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Cover Lettre International 68, Ulay
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LI 68, Frühjahr 2005

Was ich hörte vom Irak

Ich hörte Oberst Gary Brandl sagen: „Der Feind hat ein Gesicht. Er heißt Satan. Er ist in Falludscha, und wir werden ihn vernichten.“

Ich hörte einen Marinekommandeur zu seinen Männern sagen: „Sie werden für Dinge nicht verantwortlich gemacht, wie sie im nachhinein sind, sondern wie sie Ihnen aktuell erschienen. Wenn Sie im guten Glauben feuern, um sich und Ihre Männer zu schützen, handeln Sie genau richtig. Es macht nichts, wenn wir später herausfinden, daß Sie eine Familie unbewaffneter Zivilisten ausgelöscht haben.“

Ich hörte Oberstleutnant Mark Smith sagen: „Wir gehen dahin, wo die Bösen leben, und wir töten sie in ihrem Postbezirk.“

Ich hörte, daß 15 000 US-Soldaten in Falludscha einmarschierten, während Flugzeuge 500-Pfund- Bomben auf „aufständische Ziele“ warfen. Ich hörte, sie zerstörten das Notfallkrankenhaus Nazzal im Stadtzentrum, wobei zwanzig Ärzte umkamen. Ich hörte, sie besetzten das Allgemeine Krankenhaus Falludscha, das die Militärs ein „Propagandazentrum“ genannt hatten, weil es über zivile Opfer berichtete. Ich hörte, daß sie alle Mobiltelefone konfiszierten und den Ärzten und Ambulanzen verboten, den Verwundeten zu helfen. Ich hörte, sie bombardierten das Kraftwerk, um die Stadt zu verdunkeln, und daß das Wasser abgestellt wurde. Ich hörte, daß an jedem Haus und Laden ein großes rotes „X“ auf die Tür gesprüht wurde als Zeichen, daß es schon durchsucht war.

Ich hörte Donald Rumsfeld sagen: „In dieser Stadt haben unschuldige Zivilisten jede nötige Anleitung, wie sie Schwierigkeiten vermeiden können. Es wird keine große Zahl Zivilisten getötet werden, schon gar nicht von US-Streitkräften.“

Ich hörte, daß es in dieser Stadt der 150 Moscheen keine Rufe zum Gebet mehr gibt.

Ich hörte Muhammad Aboud erzählen, wie er, außerstande, sein Haus zu verlassen, um ein Krankenhaus aufzusuchen, seinen neunjährigen Sohn habe verbluten sehen, und daß er, außerstande, sein Haus zu verlassen, um auf einen Friedhof zu gehen, seinen Sohn im Garten begraben habe.

Ich hörte Sami al-Jumali, einen Arzt, sagen: „In Falludscha gibt es keinen einzigen Chirurgen. Gerade ist mir ein 13 Jahre altes Kind unter den Händen gestorben.“

Ich hörte einen amerikanischen Soldaten sagen: „Wir werden Herz und Verstand der Menschen von Falludscha gewinnen, indem wir die Stadt von den Aufständischen befreien. Das tun wir, indem wir in den Straßen patrouillieren und den Feind töten.“

Ich hörte einen amerikanischen Soldaten, einen Bradley-Kanonier, sagen: „Im Grunde suchte ich nach sauberen Wänden, also, ohne Löcher drin. Und dann machten wir da Löcher rein.“

Ich hörte Farhan Saleh sagen: „Meine Kinder sind hysterisch vor Angst. Sie sind von dem Geräusch traumatisiert, aber man kann sie ja nirgends hinbringen.“

Ich hörte, daß die US-Truppen Frauen und Kindern gestatteten, die Stadt zu verlassen, daß aber alle „Männer im wehrpflichtigen Alter“, also von 15 bis 60, bleiben müßten. Ich hörte, daß weder Nahrungsmittel noch Medikamente in die Stadt gelassen würden.

Ich hörte das Rote Kreuz sagen, daß mindestens 800 Zivilisten umgekommen seien. Ich hörte Ayad Allawi sagen, daß es in Falludscha keine zivilen Opfer gebe.

Ich hörte einen Mann namens Hammad sagen: „Die werfen so komische Bomben ab, von denen Rauch wie ein Atompilz aufsteigt. Dann fallen kleine Stückchen mit langen Rauchfahnen aus der Luft.“ Ich hörte ihn sagen, daß bei der Explosion von Stücken dieser Bomben große Feuer entstanden, die die Haut verbrannten, selbst wenn man Wasser darauf schüttete. Ich hörte ihn sagen: „Daran litten die Leute so sehr.“

Ich hörte Kassem Muhammad Ahmed sagen: „Ich habe gesehen, wie sie Verwundete auf der Straße mit dem Panzer überrollten. Das ist so oft passiert.“

Ich hörte einen Mann namens Khalil sagen: „Sie haben Frauen und Männer auf der Straße erschossen. Dann haben sie alle erschossen, die ihre Leichen holen wollten.“

Ich hörte Nihida Kadhim, eine Hausfrau, sagen, als sie schließlich wieder in ihr Haus durfte, habe sie eine Botschaft mit Lippenstift auf ihrem Wohnzimmerspiegel gefunden: „FUCK IRAQ AND EVERY IRAQI IN IT.“

Ich hörte General John Sattler sagen, die Zerstörung Falludschas habe „dem Aufstand das Rückgrat gebrochen“.

Ich hörte, drei Viertel von Falludscha seien in Schutt und Asche gelegt. Ich hörte einen amerikanischen Soldaten sagen: „Ist schon irgendwie schlimm, daß wir alles zerstört haben, aber wenigstens haben wir ihnen die Möglichkeit zu einem Neuanfang gegeben.“

Ich hörte, daß nur fünf Straßen nach Falludscha geöffnet blieben. Alle anderen würden mit „Sandwällen“, mit Erdbergen, abgesperrt. An den Zugangsstellen werde jeder photographiert; jedem würden Fingerabdrücke abgenommen und die Iris gescannt, bevor er einen Ausweis bekomme. Alle Bürger müßten den Ausweis jederzeit gut sichtbar tragen. Keine Privatautos – die Fahrzeuge für Selbstmordanschläge – seien in der Stadt gestattet. Alle Männer würden zu „Arbeitsbrigaden“ zusammengestellt, um die Stadt wieder aufzubauen. Sie würden bezahlt, aber die Teilnahme sei Pflicht.

Ich hörte Muhammad Kubaissy, einen Ladenbesitzer, sagen: „Ich suche noch immer nach dem, was sie Demokratie nennen.“

Ich hörte einen Soldaten sagen, er habe mit seinem Priester über das Töten von Irakern gesprochen und daß der Priester ihm gesagt habe, es sei in Ordnung, für seine Regierung zu töten, solange er keinen Gefallen daran finde. Nachdem er mindestens vier Männer getötet hatte, hörte ich den Soldaten sagen, er habe zunehmend Zweifel: „Verdammt, wo hat Jesus gesagt, es ist in Ordnung, für die Regierung Leute zu töten?“

(…)

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