LI 81, Sommer 2008
Kosmologische Zeitreise
Die Zukunft des Universums und die Vorläufigkeit der WissenschaftenElementardaten
Textauszug
(...) Eine Zeitlang schien es, als gebe es fünf verschiedene,  jeweils mathematisch konsistente Stringtheorien, was ein bedrückendes  Ergebnis war, weil niemand wußte, warum eine dieser Theorien und nicht  eine der übrigen vier die Natur beschreiben sollte. Zur Vermeidung von  Widersprüchen waren all diese Stringtheorien in zehn Raumzeitdimensionen  (neun räumliche Dimensionen plus die Dimension der Zeit) formuliert,  was noch bedrückender war, weil ziemlich viel dafür spricht, daß wir  nicht in zehn Dimensionen leben. Doch in den letzten Jahren mehren sich  die Zeichen, daß diese fünf verschiedenen Stringtheorien (sowie eine  Non-String-Feldtheorie in elf Raumzeitdimensionen) nur verschiedene  Phasen einer zugrundeliegenden Theorie sind, die wir leider noch nicht  kennen. Es gibt zudem Anlaß zu der Hoffnung, daß unser erfolgreiches  Standardmodell der Teilchen und Kräfte in vier Raumzeitdimensionen sich  als eine andere Phase – diejenige, in der wir leben – dieser  zugrundeliegenden Theorie erweisen wird.
Es ist ungefähr so, als  würde man sagen, daß Diamant und Graphit Phasen desselben Materials, des  Kohlenstoffs, sind. Beruhte alles, was einer über Kohlenstoff weiß, auf  Beobachtungen der Diamanten im Schmuck und des Graphits in Bleistiften,  würde es vielleicht schwerfallen zu begreifen, daß dies Phasen  derselben Substanz sind. Man könnte sehen, daß Diamant und Graphit  einiges miteinander gemein haben, zum Beispiel die Art der  Wechselwirkung mit Neutronen aus einem Kernreaktor. Wüßte man aber  nichts über das Kohlenstoffatom, wäre es außerordentlich schwierig, eine  einheitliche Theorie von Diamant und Graphit zu finden, die zeigen  würde, daß beides nur verschiedene Formen von Kohlenstoff sind. Dies ist  natürlich nur eine Analogie. Ich spreche hier nicht über verschiedene  Phasen einer Substanz, sondern über verschiedene Phasen einer  physikalischen Theorie, Phasen, die unter anderem durch eine  unterschiedliche Zahl von Dimensionen in Raum und Zeit charakterisiert  sind. Man hofft, daß diese verschiedenen Theorien Näherungen sind, die  sich unter verschiedenartigen Umständen aus der zugrundeliegenden  Theorie ableiten lassen, mehr oder weniger so, wie sich die  Eigenschaften von Diamant und Graphit durch Näherungsrechnungen aus  unserer Theorie des Kohlenstoffatoms ableiten lassen.
Wie werden  wir die Theorie finden, die all diesen verschiedenen Versionen der  Stringtheorie zugrunde liegt und die Theorie einschließt, die die  beobachteten Phänomene in unserer vierdimensionalen Raumzeit beschreibt?  Die Antwort lautet: mit Schwierigkeiten. Der zeitliche Rahmen für diese  Entdeckung reicht von wenigen Stunden bis zu Jahrhunderten. Es kann  sein, daß ich morgen aufwache und den Artikel eines bislang unbekannten  Studenten finde, der alles klar beschreibt, gepostet auf der Website von  Los Alamos, auf der ich jeden Morgen nachsehe, was es Neues in der  Physik gibt. Es kann aber auch sein, daß es in diesem Jahrhundert nicht  dazu kommt. Ich glaube aber, daß es dazu kommen wird, und damit wird ein  bestimmtes Kapitel in der Geschichte der Wissenschaft enden: die Suche  nach den Grundprinzipien, die allem zugrunde liegen. 
Es ist sehr  wahrscheinlich, daß die endgültige Theorie, die wir auf diese Weise  finden, ganz einfach sein wird in dem Sinne, daß sie auf nur wenigen  Grundprinzipien beruht. Außerdem wird sie wahrscheinlich sehr fragil  sein in dem Sinne, daß es nicht möglich sein wird, irgendeine Änderung  an der Theorie vorzunehmen, ohne daß sie logisch inkonsistent wird. Wir  sind in dieser Richtung schon weit vorangekommen. Zum Beispiel hat sich  die Quantenmechanik, die Mitte der zwanziger Jahre entwickelt wurde,  praktisch unverändert bis heute erhalten. Wenn man sich Theorien  auszudenken versucht, die der Quantenmechanik ähnlich, aber nur ein  wenig verschieden sind, wird man finden, daß sie immer logische  Absurditäten enthalten wie negative Wahrscheinlichkeiten oder Ursachen,  die auf Wirkungen folgen. Verbindet man die Quantenmechanik mit der  Relativitätstheorie, nimmt die Fragilität zu. Wenn man eine  relativistische Quantentheorie nicht sorgfältig konstruiert, wird man  darauf stoßen, daß man auf eine vernünftige Frage wie die nach der  Geschwindigkeit einer bestimmten Reaktion eine unvernünftige Antwort  erhält: Die Geschwindigkeit ist unendlich. Nur bestimmte begrenzte  Klassen von Theorien vermeiden diese unsinnigen Unendlichkeiten. Diese  Fragilität ist etwas Gutes, verrät sie uns doch einiges darüber, warum  die Naturgesetze so sind, wie sie sind. Wir dürfen hoffen, daß eine  endgültige Theorie mit ihrer größeren Fragilität keine freien Parameter  ent-hal-ten wird wie etwa die Teilchenmassen im Standardmodell, deren  numerische Werte experimentell gewonnen werden müssen, ohne daß wir  wissen, warum diese Zahlen so sind, wie sie sind. Der Fragilität  verdanken unsere Theorien auch einen Großteil ihrer Schönheit, im selben  Sinne, wie ein Walzer von Chopin Schönheit durch unseren Eindruck  gewinnt, daß keine Note daran geändert werden dürfte.
Das wird  ein großer Erfolg sein, aber er wird nicht völlig befriedigend sein,  weil wir zwar wissen werden, warum die endgültige Theorie nicht ein  bißchen anders ist, aber niemals erfahren werden, warum die Theorie  nicht etwas völlig anderes ist. Man kann zum Beispiel, wenn  man bereit ist, entweder die Quantenmechanik oder die  Relativitätstheorie ganz fallenzulassen, jede beliebige Menge von  Theorien konstruieren, die logisch konsistent sind, die aber nicht die  reale Welt beschreiben.
Eine andere Beschränkung: Diese Theorie  wird, auch wenn ich sie eine endgültige Theorie nenne, nicht das Ende  des Weges für die Wissenschaft bedeuten. Sie wird keine Theorie von  allem sein, eine Theorie, die alle wissenschaftlichen Probleme löst. Wir  haben schon eine Menge wissenschaftlicher Probleme, die überhaupt nicht  erklärt werden. Eines davon ist, um ein Beispiel aus der Physik zu  nennen, das Verstehen des Strömens einer Flüssigkeit, wenn sie turbulent  wird. Vor diesem Problem stehen wir seit hundert Jahren, es entzieht  sich noch immer einer Lösung, und es könnte sich auch lange nach dem  Erfolg der endgültigen Theorie der Elementarteilchen einer Lösung  widersetzen, wenn wir alles, was wir über die Grundprinzipien von  Flüssigkeiten wissen müssen, schon verstanden haben. Wir wissen einfach  nicht, wie wir mit dem komplizierten Strömungsverhalten einer  Flüssigkeit umgehen sollen, in der Wirbel von größeren Wirbeln befördert  werden, die ihrerseits von noch größeren Wirbeln befördert werden – der  charakteristischen Erscheinung von Turbulenz. Wie bei vielen der  interessantesten Probleme der Physik sind auch hier Computer nur eine  begrenzte Hilfe, weil sie uns nur sagen, was unter einer Vielzahl  spezieller Umstände geschehen wird, und das könnten wir ebensogut aus  einem Experiment entnehmen. Was wir wirklich gern verstehen würden, sind  die universellen Eigenschaften einer stark entwickelten Turbulenz unter  allen Umständen.
(...)
 
   
   
   
  