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Cover Lettre International, Stanislas Guigui
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Inhaltsverzeichnis

LI 105, Sommer 2014

Die Eleganz der Literati

Individualität und Ästhetik in der klassischen Kultur Chinas

(…)

Die Literati-Idee beschränkt sich nicht auf Rhetorik, sondern fordert Handeln. Leben und Idee müssen übereinstimmen. Ist die Idee in Gefahr, ruiniert oder zerstört zu werden, müssen die Literati sich für ihre Bewahrung aufopfern. Die Herrschaftsarchitektur entspricht einem System konzentrischer Kreise der Idee vom Kaiser abwärts bis zu den niedrigsten Schichten der Gesellschaft. Das gedankliche Zentrum der Literati-Tradition ist xiu shen, der Aufbau des eigenen Selbst mittels einer Art spiritueller Meditation, durch Übung und langsames Wachsen. Hinzu kommt qi jia, das gute Management der eigenen Familie, wobei das ganze Land als eine größere Version der Familie verstanden wird. Die Familienstruktur mit Vater und Sohn, Ehemann und Ehefrau stellt eine kleinere Version der Gesellschaft dar. Hinzu kommt zhi guo, das bedeutet: „Regiere das Land.“ Angefangen von deiner eigenen Person über die Familie hin zum Staat. Und ping tianxia, was bedeutet: „Vereinige das Universum.“ Wenn du dir all diese Kreise von dir selbst zum Universum hin zu eigen machen kannst, dann kann die Gesellschaft in Harmonie gedeihen. Das eigentliche Zentrum dabei ist das geistige Niveau, die spirituelle Individualität. Der Mensch, der in die Machtsphäre eintritt, begegnet einer noch komplexeren Situation, denn hier ist es leicht, korrumpiert zu werden. Du versuchst, das Machtspiel zu verändern, aber das Machtspiel verändert auch dich, das haben 2 000 Jahre Herrschaftspraxis erwiesen.

Das Prüfungssystem

Das vielleicht bedeutendste Ereignis der chinesischen Geschichte der letzten 2 000 Jahre war die Einführung des kaiserlichen Prüfungssystems vor etwa 1 400 Jahren durch die Sui-Dynastie. Warum? Weil dieses System zum ersten Mal das Kriterium der familiären Abstammung außer Kraft setzte. Es spielt keine Rolle mehr, aus welcher Familie du kommst. Dieses Prüfungssystem zerstörte die aristokratische Abstammungstradition innerhalb der zentralen Machtsphäre. Blutsbande als Zugangskriterium wurden eliminiert. Hiermit konnte sich ein höchst demokratisches System durchsetzen, das auf nichts anderem als der Bildung und der ureigensten Fähigkeit der Kandidaten beruhte, die Prüfung zu bestehen. Das Herz der Prüfung bestand im Schreiben eines Essays. Die Antwort auf die Prüfungsfrage stand eigentlich fest. In diesem autokratischen System hatte man seine eigenen Kenntnisse zu demonstrieren und eigene Wege zu finden, Land und Herrscher zu dienen. Vorausgesetzt war dabei, daß der Herrscher ein guter war. Dies entsprach Konfuzius’ Idee. Doch das reale Leben steckte voller Krisen und Probleme. Wie fand man einen Weg, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren und gleichzeitig Konfuzius’ Idee der Arbeit an einer idealen Gesellschaft zu verfolgen? Es war eine offene Frage, an die man völlig verschieden heranging. Die Idee mußte unter Beweis gestellt werden. Ausgangspunkt und höchstes Ziel der Menschen waren vorherbestimmt, aber der Weg dazwischen war offen und konnte auf sehr verschiedene Weise beschritten werden. Die Prüfung bestand aus einem einzigen Thema, das mit einer Frage aufgeworfen wurde, die vom Herrscher selbst und seinen nächsten Ratgebern formuliert worden war. Auf der höchsten Ebene gab es nur eine Prüfung pro Jahr. Grundsätzlich fanden die Prüfungen auf verschiedenen hierarchischen Ebenen statt. Die erste Ebene war die Bezirksebene; Kandidaten, die diese Prüfungsebene erfolgreich bestanden hatten, durften auf die Provinzebene. Hier kamen die Fragen bereits aus der Hauptstadt. Und jene, die diese Prüfungen auf Provinzebene erfolgreich absolviert hatten, wurden für die Prüfung in der Hauptstadt zugelassen. Hier entschied der Kaiser höchstpersönlich über die Vergabe der ersten drei Preise. Dieses System unterlag strenger Kontrolle. Die Namen der Kandidaten wurden dabei unsichtbar gemacht, die Texte anonymisiert. Niemand wußte, wer welchen Essay geschrieben hatte. Die Verantwortlichen für dieses Prüfungssystem lebten gefährlich. Wenn Fälle von Korruption bekannt wurden, beispielsweise wenn jemand gegen Bestechung im Vorfeld die Themen an Teilnehmer verraten hatte, war er des Todes und wurde ohne Diskussion umgebracht. Das Prüfungssystem war das Rückgrat des gesamten Gesellschaftskörpers. Wäre dieses System korrumpiert worden, wäre die gesamte Staatsstruktur kollabiert. Alles drehte sich um die Antwort auf die eine Frage, und das Schreiben des Essays war der einzige Prüfungsakt. Alle relevanten Aspekte wurden mittels dieses Textes beurteilt: Wie stark ist dein Wille? Wie machtvoll deine Vorstellungskraft? Wie wertvoll ist dein Ausdrucksvermögen? Wie schön deine Kalligraphie der Zeichen? Wie eindrucksvoll dein Stil? Sehr oft wurde zuerst auf Kalligraphie und den ästhetischen Aspekt geschaut – daraus ließ sich schon unmittelbar die Qualität der dahinter stehenden Persönlichkeit ableiten.

Schon Konfuzius bezeichnete Poesie durch drei Zeichen: shi yan zhi – „Poesie drückt den eigenen Willen aus.“  Die Art des Schreibens läßt die gesamte Person und ihre Fähigkeiten durch diesen einzigen Text erkennbar werden.

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Auf dem linguistischen Carakter der Zeichen beruhend bedeutete ein Gedicht drei Gedichte zugleich: Eines in Form (visueller) Malerei; eines in Form (komponierter) Musik; eines in Form (philosophischen) Denkens.

Innere Landschaft

Ein Gedicht bringt die innere Landschaft zum Ausdruck, ganz wie die Malerei. Die Malerei war niemals realistisch, und es war fast unmöglich, das äußere Vorbild oder Objekt – wie etwa eine Landschaft – im Gemälde wiederzuerkennen. Die innere Landschaft sollte gemalt werden. Es brauchte unendlich viel Übung, um schließlich die eigenen Gefühle, die inneren Kämpfe, die Empfindungen, die spirituelle Landschaft malen zu können. Die Malerei der Literati entstand während der Yuan-Dynastie (1270 bis 1368 n. Chr.), welche die Song-Dynastie ablöste, als Marco Polo in China war. Es war eine mongolische Dynastie, die China eroberte und das Prüfungssystem zeitweilig außer Kraft setzte, da die Mongolen die klassische chinesische Sprache nicht beherrschten und sich weigerten, sie zu erlernen. Dies zwang die Literati, sich nach Hause zurückzuziehen, aufs Land, denn ihr Weg in die Regierung mittels der Prüfungen war blockiert. Jetzt huldigten sie nur noch dem Taoismus und dem Buddhismus. Nun entstand wen ren, der wichtigste Begriff der Literati-Kultur, die Begriffe wen ren shi (Literati-Poesie) und wen ren hua (Literati-Poesie wie auch Literati-Malerei) kamen auf. Sie bezeichneten eine eher inoffizielle Kultur (wen jen).

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Zeichen und Töne

Einfachheit und Leere waren wichtig. Nie wurde eine Leinwand oder ein Papier vollständig bemalt. Maler ließen immer einen großen Bereich leer. In der Kalligraphie behandelten sie weiße Flächen als bedeutenden Teil des kalligraphischen Werks. Das Weiße war genauso bedeutend wie die Schwärze, die Tinte. Wenn es einen großen weißen Raum auf dem Papier gab, meinte dies nicht Unvollendetheit. „Distanz“ war für die Literati-Malerei ein wichtiger Begriff: shenyuan (tiefe Distanz); pingyuan (flache Distanz); gaoyuan (hohe Distanz) Die Vollendung brauchte leeren Raum, um die Imagination des Betrachters anzuregen.

Schönheit und Stil beruhen dabei auf spirituellem Verständnis. Äußere Schönheit entwickelt sich aus innerer Schönheit. Malerei, Gartenkunst und Poesie bringen innere Schönheit durch elegante Form zum Ausdruck. Die Poesie beruht auf der linguistischen Natur des chinesischen Zeichensystems. Zwei Linien spiegeln einander visuell, ein Wort in der ersten Zeile wird durch ein Wort in der zweiten Zeile gespiegelt, eine Farbe spiegelt eine andere Farbe, eine Zahl spiegelt eine Zahl. Wenn man ein solches Gedicht visuell liest, findet man immer ein Echo des Raums. Die poetische Sprache ist arrangiert wie Elemente eines Gartens. Die musikalischen Tonsysteme wurden vor mehr als tausend Jahren mit Hilfe des importierten Buddhismus entwickelt. Als die Bücher der indischen Buddhisten ins Chinesische übersetzt wurden, lernten die Chinesen auch etwas über die Phonologie des indischen Sanskrits. Sie konnten die Töne und Klänge dieser Sprache studieren. Dieser Einfluß Indiens in China war äußerst stark und führte schließlich dazu, das Wissen vom chinesischen Tonsystem zur Grundlage der poetischen Formgesetze zu machen. Der Ton eines jeden Zeichens in der poetischen Form ist durch die Tongesetze festgelegt, um eine schöne Sprachmelodie zu erzeugen – ungeachtet der Schönheit der Zeichen, die man für das Gedicht auswählt. Wenn ein Gedicht an einem bestimmten Platz den falschen Ton enthält, dann scheitert man am Tongesetz und wird bei Wettbewerben disqualifiziert. Die Chinesen haben mehr als 2 000 Jahre gebraucht, um ihr Verständnis der musikalischen Natur der chinesischen Zeichen zu entwickeln; die exquisitesten klassischen Formen bildeten sich während der Tang-Dynastie heraus, was erklärt, warum so viele große Dichter in jener Zeit in Erscheinung traten. Es war nicht so, daß sich plötzlich alle großen Talente unter dem chinesischen Himmel versammelten. Vielmehr trat die Sprache in ihre Reifezeit ein, was der Poesie zu ihren besten Ausdrucksformen verhalf. Wir müssen der indischen Kultur dafür dankbar sein und jenen Chinesen, die nach Indien reisten, um dort Sanskrit zu lernen.

Nun zur Musik: Das typischste klassische chinesische Instrument ist die guqin, ein Stück Holz, auf dessen Oberfläche sieben Saiten angebracht sind. Das Spielen dieses Instruments selbst hat nichts zu tun mit dem inneren Empfinden von Musik. Die Töne berühren einen fast wie bei der Tintenmalerei: Ein Tropfen Tinte wird auf dem unteren Teil des Papiers appliziert, ein anderer Tropfen auf dem oberen Teil, und mit wenigen Spritzern Tinte erschafft man ein Arrangement des gesamten Raums. Ähnlich ist es bei dieser Musik: ein tiefer Ton, dann ein zweiter, hoher Ton. Dies allein erschafft aus verschiedenen Tonpunkten eine Art metaphysischen Raum, den man nicht mit einer linearen Melodie zustande bringen kann, aber mit verschiedenen Tonpunkten. Das geschieht mit großer Schlichtheit. Zwischen den Tonpunkten läßt man große Distanzen. Man reduziert die Klangfarben und Ausdrucksmittel auf extreme Weise, aber dadurch erlangt die spirituelle Imagination ein Maximum an Raum und Möglichkeiten.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten die Menschen, daß die Dinge leicht geändert werden und Neues einfach importiert werden könnte. Es gab eine große technische Kluft zwischen Europa und China. Zwar hatten die Chinesen viele technische Entdeckungen gemacht und etwa Studien zur Agrikultur durchgeführt, aber diese Techniken führten nicht zu moderner Wissenschaft. In der chinesischen Medizin zum Beispiel findet man ein weitgehendes Verständnis des Körpers und seines Zirkulationssystems, das auf der Basis einer unglaublich großen Anzahl von Erfahrungen gesammelt wurde, und dieses Verständnis ist auch formuliert worden. Niemals jedoch hat man Experimente durchgeführt, um diese Erfahrungen nach westlichem Vorbild wissenschaftlich zu fundieren. Die Praxis hat erwiesen, daß diese Techniken funktionieren, damit gab man sich zufrieden. Die Überlegenheit der westlichen Waffen hob diesen Mangel an wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftsbasierter Technik ins Bewußtsein.

Die Chinesen waren davon überzeugt, daß die Überlegenheit ihrer Kultur sich in der historischen Wirklichkeit erweisen würde, und wenn sie sich selbst mit ihren Nachbarn, den Koreanern, Vietnamesen und Japanern, verglichen, konnten sie stolz sein auf die Kontinuität ihrer eigenen Geschichte. Ihr Riesenreich hatte schließlich überdauert. Andere Reiche waren aufgestiegen und wieder untergegangen. Aber die Konfrontation mit dem Westen war ein Schock. Sie zerstörte alle Formen der klassischen Eleganz, denn Eleganz wurzelte im klassischen Verständnis dessen, was eine gute Persönlichkeit ausmacht. Eine solche war immer eine Persönlichkeit, die dem Staat und dem Kaiser gegenüber loyal war. Die Staatsstruktur verlieh einem seinen Wert als Individuum. Nachdem nun das Staatssystem völlig zerstört war, fühlten sich die Menschen verloren und wußten nicht mehr, wo der neue Platz des Individuums angesiedelt sein könnte. Die tiefste Ebene der Krise war mit dem Zeitbegriff verbunden. In der klassischen chinesischen Kultur hatte Konfuzius das Modell der chinesischen Gesellschaft definiert, in ferner Vergangenheit, und die Geschichte, die geschriebene Version der Vergangenheit, hatte deren Richtigkeit immer bestätigt. Doch nun wurde die Zukunft als eine völlig neue Richtung eingeführt: Der europäische Evolutionismus strebte nichts anderes als das Neue und die Zukunft an. Wer den Platz der Zukunft erobern könnte, würde die Schlacht um die Zeit gewinnen. Dies erklärt, warum der Kommunismus schließlich als Sieger aus dem Wettbewerb der verschiedenen aus dem Westen importierten Ideen hervorging: Er versprach die Zukunft. Diese völlige Umkehrung des Denkens wurde zur eigentlichen Ursache der chaotischen Ära des Denkens in China während des 20. Jahrhunderts und bis heute. Die westliche Überlegenheit zerstörte die Oberfläche der klassischen Form. Doch diese tiefe Erschütterung der Grundlagen der chinesischen Kultur eröffnete auch die Chance, sich einer eingehenden Selbstbetrachtung zu unterziehen und dabei der tieferen Wurzeln und Ursprünge der eigenen Kultur gewahr zu werden. Und dabei gilt es, sich daran zu erinnern, daß die Wurzel und der wirkliche Wert der Tradition in der Bedeutung wahrer Individualität zu finden ist, und in einem fixierten gedanklichen System, das der Macht zur Selbsterhaltung dient.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.