LI 71, Winter 2005
Walküren über dem Irak
Militärpornographie - oder Versuche, einen Antikriegsfilm zu drehenElementardaten
Genre: Reportage
Übersetzung: Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Textauszug
Anfang 2003, etwas über zehn Jahre nach dem Ende des ersten Golfkrieges –  also des kurzen, schnellen, sauberen, klaren und ach so schmerzlosen  und moralisch überlegenen –, und schon auf der Schwelle dessen, was  rasch der unausweichlich erscheinende Beginn seiner weit komplizierteren  Fortsetzung werden sollte, veröffentlichte Anthony Swofford, ein  ehemaliger Marine-Scharfschütze in jenem ersten Konflikt, den  mitreißenden, düsteren Bericht seiner Erlebnisse auf dem kuwaitischen  Kriegsschauplatz Anfang der neunziger Jahre – eine bittere Anklage, bar  aller Illusionen oder billiger Tröstungen. Von allen Enthüllungen in  Swoffords lebhafter Chronik stand eine der aufwühlendsten gleich am  Anfang des Buchs. Er beschreibt, wie Marines, kurz bevor sie in die  Schlacht geschickt werden, sich in einen ekstatischen  Bereitschaftszustand puschten, indem sie sich Videos über frühere Kriege  ansahen, insbesondere Kampfszenen aus einigen der härtesten  Vietnamfilme – Filmen, denen wirklich jede Illusion, jeder Trost  genommen war –, beispielsweise Robert Duvalls berühmten und blutigen  Hubschrauberangriff mit dem „Walkürenritt“ als Begleitmusik in Francis  Ford Coppolas Apocalypse Now.
„Es heißt“,  schreibt Swofford, „viele Vietnamfilme seien gegen den Krieg, ihre  Botschaft sei, Krieg sei inhuman. (…) Eigentlich aber sind alle  Vietnamfilme für den Krieg, ungeachtet ihrer vermeintlichen Botschaft  und dessen, was Kubrick, Coppola oder Stone beabsichtigten.“  Swofford räumt ein, daß Mr. und Mrs. Johnson in Omaha, San Francisco  oder Manhattan bei solchen Filmen „weinen und ein für allemal  beschließen, daß Krieg unmenschlich und schrecklich ist, und es ihren  Freunden in der Kirche und ihrer Familie sagen, doch Corporal Johnson in  Camp Pendleton und Sergeant Johnson in der Travis Air  Force Base … und Lance Corporal Swofford in der Twentynine  Palms Marine Corps Base werden durch genau dieselben Filme erregt,  weil ihre magische Brutalität die schreckliche und verabscheuungswürdige  Schönheit ihrer Kampftechniken zelebriert“, fährt Swofford  schonungslos fort. „Filmische Bilder von Tod und Gemetzel sind für  den Soldaten Pornographie; mit solchen Filmen streichelt man seinen  Schwanz, krault ihm mit der rosa Feder der Geschichte die Eier, bereitet  ihn auf seinen echten Ersten Fick vor. Es spielt keine Rolle, wie viele  Mr. und Mrs. Johnson gegen den Krieg sind … die tatsächlichen Killer,  die mit ihren Waffen umzugehen wissen, sind es nicht.“
„Die  angeblichen Antikriegsfilme sind gescheitert“, schließt Swofford  einige Absätze weiter, und charakterisiert seine Euphorie an jenem  fernen Nachmittag. „Als junger Mann, der mit Vietnamfilmen groß  geworden ist, will ich Munition und Alkohol und Dope, ich will ein paar  Huren vögeln und irakische Arschlöcher killen.“ 
Man sollte  meinen, daß eine solch unverblümte Würdigung eine neue Generation von  Filmleuten ins Grübeln bringt: ob der Versuch, einen Bericht wie den  Swoffords zu verfilmen, vielleicht doch keine so gute Idee ist, zumal  gerade ein neuer Krieg mit einem frischen Kader junger Männer und Frauen  tobt, die ebenfalls für die Schlacht gepuscht werden; ob das emotional  so unmittelbare (mediumlose) Ausdrucksmittel Film einfach nicht  in der Lage ist, solche abgewogenen und vorsichtigen Überlegungen  umzusetzen.
Und dennoch – zum Teufel mit solchen moralischen  Warnungen – hat sich ein neues Team von Filmemachern genau dieser  Herausforderung angenommen. Als der seinerzeit noch drohende Krieg  richtig ausbrach, beauftragten die Produzenten Douglas Wick (Gladiator)  und Lucy Fisher den Drehbuchautor – und Vietnam-Veteranen – Bill  Broyles Jr. (Apollo 13, Cast Away) sowie den englischen  Bühnenregisseur Sam Mendes (American Beauty und Road to  Perdition und so weiter), Swoffords zutiefst bedrückende Vision auf  die Leinwand zu übertragen. Nun, da die Filmarbeiten abgeschlossen sind  und man schon mitten in der Nachproduktion ist (der Film kommt am 5.  Januar in die deutschen Kinos), hat das Team beschlossen, die  Herausforderung frontal anzunehmen und die Szene, in der sich junge  Marines kurz vor ihrem Kampfeinsatz in eine lustvolle Raserei versetzen,  indem sie sich jenen Walkürenangriff ansehen, gleich an den Anfang des  Films zu setzen – gewissermaßen als Dreh- und Angelpunkt ihres Werks. 
Das  Ergebnis ist eine der berührendsten und verstörendsten Szenen der  jüngeren Filmgeschichte, in nicht geringem Maße auch dank der  aufwendigen Arbeit des Cutters, des legendären Walter Murch (The  Conversation, die Der-Pate-Filme, Die unerträgliche  Leichtigkeit des Seins, Der englische Patient), der sich mit der  aufreibenden Aufgabe abquälen mußte, eine Szene, an der er nahezu  dreißig Jahre zuvor als entscheidendes Mitglied des damaligen Apocalypse-Now-Teams  monatelang gesessen hatte, immer wieder neu zu bearbeiten, dieses Mal  jedoch in einem völlig neuen und noch verstörenderen Licht.
„Manchmal  habe ich das Gefühl, in meiner eigenen Escher-Zeichnung zu sein“,  räumte Murch mir gegenüber eines Abends ein. Eine Hand zeichnet die  jeweils andere sozusagen ins Leben: Seine damaligen Entscheidungen  prägten seine jetzigen und umgekehrt.
Ich hatte für Murchs Notlage  ein gewisses Verständnis. Schließlich schrieb ich für eine Zeitschrift,  die in der Vorbereitungsphase des gegenwärtigen Krieg selbst einen  Auszug aus Swoffords Buch gebracht hatte in der Hoffnung, er könne dazu  beitragen, die Leute zur Vernunft zu bringen (ein Unterfangen, das sich  ebenfalls nicht als allzu wirkungsvoll erwiesen hatte). Jedenfalls  schaute ich immer wieder bei Murch in den Nachproduktionsstudios im  Manhattaner West Village vorbei (passenderweise auf halbem Weg zwischen  seiner eigentlichen Wirkungsstätte in Nordkalifornien und Mendes’  Wohnsitz in London). Groß, schmal, gebeugt, nicht aus der Ruhe zu  bringen (wie Zen-zentriert) saß Murch vor seinem computerisierten  Schneidetisch und scrollte durch die Originalsequenz aus Apocalypse  Now, die auf einen kleinen Monitor darüber gelegt war, dann durch  Mendes’ reiche Fundgrube von Gegenschüssen, die auf einem anderen  Monitor liefen, und verschachtelte die beiden für die spätere Projektion  akribisch auf dem größeren Plasmabildschirm an der Seite. 
Die  Originalszene: Duvall in der Rolle Colonel Bill Kilgores, des Lieblings  der Ersten Luftkavallerie, ungeheuer flott, draufgängerisch, forsch,  ohne jedes Interesse an seinem neuen Auftrag (das Schnellboot mit  Willard, gespielt von Martin Sheen, zu der vietcong-verseuchten Mündung  des Flusses zu bringen, den dieser dann im Zuge seiner conradesken  Mission hinauffahren mußte) – oder vielmehr so lange ohne jedes  Interesse, bis er erfährt, daß sich in Sheens Trupp ein junger,  ausgeflippter Navy-Mann befindet, der zufällig ein  südkalifornischer Supersurfer ist, und der fragliche Deltastrand auch  noch die besten Wellen der ganzen vietnamesischen Küste zu bieten hat.  Kilgore ist ein echter Aficionado, und als einer seiner  jüngeren Offiziere Bedenken gegen einen Angriff auf eine gut verteidigte  Vietcong-Festung äußert, kommt eine denkwürdige Reaktion: Warum sie  sich um irgendwelche Vietcong-Verteidiger kümmern sollten? „Charlie  surft nicht.“ Am nächsten Morgen, seine Heli-Flotte ist schon  startbereit, läßt Kilgore einen seiner Jungs das traditionelle  Trompetensignal schmettern, wie man es aus jedem Kavalleriewestern  kennt. Die Helikopter ziehen los, und wenige Meilen vor dem Dorf  befiehlt Kilgore einem anderen seiner Männer, die Lautsprecher für die  psychologische Kriegsführung anzuwerfen, aus denen Wagners  „Walkürenritt“ erschallen wird. „Dabei scheißen sich die  Schlitzaugen in die Hosen“, brüllt Kilgore zur Erklärung seinem  neuen Surferkumpel zu. „Meine Jungs sind begeistert.“
(…)
 
   
   
   
  