kräfte spielen läßt: „Immer näher kommt das Klingen und Rauschen, wie wenn tausend Sichelwagen dahin rasen über die Sandflur eines Schlachtfeldes. Stets wächst die Stärke des Drucks; schon beginnt das Eis dicht unter uns zu beben, in allen Tonarten zu klagen, zuerst wie das Schwirren unzähliger Pfeile, dann kreischend, tosend, mit den höchsten und tiefsten Stimmen zugleich“ 
     „Ich glaubte, da ich ein Heldenepos über den Fisch und auch schon eines über Schafe geschrieben hätte, könnte ich wohl genausogut eines über Dichter und Poeten verfassen“  – Halldór Laxness hätte mit gleicher Meisterschaft über alles und jeden schreiben können, hoch und niedrig, weil er immer nur den Menschen sieht. Seine über fünfzig Werke, Romane vor allem, aber auch Essays, Gedichte, Kurzgeschichten, Erzählungen und Stücke fürs Theater – sie sind allesamt Weltliteratur mit einem kräftigen Schuß Ironie. Und seine literarischen Figuren: Der junge Mann aus gutem Hause im Weber von Kaschmir, der Bauer Bjartur í Sumarhúsum, der endlich „sein eigener Herr“ sein will und alles ruiniert, das Mädchen Salka Valka in dem gleichnamigen Roman, eine großartige Personifikation Islands selbst, der Unglücksmensch Jon Hreggvidsson in Islandglocke, der bis nach Dänemark und weiter nach Europa gelangt und zum Symbol für das Streben des Landes nach Freiheit wird, oder der arme Dichter Olafur Kárason aus Weltlicht, der gegen alle Armut und den Unverstand der Welt die Wahrheit der Dichtung verteidigt, die aus dem Nordland stammende Ugla in Atomstation, deren Herrschaft Island Stück für Stück an die Amerikaner verkaufen will – sie alle sind, fast von Anfang an, exemplarische Gestalten, archetypische Figuren. Im Tiefsten der Existenz verwurzelt, sind sie Urformen des Daseins und deshalb mit den Gestalten der griechischen Tragödie verwandt, doch episch und nicht dramatisch. 
     Und so treten die Figuren im harten Glanz des puren Seins in Erscheinung. Von außen gesehen, wirken sie stoisch, fatalistisch, widersinnig, je nachdem; doch ist ihr Inneres widerspruchsfrei und unhinterfragbar, wie die Landschaft selbst.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.