Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International 96, Marcel Dzama
Preis: 11,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 96, Frühjahr 2012

Freuds Couch

Das Narrativ der Nächte und die Erfindung der Psychoanalyse

(...)

Diese Beziehung zwischen Couch, Bekenntnis, Erotik, Tagträumerei und Geschichtenerzählen findet ein wunderbares Echo in Gestalt des berühmtesten Tagesbettes moderner Kultur, einem privilegierten Ort der modernen Phantasie: Freuds analytischer Couch, die er mit orientalischen Teppichen und Kissen bedeckte. Gab es Gründe, warum er dies tat? Kein anderer Analytiker ahmte ihn, soweit berichtet, damals oder seither nach. Die meisten seiner Kollegen und Nachfolger schlagen lieber den Ton klinischer Nüchternheit an. Waren die Assoziationen an Beichte und Erotik, die das orientalische Sofa weckte, Absicht? Könnte ein Sinn für Schalk und Provokation Freuds Wahl mit angetrieben haben?

(…)

Etliches gibt es in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu analysieren, doch interessiert mich mehr die Deutung der Symbole, die Freud gewählt hat, um den Schauplatz seiner Hermeneutik zu gestalten, sie zu inszenieren. Es wäre unangemessen, wenngleich verlockend, auf die Bedeutung seines Vornamens im Judentum aufmerksam zu machen: Schlomo, Salomon. Doch für Freud war in der Psychopathologie des Alltagslebens nichts zufällig, und so sollte seine Wahl des Mobiliars für die Behandlung seiner Patienten diesen dabei helfen, ihm ihre Geschichten und Träume zu erzählen. Er bedeckte seine Couch mit dem „Smyrnateppich“, den er als Verlobungsgeschenk erhalten hatte, und fügte weitere orientalische Teppiche und Kissen hinzu. Stellte Freuds Behandlungszimmer eine sorgfältige Inszenierung für die moderne Variante von Scheherazades talking cure dar, um die „nächtliche Poetik“ der arabischen phantastischen Tradition fortzusetzen?

Freud nannte die Couch eine Ottomane oder mitunter auch sein Untersuchungs- oder Behandlungsbett, heute indes bezeichnet man sie als die „Analysecouch“. Es ist das Symbol der Psychoanalyse schlechthin, und seine Präsenz in Freuds letztem Haus, 20 Maresfield Gardens, Hampstead, London (heute Freud-Museum) ist wahrhaft auratisch. Das Sofa hat alle Merkmale einer Reliquie angenommen; als ausdrucksstarker Zeuge, gesättigt mit historischen Erinnerungen, steht es da, ein Ding, das durch seinen Gebrauch affiziert und verändert worden ist, das verzaubert. Die Vorhänge sind zugezogen, um Freuds „Wunderkammer“ zu schonen – seine Sammlung von Büchern und Kunstwerken, Drucken, Gefäßen und Statuetten, Stoffen und Teppichen, darunter Läufer auf dem Boden und auf den Möbelstücken und, am auffälligsten, „der Smyrnateppich“ auf der Couch.

Freuds Arbeitszimmer ist zu einem modernen Schrein geworden, in dem die Gegenwart des großen Mannes durch seine Besitztümer, seine Dinge, spürbar ist; das Kernstück, die Couch, befindet sich heute hinter einer Absperrung. In einem säkularen Sinn lädt dieses Zimmer ein zur Verehrung eines Propheten und versammelt Genien als Begleiter um ein Zwillingsdenkmal: seinen Schreibtischstuhl, einen violinförmigen Drehstuhl, den ein Freund für ihn, einer Kykladen-Göttin ähnlich, gebaut hatte, und den Armlehnstuhl, der hinter dem Kopfende der Couch stand. In einem Brief an seinen Freund Fließ nannte er seine Statuetten-Sammlung „meine alten und dreckigen Götter“. Sie stehen in Vitrinen, in Bücherregalen und auf Tischen überall im Arbeitszimmer, darunter Gottheiten aus Ägypten, Griechenland und Indien, viele davon mit Orakel und Schrift verbunden, Vermittler von Weisheit und Rätsellöser: Thoth, der Gegenpart zu Hermes Trismegistos, Ödipus und die Sphinx, Athena, einige weitere Sphingen und Greifen und andere mit Rätseln assoziierte Monstren, deren Gliedergemisch ein Rebus verkörpert, das nach Entschlüsselung ruft. Unter ihnen gibt es auch, nicht weniger vielsagend, Uschebti-Figuren oder „Antworter“ – jene Stellvertreter-Statuetten aus dem alten Ägypten, die im Jenseits im Auftrag eines anderen wirken. 

Die Dichterin H.D. ist von 1933 bis 1934 von Freud analysiert worden, und seine Antiquitätensammlung spielt einen lebendigen und anschaulichen Part in ihren Erinnerungen (Freud äußerte, sie sei die erste Besucherin überhaupt gewesen, die seine Dinge angeschaut hätte, ehe sie ihn anschaute).

(…)

Mit Hilfe von Marie Bonaparte wurden Freuds Sammlungen gerettet und aus Wien nach London gebracht. Auch wenn die Adresse in Hampstead nicht die Geburtsstätte der Psychoanalyse ist, tragen doch Freuds Objekte die Aura jener Ursprünge mit sich. Die Couch ist dieselbe, eben das Möbelstück aus den Anfängen von Freuds talking cure, dasselbe „altmodische Roßhaarsofa“, schrieb H.D., „das mehr Geheimnisse gehört hatte als je der Beichtstuhl eines volkstümlichen römisch-katholischen Beichtvaters auf dem Gipfel des Erfolgs. Dies war das schlichte  historische Instrument mit dessen Hilfe das ursprüngliche System der Psychotherapie entwickelt wurde: die Psychoanalyse, der Wissenschaft von der Entwirrung der verschlungenen Stränge des unbewußten Denkens.“

Freuds Couch, allen Berichten zufolge hart und zerbeult (wenngleich die Beulen mit der Zeit größer geworden sein mögen), ist eine viktorianische Chaiselongue, mit einem Unterschied jedoch: Das  tatsächlich vorhandene, klassische erhöhte Kopfende mit einer Kissenrolle darauf wird durch den darüberliegenden Teppich dem Blick verborgen. H.D. erinnerte sich, daß sie sich daran ein bißchen wie Madame Récamier anlehnte.

(…)

Freud saß hinter dem Kopfende der Couch, wenn er seinen Patienten zuhörte. In London, in den letzten Monaten vor Freuds Tod, lag der jeweilige Analysand ausgestreckt unter dem berühmten Bild, auf dem Charcot seinen Studenten im Krankenhaus La Salpétrière in Paris eine Hysterikerin vorstellt – bei einer jener Vorlesungen, die den jungen Freud so tief beeindruckt hatten. Diese Graphik ersetzte den Stich vom Tempel in Abu Simbel, der in Wien über der Couch hing und – eher weniger provokativ – den Anblick riesiger Schutzgottheiten bot. Am Fußende der Couch hing der Gipsabdruck der Gradiva, das pompejanische Relief einer jungen, behende in Richtung des Analysanden schreitenden Frau in Sandalen, deren Gewand ihren Körper umspielt. Gradiva war für Freud eine Schlüsselfigur der Inspiration. Heutige Besucher dürfen sich nicht auf die Couch legen, doch wurde mir erlaubt, sie zu berühren, und der Teppich – der dick und borstig aussieht – erwies sich als unerwartet weich und seiden, mit einem dichten Flor, der vom Kopf zu den Füßen der darauf liegenden Person verläuft (H.D. fand ihn glatt und rutschte herunter, wenn sie sich aufgerichtet hatte).

(…)

Freud beschreibt, wie seine Methode von ihm verlangt, aufmerksam auf die Fäden zu schauen und, so fährt er fort, auf die „Knotenpunkte“, an denen sie sich treffen. Die Zeilen knüpfen treffend an H.D.s „verworrene Stränge“ an und an ihre eigene fein gesponnene Metapher zu Freuds Stimme, die das graue Gewebe konventionell gewobenen Denkens „in einen Bottich eigenen Gebräus“ eintauche  und dann Gedankenfetzen in neuen Farben wieder herausziehe, so daß sie zu Flaggen, Bannern, Feldzeichen werden. Die Metaphorik ist nicht sehr originell,  doch ermöglichte sie Freud und H.D., über eine tiefere Schicht unterhalb der bewußten und willensgesteuerten Rede zu sprechen. Eine Metapher für die unbewußte Ordnung dieser Äußerungen zu finden bemühte sich Freud im selben Jahrzehnt. Er analysierte seine eigenen Traumgedanken und lud Patienten ein, die ihren auszudrücken, während sie auf der Couch lagen; in Zusammenarbeit mit ihnen versuchte er die Muster und Verknüpfungen im Gewebe zu erkennen, die Figur im Teppich.

In Bezug auf das Konzept der psychoanalytischen Methode lohnt es, die sprachliche Verwendung jener Redefigur noch einmal mit den materiellen Eigenschaften von Teppichen zu verknüpfen. Innerhalb einer Grundstruktur von Rahmen, Grund und Figur verbindet ein Teppichknüpfer strukturelle Motive „in unendlicher Kombination“, wie Freud über seine Traumanalyse schrieb. Dann wandelt er eine jede durch Variationen in Farbe, Größe, Qualität der Materialien unterschiedlich ab. Daß Rahmungen wiederum innerhalb weiterer Rahmungen präsent sind, darauf hat Cristina Campo
hingewiesen, und die Literaturwissenschaftlerin Ferial Ghazoul hat es anhand der Struktur der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht erforscht. Sie unterscheidet drei Ordnungen der Verflechtung, die sie Unterordnung, Koordination und Überordnung nennt, eine bewußt freudianische Anordnung, die dem Muster der Beziehungen von Es, Ich und Über-Ich entspricht. Die Ordnungen halten die schweifenden Launen der Erzählungen – mitunter kaum – zusammen, indem der Erzähler das sich auffächernde Muster immer wieder verankert. In manchen Geschichten ist dies ein Kampf. Die Anbindungen haben die Form innerer struktureller Kunstgriffe – Wiederholungen, rekursive Handlungsmuster, Spiegelpaare, Verflechtung – und werden überdies durch den grundlegenden äußeren Rahmen, der Raum einer einzigen Nacht, vermittelt.

Die drei zentralen Rautenmedaillons des Teppichs auf Freuds Couch sind von mehreren weiteren Rahmungen gefaßt, die verschieden breit und unterschiedlich ausgearbeitet sind. Ich habe zehn gezählt, doch andere mögen sie anders unterscheiden. In dieser Struktur hallt die Entfaltung von Bedeutung in der Psychoanalyse wider, wo die einander umschließenden Bedeutungskreise in einer Bewegung ins Innerste aufgeschlossen und entfaltet werden sollen. Es ist, als habe Freud einen Platz zum Liegen, Träumen und Sprechen für seine Patienten gewählt, der seinerseits die Arten der Musterbildung, des Knüpfens, Verflechtens und Kombinierens reproduziert, die er als Zuhörer zu entschlüsseln hatte. Dann setzte er der Analyse eine Zeitgrenze und rahmte so das erwünschte Spiel des freischweifenden Denkens zeitlich ein, bis zur nächsten Sitzung, wenn die Erzählung wieder aufgenommen werden würde.

Preis: 11,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024