Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International, de Middel
Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 124, Frühjahr 2019

Arkadianismus

Brexit – Einstimmen in ein Hurra für das fabelhafte Großbritannien

   (…)

Und doch stimmt es, daß Teile der Briten sich selbst zum Narren halten, wenn sie meinen, die EU zu verlassen bedeute, wieder in den Kampf zu ziehen und den Feind zu besiegen – jetzt die EU der 27 –, genau wie es so viele 1940 auf den Kaimaninseln taten.
   Sie sind wie bedröhnt von einer Masse dümmlicher britischer Filme und Fernsehserien. Was sie sich wirklich zurückwünschen, ist die „Schlacht um Großbritannien“.
Der Historiker David Starkey bekam Schnappatmung und stieß hervor, der Rückzug ähnele der Reformation. Boris Johnson und seine Kerntruppen glauben, wir seien ein Plantagenet-Staat. In Wirklichkeit geht es bei uns eher zu wie in einem fünften Band von Gullivers Reisen.
   Tiefer als die Perversität dieser Schiffeversenker in Westminster reicht, was ich nur als nationale geistige Verwirrung beschreiben kann. Sie verstärken sich wechselseitig in ihrer Wirkung.
   Es handelt sich – und das im 21. Jahrhundert! – um den absurden Glauben, daß wir wichtiger waren und sind, daß wir einfach besser sind als irgendeine andere Nation. Das ist die Losung des imperialistischen Lagers, das geschwollene Entzücken eingefleischter Nationalisten, das Einstimmen in ein Hurra für das fabelhafte Großbritannien, voll fiebrigen Verlangens, frei zu sein von strafenden, lauernden Institutionen, sich über diese zu erheben, ein dringend gebrauchter Gegner: die Europäische Union, die unsere „Unabhängigkeit“ behindert – von – good God! – Brüssel aus …

   (…)

   Das Problem mit den Engländern, wie der Cambridge-Emeritus und Goethe-Biograph Nicholas Boyle geschrieben hat, ist: „England will nicht einfach irgendein Mitglied des Teams sein. (…) Diejenigen, die beim Referendum für den Austritt gestimmt haben, wurden während der Kampagne ja nicht gebeten zu erklären, welche konkrete, rational durchdachte, praktisch umsetzbare wirtschaftliche und politische Alternative zur EU-Mitgliedschaft sie denn bevorzugen würden – das ist selbsterklärend, denn es gab diese Alternative vor dem Referendum nicht, und seither ist auch keine entwickelt worden. Sie wurden einfach nur gebeten, ihrem Gefühl zum Thema Mitgliedschaft Ausdruck zu verleihen, und die Engländer, wohlgemerkt nicht die Iren und die Schotten – hatten es so eilig mit dem Ausdrücken von Gefühlen, daß sie die Vernunft und alles Praktische in den Wind schlugen.“
   In einem brillant argumentierenden und im Ton beunruhigend eindringlich geschriebenen Essay traf Boyle ins Schwarze. „Wie das Referendum zeigte, ist Europhobie eine spezifisch englische Psychose, das narzisstische Ergebnis einer spezifisch englischen Identitätskrise (...). Und weil England unfähig gewesen ist, den Verlust seines Imperiums anzuerkennen, hat es auch nicht vermocht, das Ende der englischen Sonderstellung zu akzeptieren, das Ende jener Charakterlosigkeit, welche die Engländer als Weltherrscher so genossen (…) Das Trauma der verlorenen Außergewöhnlichkeit, das psychische Erbe des Empire hängt den Engländern bis heute nach, und zwar in Gestalt der Illusion, daß ihr Land eine neue globale Rolle einnehmen muß. Die Psychose, der willentliche Triumph der Einbildung über die Realität ist, wie das Ergebnis des Referendums enthüllte, noch sehr zerstörerisch wirksam in der Entschlossenheit, mit der die Engländer auf ihrem alten Ausnahme-Status bestehen. Für die Engländer besetzt das Vereinigte Königreich jenen psychischen Raum, den einst das Empire einnahm: Es ist der letzte Garant ihrer Charakterlosigkeit.“
   Der Gelehrte hat das Fundament für mein Thema gelegt. Ein primitives Verlangen nach Rückkehr in die Höhle, einen Ort größerer Sicherheit. Die Engländer sind Arkadier. Sie glauben an ein Land der Einfachheit, von idyllischer Ordentlichkeit, stilles Grasen in heiligem Nebel und blättrigem Grün, frei von Fremden und Eindringlingen, entschieden frei von Komplexität. Es ist mit überwältigender Natürlichkeit der beste Platz, an dem man sein kann, weil natürlich sie die besten sind.
   Hier müssen sie sich keine Gedanken über komische Wörter oder seltsames Essen machen; keine Spaghettifresser, keine Kanaker, keine Queers oder Kommunisten, keine Frogs, Itos, Krauts oder Polaks und keine Yids. Wenn sie diese perfekte Oase von vermeintlichen Eindringlingen freihalten wollen, müssen sie das Wunder von 1940 oder der gesamten Periode des Empire oder vielleicht präziser von 1415 noch einmal vollbringen. Sie können sich bewaffnen, losgehen und Johnny Ausländer verprügeln oder rauswerfen bis ans andere Ufer, weil das England erst zu England macht.
   Arcadianism, die britische Variante einer Sehnsucht nach idyllischem Gemeinwesen, spielt Versionen einer imaginierten Zukunft durch. Phantasien spielen eine gleichsam epische Rolle in diesem seismischen Auszug aus Europa. Damit kommen wir zu der ärgerlichsten Redewendung in Englands aberwitziger Schilderung der Europäischen Union: die Selbstsicherheit auf seiten derer, die davon faseln, daß wir unseren Weg allein gehen können.
   Wir verlassen den erfolgreichsten Handelsblock der Welt, tauchen ab aus seiner vorteilhaften Zollunion und verschwinden von seinem stabilen Binnenmarkt, und warten stattdessen darauf, daß Indien, Neuseeland und die Türkei bei uns Schlange stehen, um nach den lockeren Regeln der Welthandelsorganisation mit uns Handel zu treiben. Warum nur sollten sie überhaupt mit uns handeln, wenn ihnen doch in der EU ein breiteres Angebot, vielfältigere und produktivere Märkte offenstehen, als die scheinbar neu gestartete, zeptergeschmückte Insel ihnen anbieten kann?
   Was hat denn England allein zu bieten? Popmusik, ganz gutes Fernsehen, die London Fashion Week, ein Bootsrennen, aristokratische Wohnstätten und Schlösser, Harry-Potter-Schauplätze, vier separatistische Länder und, natürlich, das berüchtigte lauwarme Ale, das sich im Unterschied zu Heineken, Cruzcampo oder Peroni nicht zum Export eignet.
   Ich gebe außerdem zu, daß es neben all diesen hübschen Zerstreuungen eine Erfindung von Bedeutung gibt, die England für sich verbuchen darf – den Roman. Aber unsere neue Rolle in der Welt, von der Theresa May faselt, worin soll die denn bitte bestehen? Warum um Himmels willen würden wir überhaupt eine neue Rolle spielen wollen? Was denkt sie denn, wer wir sind? Und wer bitte, denkt sie, ist sie?
   Wir haben eine globale Rolle, als ein wichtiger und halbwegs wohlhabender Teilnehmer eines sechzig Jahre alten Projekts, das für Frieden steht und uns Wohlstand gebracht hat.
   Es ist ein Projekt, für das Europa fast bis zur Selbstaufgabe gekämpft hat, und das sich England vor 46 Jahren in weiser Erkenntnis entschloß zu verstärken und zu schmücken. Aber die Austrittsheinis ziehen die Höhle vor. Sie wollen Findlinge, Wälder, Wiesen und Schafe.
   Da brechen sie dann hervor, aus ihren Wäldern, speerbewaffnet, in der Hoffnung, wie einst wieder die Welt zu beherrschen.

   (…)

Et in arcadia ego? Ich werde auf keinen Fall Teil des hier beschriebenen künstlich-nationalen Projekts sein. Das muß mal klar sein. Des Arkadianismus hingegen bekenne auch ich mich schuldig. Wer es als Leser bis hierhin geschafft hat, folge mir noch zurück zu einem Tag im Juni 2015 in den Niederlanden. Ich reiste mit dem Eurostar von London nach Brüssel und stieg dann in den Thalys nach Amsterdam, abgesehen von den vernünftigerweise vorhandenen Paßkabinen in St. Pancras ohne Ausweiskontrolle. Die Tories hatten gerade in Westminster die absolute Mehrheit gewonnen und regierten zum ersten Mal seit 1992 allein. Der European Union Referendum Act, der einen Volksentscheid gesetzlich verankerte, war gerade im Unterhaus durchgegangen.
   Ich hatte das zur Kenntnis genommen, aber nicht mehr. Keinesfalls erinnere ich, auf dem Weg in den Norden besonders besorgt gewesen zu sein. Ich hatte vor, in der Stadsschouwburg, einem Theater in Amsterdam, eine Inszenierung von Shakespeares erster Tetralogie zu sehen – also die drei Teile von Heinrich VI. und Richard III. Ich war voller Vorfreude. Wie herrlich, unnapoleonisch und paneuropäisch war es doch, mittelalterliche englische Geschichte auf Holländisch vorgetragen zu bekommen, mit Übertitelung. Nehmt das, UKIP-Bücklinge.
   Ich liebe diesen Teil der Erde. 300 Kilometer südlich, nur eine Fahrt im Hochgeschwindigkeitszug entfernt liegt Paris, 200 Kilometer nach Osten Köln. Als der Zug in Brüssel-Mitte einfuhr, sah ich die Häuser aus roten Ziegelsteinen, die großen Glasfronten der Büros, die Cafés-Brasseries und den etwas erhaben über der Stadt thronenden, von einer Kuppel gekrönten Justizpalast. Nicht Paris, nicht Frankreich. Belgien, eine demokratische konstitutionelle Monarchie wie Großbritannien.
   Wenn man in Brüssel-Mitte umsteigt und dann gen Norden fährt, gelangt man in ein Territorium von Franzosen und Flamen. Hier herrschen ein fortgeschrittener Säkularismus und exemplarischer Liberalismus, eine sehr gegenwärtige Mischung von Nationalitäten und Communities, von friedlich nebeneinander lebenden Protestanten und Katholiken, ein Gebiet früherer Kleinreiche, Herzogtümer, eine Gegend, in der gekämpft und disputiert wurde, voller Erfindungsreichtum, Kunst und Literatur. Fünfzig Kilometer westlich stehen die Türme und fließen die Gewässer Gents, die ein Jan van Eyck malte. Antwerpens großer Flußhafen mit seinen Diamanten, Händlern und Zunfthäusern der Kaufmannschaft liegt sechzig Kilometer nördlich an derselben Thalys-Strecke. Hier wurde Anthony van Dyck geboren, hier lebte Peter Paul Rubens. Überall erheben sich gotische Turmspitzen. Erreicht man die Niederlande, wiederum eine demokratische konstitutionelle Monarchie, liegt da Breda mit seinen Schlössern und Kirchen, einst das Exil des späteren englischen Königs Charles II., in neuerer Zeit der Schauplatz von Kongressen und Vertragsabschlüssen zwischen England und seinen Nachbarn. Rotterdam und Delft, die Stadt Vermeers und van de Vennes, folgen. In den letzten zwanzig Minuten der Reise, bis der Zug in den Amsterdamer Hauptbahnhof einfährt, passiert man einen großen Platz mit Brücken und Kirchen, Bootsschleusen und Stadthäusern, über dem sich ein weiter Himmel spannt.
   Diese Welt, ein Nordeuropa voller maritimer großartiger städtischer Ensembles, ist meine Welt. So dachte ich, denn es war doch lange Zeit so einfach gewesen, sie aus London, Paris oder Berlin zu erreichen. Die moderne Infrastruktur hat uns physisch miteinander verbunden, England, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland, Mittel- und Osteuropa, Skandinavien. Es ist die EU, die uns diese ungehinderte Freiheit schenkt. Großbritannien will das zerstören.

   (…)

 

Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024