LI 74, Herbst 2006
Leckerei kalte Haut
Ein Volk vergiftet sich selbst - Nahrungsmittelsicherheit in ChinaElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
Textauszug
Was Essen und Trinken angeht, so besteht der größte Unterschied zwischen  dem Westen und China womöglich in den „Leckerbissen" hier und dem  „Hauptgericht" dort. Die westliche Gastronomie besteht in richtigen  Restaurants vornehmlich aus dem „Hauptgericht", in Schnellrestaurants  aus großen Standardportionen, während China eine jahrtausendealte  Tradition von „Leckerbissen" hat. Aus diesem Prozeß der Tradierung  erwuchs eine kulturelle Identifikation, weit bedeutsamer ist aber, daß  sich daraus in der Agrargesellschaft ein lebhafter Handel von hoher  Zuverlässigkeit entwickelt hat. Menschen, deren Beruf die Landwirtschaft  war, machten sich zu Ernte- und Festzeiten leckere Häppchen zurecht, um  sie allein oder gemeinsam mit Freunden und Verwandten zu genießen; mit  dem, was übrig war, wurde in den Nachbardörfern gehandelt - die Güte des  Essens war in der Regel ein Symbol für die Kunstfertigkeit der Ehefrau  und für das äußere Ansehen der Familie. Zu einem vollendeten Essen  gehörte auch die Qualität der Zutaten, was sich mit der Zeit in der  jeweiligen Gegend herumsprach - und so gab es eine Menge  wohlschmeckender Leckerbissen von ausgesuchter Qualität, die man ohne  Bedenken genießen konnte.
(...)
Das Gefühl, auf die  kleinen berühmten Leckerbissen und überhaupt auf das, was man ißt,  vertrauen und mit solchen besonderen Leckereien sein Image aufpolieren  zu können, hat mehr zu bedeuten als das eigentliche „Essen". Aber heute  machen diese Häppchen, die es nun schon seit hundert Generationen gibt,  den Leuten Angst.
Nehmen wir die Mixpickles als Beispiel. Sie  sind eine regionale Delikatesse, von der die Menschen in Sichuan ihren  Stolz herleiten. Man muß nur ein bißchen vor die Tür gekommen sein, da  wird man fast niemanden finden, der diese zudem noch preiswerte  Köstlichkeit noch nicht probiert hat. Doch wenn man jetzt nach Sichuan  kommt, kann es geschehen, daß Freunde dich warnen: Ißt du etwa  Mixpickles?
Ein Teil der Firmen in Chengdu kocht die Mixpickles  mit DDVP (Dichlorvos) ein. Früher verging in keiner Familie Sichuans ein  Tag ohne Mixpickles, aber heute sagen selbst Chefs solcher Fabriken: „Wir  essen die Mixpickles, die wir produzieren, eigentlich nicht mehr, die  geben wir nur Leuten von außerhalb."
In einem heimlichen  Interview packte jemand aus: „Das wichtigste bei der Herstellung von  Mixpickles ist das Einlegen des Kohls. Mir fiel auf, daß das Salz, mit  dem die Mixpickles eingesalzen wurden, nicht nur weißer war als normales  Salz, auch waren die Salzkörner feiner. Also fragte ich: ,Wieso  ist das Salz so weiß?' Der Direktor antwortete: ,Das  ist Schmuggelware, die ist pro Tonne fünfzig Yuan billiger.' Später  habe ich im Hof der Fabrik die Salzsäcke liegen sehen, sie trugen als  Aufschriften ,Industriesalz' und ,Nicht zum  Verzehr geeignet'.
Arbeiter brachten mich in  einen weiteren Hof, in dem das Industriesalz sich in ordentlichen Haufen  türmte. Ich fragte: ,Benutzt ihr dieses Salz immer?' Ein  Arbeiter antwortete: ,Ja.' ,In anderen Fabriken auch?'  Der Arbeiter nickte. 
Ein paar Tage später besuchte  ich die gleiche Fabrik noch einmal, und mir fiel auf, daß am Rand der  Mixpickles-Becken sehr viele Insekten waren. Ich fragte nach dem Grund  dafür. Der Direktor gab mir zur Antwort: ,Beim Einsalzen kommen  die Insekten, dann tun wir ein Insektizid rein, davon verschwinden sie.'  Ein Arbeiter begann ein Insektizid über die Becken zu sprühen. Ich  fragte, was das für ein Mittel sei? Der Arbeiter antwortete: ,Speziell  gegen Insekten.' Dann fügte er hinzu, um die Insekten  loszuwerden, müsse man die Mixpickles, bevor sie die Fabrik verließen,  im Abstand von ein paar Tagen immer wieder spritzen. Und was war das für  ein Mittel? Arbeiter und Direktor sagten, sie wüßten es nicht. Da sich  auf den Flaschen, in denen das Mittel war, kein Etikett fand, füllte ich  ein wenig von der roten Flüssigkeit in eine Plastikflasche, versiegelte  sie und schickte sie zur Untersuchung an das chinesische  Nahrungskontrollzentrum für die Ein- und Ausfuhr von Lebensmitteln. Das  Untersuchungsergebnis zeigte: Das Mittel bestand zu 99 Prozent aus DDVP  ...
Darüber hinaus fand ich heraus, daß ein Drittel der  bei Stichproben untersuchten Mixpickles nicht den Bestimmungen des  Qualitätsüberwachungsbüros von Chengdu entsprach: Am 16. Juni 2004  veröffentlichte das Büro einen Bericht über stichprobenartige  Untersuchungen. Die Überschreitung der Grenzwerte für  Nahrungsmittelzusätze war relativ schwerwiegend. Es wurden siebzig  Produkte von 56 Firmen untersucht, innerhalb der staatlich festgelegten  Grenzen lagen nur 16 von ihnen, das sind nur 23 Prozent; 17 Produkte  überschritten die Grenzwerte. Bei der Stichprobe wurde festgestellt, daß  das Nettogewicht von neun Produkten und die Etikettierung von 48  Produkten nicht den Vorschriften entsprachen. Zur Zeit verlangt das  Qualitätssicherungsbüro von den negativ geprüften Produktionseinheiten  eine Korrektur ihrer Fehler."
„Drei Tage ohne Sauer, und  die Beine werden flauer" - das ist der Slogan der für ihre saure  Fischsuppe berühmten Restaurants in Guizhou. Doch in letzter Zeit sind  einige von ihnen in Verruf geraten; am 16. Juni 2006 wurden 215 Betriebe  von den zuständigen Stellen bis auf weiteres geschlossen, weil sie in  die eigentliche Suppe, in die Würze und dergleichen Lebensmittel Opiate  in verschiedenen Mengen untergemischt hatten. Nach einer Erklärung von  Zhang Xing, dem stellvertretenden Leiter des Antidrogenteams der Polizei  von Guizhou hat sein Team gemeinsam mit dem Krankheitskontrollzentrum  und dem Lebens- und Arzneimittelkontrollbüro eine spezielle Offensive  gegen den Mißbrauch von Opiaten in Restaurationsbetrieben gestartet.  Dabei sind 3 200 Gramm Mohnsamen und 1 700 Gramm Mohnkapseln  beschlagnahmt worden, und die zuständigen Stellen haben bei den 215  schweren Fällen eine vorläufige Schließung der Betriebe veranlaßt. Bei  36 eher leichten Fällen wurde eine warnende Belehrung erteilt. 
Es  heißt, viele auf Rind- und Lammfleisch spezialisierte Restaurants,  Frühstücksläden und Restaurantbetriebe für Lamm, Hund, scharfe Suppen  usw. hätten aus Profitgier und um Gäste zum Wiederkommen zu animieren  illegal Opiate untergemischt. Wei Tao, der stellvertretende Leiter des  Gesundheitskontrollzentrums der Provinz Guizhou, Abteilung  Lebensmittelprodukte, gab bekannt, daß die Suppen verschieden hohe Dosen  von Morphium beinhalteten, ein Teil davon sogar in relativ hoher  Konzentration. Er sagte, wenn Gäste über einen langen Zeitraum solche  Nahrungsmittel zu sich nähmen, könnten sie süchtig und abhängig werden;  in schlimmen Fällen könne das zu direktem Drogenkonsum führen.
Außerdem  kam in der letzten Zeit, ebenfalls in Guizhou, bei stichprobenartigen  Untersuchungen der youtiao, der beliebten salzigen  Ölgebäckstangen, durch Gesundheitsbehörden heraus: Dreißig untersuchte youtiao-Stände  und Gastronomiebetriebe überschritten mit ihren Produkten ausnahmslos  die staatlich festgesetzte Höchstgrenze an Aluminium, in einem Fall um  das Elffache. Der Grund dafür ist, daß in vielen Betrieben das Wissen um  die Lebensmittelsicherheit fehlt, weswegen bei der Produktion übermäßig  viel Alaunstein zugegeben wird.
Wie mir ein älterer  Restaurantzulieferer offenbarte, gibt es zur Zeit das Problem, daß in  Fischrestaurants das Öl immer wieder verwendet wird. Es ist an der  Tagesordnung, die ölige Sauce, die auf den Tischen übrigbleibt, über ein  Sieb in rostfreie Stahlbehälter zu gießen und am Abend das scharfe Öl  vom Wasser zu trennen. Um solches Öl wiederverwenden zu können, müsse  man bei der Zubereitung der Fische große Mengen von Chilipaste und  anderer Würze zugeben, um zu kaschieren, daß das Öl nicht mehr frisch  ist. So ist aus dem „in Öl fritierten Fisch" ein „in Speichel fritierter  Fisch" geworden.
Die „kalte Haut" ist eine berühmte Leckerei des  Distrikts Guanzhong in der Provinz Shanxi, die von alters her gerühmt  wird und vor allem bei Frauen beliebt ist. Durch die erfolgreichen  Auftritte verschiedener Komiker aus Shanxi eröffnete sich für diese  Leckerei ein landesweiter Markt. Angesichts der üblen Vorkommnisse  glaube ich, hat sich einigen, die diese Leckerei erfunden haben, der  Magen umgedreht: Es war in Peking, in einem Laden, in dem man die „kalte  Haut" schwarz herstellte, wo sie den Teig mit den Füßen kneteten und in  den fertigen Teig auch noch Urin und Spucke unterrührten.
Doch  am 18. Juni 2004 enthüllte ein siebzehnjähriger Arbeiter in den Medien,  wie bei der Schwarzfabrikation von „kalter Haut" im Pekinger  Chaoyang-Distrikt vorgegangen wurde. Der junge Arbeiter erzählte, daß  sie den Teig geknetet hätten, wie man bei der Wäsche große  Kleidungsstücke walkt; und wenn sie müde wurden, seien sie mit den Füßen  in die Teigbottiche gesprungen und hätten den Teig mit den Füßen  geknetet; wenn ein Stück Teig auf den Boden gefallen und schmutzig  geworden sei, sei es wieder in den Bottich zurückgeworfen worden; auch  habe man das Werkzeug nach Feierabend nie saubergemacht. Sie hätten sich  auch nicht die Hände gewaschen, wenn sie vom Klo kamen, und als der  Chef das bemerkte, habe er nur gelacht und gesagt: „Laßt das nur  keinen sehen!" Nachdem der Chef sie drei-, viermal beschimpft und  ihnen Lohn abgezogen habe, seien zwei, drei von den Arbeitern sauer  gewesen und hätten in den Teig gepinkelt, und zwei-, dreimal habe er  gesehen, wie jemand voller Wut in den großen Topf mit der gerade  kochenden „kalten Haut" gespuckt habe. Mit ihm, so erzählte der junge  Mann weiter, hätten noch ein gutes Dutzend Kinder dort gearbeitet, die  der Chef alle aus Shanxi angeworben habe. Das jüngste sei erst 14  gewesen, keines habe ein Gesundheitszeugnis gehabt, viele von ihnen  nicht einmal einen Ausweis.
Auch was am gleichen Tag über Tofu  herauskam, war nicht dazu angetan, optimistisch zu stimmen. Seit dem 1.  Juli 2003 war in Peking der Handel mit Tofu systematisiert und ein  Verbot für „nackten" Tofu ausgesprochen worden. Doch auf ein paar  Bauernmärkten in den Vorstädten wurde weiterhin „nackter", das heißt  unverpackter, Tofu ver-kauft, der den hygienischen Anforderungen nicht  entsprach. Gegenwärtig führen die Verkaufskanäle des „nackten" Tofu über  Bauernmärkte bis in die Kantinen und Küchen von Pensionen, Hotels,  Behörden und Schulen. Dieser Tofu ist billig, und die Lockerung der  Kontrollen hat dazu geführt, daß die Märkte für „nackten" Tofu wieder  fröhliche Urständ feiern. Gegenwärtig taucht auf den Bauernmärkten  vermehrt Tofu aus kleinen Fabriken oder aus schwarzer Herstellung auf,  nur daß der Handel stärker im verborgenen stattfindet. Dieser schwarze  Tofu wird oft schon verschoben, bevor die Gesetzeshüter morgens ihren  Dienst antreten, oder er wird direkt an die Haustür geliefert.
Wie  mir der Verantwortliche eines Tofu-Unternehmens offenbarte, verfolgte  man eines Tages eine Bande Schwarzhändler bis zum Markt an der  Achtmeilenbrücke um festzustellen, daß die normale Lieferzeit von fünf  Uhr auf zwei oder drei Uhr in der Frühe vorverlegt worden war. Nach dem  Bericht eines anderen Mitwissers investieren solche kleinen  Tofu-Fabriken, wenn es hoch kommt, 2 000 Yuan; sie besäßen nichts als  eine elektrische Mühle, einen verrotteten Benzinkanister und  Gummischläuche.
Zunächst werden Sojabohnen verschiedenster  Qualitäten in Stoffsäcke gefüllt, danach werden die unverlesenen  Sojabohnen samt Säcken im Wasser eingeweicht, das Ganze wird direkt  zermahlen, schließlich für ein paar Stunden auf einer Art Rost  trockengepreßt - und fertig ist der Tofu. Jener Eingeweihte sagte, so  ein Tofu habe einen Proteingehalt von etwa vier Prozent, bei Tofu aus  der regulären Produktion beliefe er sich aber auf siebzig bis achtzig  Prozent: „Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß der Verkauf  dieses Tofu dem Verkauf von Wasser gleichkommt."
Tofu ist  eine Delikatesse, die über Tausende von Jahren von unseren Vorfahren an  uns weitergegeben worden ist, und ich habe mir sagen lassen, daß einige  unserer Landsleute, die im Ausland leben, versuchen, Tofu als das  gesunde Nahrungsmittel des 21. Jahrhunderts zu verbreiten, wobei sie in  einigen Ländern auch erste Erfolge ernten. Welche Auswirkungen werden  diese Zustände bei uns auf die Entwicklung der internationalen Märkte  wohl haben?
Wir sind eigenhändig dabei, Delikatessen und berühmte  Spezialitäten mit einer jahrtausendealten Tradition zu verderben: von  Guanshengyuan-Mondkuchen mit vergammelter Füllung bis hin zu dem  DDVP-Schinken aus Jinhua, von tückischem Dörrfleisch aus Taiqiang bis  zum kranken Rindfleisch aus Pingyao, vom Schweinefleisch voller  „Magerfleischpulver" bis zu giftigen Sojasprossen - ununterbrochen  kommen uns derartige Nachrichten zu Ohren.
(...)
 
   
   
   
  