LI 73, Sommer 2006
Bluttrübe Zeiten
Die Antinomien der toleranten Vernunft und die Würde des AtheismusElementardaten
Textauszug
Die Aufregung und das Gefühl der Dringlichkeit, die durch die täglichen  Berichte über gewaltsame Demonstrationen gegen die Urheber der  Mohammed-Karikaturen hervorgerufen wurden, sind am Schwinden, und es ist  an der Zeit, zurückzublicken (und in die Zukunft zu schauen), um Bilanz  zu ziehen.
Es liegt eine unverkennbare Ironie darin, daß 99,99  Prozent der Abertausende, die sich beleidigt fühlten und demonstrierten,  die dänischen Karikaturen überhaupt nicht gesehen haben. Dies  konfrontiert uns mit einem weniger attraktiven Aspekt der  Globalisierung: Das „globale Informationsdorf“ ist die Voraussetzung  dafür, daß etwas, das in einer obskuren Tageszeitung in Dänemark  stattfand, derart gewaltsame Reaktionen in weit entfernten muslimischen  Ländern ausgelöst hat. Man hätte meinen können, Dänemark und Syrien (und  Pakistan und Ägypten und der Irak und der Libanon und Indonesien und …)  seien Nachbarländer. Diesen Sachverhalt verkennen diejenigen,  welche die Globalisierung lediglich als eine Chance begreifen, die ganze  Welt zu einem einheitlichen Kommunikationsraum werden zu lassen, der  die Menschheit zusammenführt. Da ein Nachbar, wie Freud schon vor langer  Zeit vermutete, primär ein Ding ist, ein traumatischer Eindringling,  jemand, dessen andersartige Lebensweise (oder vielmehr Art der jouissance,  die in seinen sozialen Praktiken und Ritualen zum Ausdruck kommt) uns  stört, unsere gewohnte Lebensweise durcheinanderbringt, kann allzu große  Nähe des Nachbarn auch zu aggressiven Reaktionen führen, weil man den  verstörenden Eindringling loswerden will. Um mit Peter Sloterdijk zu  sprechen: Mehr Kommunikation bedeutet zunächst vor allem mehr Konflikte.
Deshalb  muß die Haltung des „Einander-Verstehens“ um die Haltung des  „Einander-aus-dem-Weg-Gehens“ ergänzt werden, um die Wahrung eines  angemessenen Abstands, um einen neuen „Code der Diskretion“. Was  Kritiker gewöhnlich als Schwäche und Versagen der europäischen  Zivilisation denunzieren, nämlich die „Entfremdung des sozialen Lebens“,  macht es eben dieser europäischen Zivilisation leichter,  unterschiedliche Lebensweisen zu tolerieren. Entfremdung bedeutet  (auch), daß die Distanz dem gesellschaftlichen Gefüge selbst  eingeschrieben ist. Auch wenn ich in unmittelbarer Nachbarschaft zu  anderen Menschen lebe, nehme ich sie normalerweise nicht zur Kenntnis.  Es ist mir erlaubt, den anderen nicht zu nahe zu kommen; ich bewege mich  in einem sozialen Raum, in dem ich mit anderen unter Einhaltung  bestimmter äußerer „mechanischer“ Regeln interagiere, ohne ihre  „Innenwelt“ zu teilen. Vielleicht besteht die Lehre, die es hieraus zu  ziehen gilt, gerade darin, daß ein gewisses Maß an Entfremdung für die  friedliche Koexistenz von Lebensweisen unverzichtbar ist. Manchmal ist  Entfremdung nicht das Problem, sondern die Lösung. Die Globalisierung  wird nicht dann explosiv, wenn wir voneinander isoliert bleiben, sondern  wenn wir einander zu nahe kommen.
Aber wurden diese gewaltsamen  Reaktionen wirklich durch die kulturelle Kluft zwischen dem säkularen  Westen und den muslimischen Ländern ausgelöst, also durch die Tatsache,  daß islamische Fundamentalisten einen spielerisch-ironischen Umgang mit  Gott unerträglich finden? Einem westlichen Liberalen kommt beim Anblick  einer gewalttätigen Menge die erste Zeile von William Butler Yeats’ (im  Titel zitierten Gedicht) Das Zweite Kommen in den Sinn. Dort  heißt es weiter: „Die Besten zweifeln bloß, derweil das Pack / Voll  leidenschaftlichem Erleben ist.“ Ist dies nicht eine gute  Beschreibung der heutigen Spaltung zwischen anämischen Liberalen und  leidenschaftlichen Fundamentalisten? „Die Besten“ sind nicht mehr in der  Lage, sich vorbehaltlos für etwas einzusetzen, während „das Pack“ sich  für (rassistischen, religiösen, sexistischen) Fanatismus einsetzt.
Doch  sind die terroristischen Fundamentalisten, ob christliche oder  muslimische, wirklich Fundamentalisten? Ein Merkmal kennzeichnet alle  wahren Fundamentalisten, von tibetanischen Buddhisten bis zu den  Amischen in Nordamerika, nämlich der Mangel an Ressentiment und Neid,  ihre tiefe Gleichgültigkeit gegenüber der Lebensweise der Ungläubigen.  Warum sollten sie sich von Ungläubigen bedroht fühlen, warum sollten sie  sie beneiden, da wahre Fundamentalisten doch der Überzeugung sind, sie  hätten ihren Weg zur Wahrheit gefunden? Wenn ein Buddhist einem  westlichen Hedonisten begegnet, verurteilt er ihn keineswegs, sondern  stellt wohlmeinend fest, das Glücksstreben des Hedonisten bewirke genau  das Gegenteil dessen, was dieser erreichen möchte. Der Kontrast zu den  terroristischen Pseudofundamentalisten, die das sündige Leben der  Ungläubigen zutiefst beunruhigt, fesselt und fasziniert, könnte gar  nicht größer sein. Man spürt förmlich, daß ihr Kampf gegen den sündigen  Anderen im Grunde ein Kampf gegen ihre eigene Versuchung ist. Ein  sogenannter christlicher oder muslimischer „Fundamentalist“ ist eine  Schande für den wahren Fundamentalismus.
An diesem Punkt greift  Yeats’ Diagnose zu kurz. Denn in Wirklichkeit zeugt die  leidenschaftliche Intensität des Pöbels von einem Mangel an wahrer  Überzeugung. Der fundamentalistische islamische Terror gründet nicht  auf der Überzeugung der Terroristen, sie seien überlegen, oder auf  ihrem Wunsch, ihre kulturell-religiöse Identität gegen den Übergriff der  globalen Konsumzivilisation zu schützen. Das Problematische an  „Fundamentalisten“ ist nicht, daß wir der Meinung sind, sie seien uns  unterlegen, sondern daß sie sich selbst insgeheim minderwertig  vorkommen (so wie sich offenkundig Hitler gegenüber den Juden  minderwertig vorkam).
Genau deshalb machen sie unsere  gönnerhaften, „politisch korrekten“ Beteuerungen, wir fühlten uns ihnen  nicht überlegen, nur noch wütender und schüren ihr Ressentiment. Das  Problem ist nicht die kulturelle Differenz, also ihr Bemühen, ihre  Identität zu wahren, sondern im Gegenteil die Tatsache, daß die  Fundamentalisten schon so sind wie wir, daß sie unsere Standards  insgeheim bereits verinnerlicht haben und sich selbst an diesen  Standards messen. Paradoxerweise ist das, was den Fundamentalisten  wirklich fehlt, eine Prise wahrer „rassistischer“ Überzeugung von der  eigenen Überlegenheit.
(...)
Die rasende muslimische Masse  konfrontiert uns mit der Grenze der multikulturellen liberalen  Toleranz, ihrer Neigung, sich selbst die Schuld zu geben und sich zu  bemühen, den anderen zu „verstehen“. Der Andere ist hier ein realer anderer,  real in seinem Haß. Wir haben es hier mit dem Paradox der Toleranz in  seiner reinsten Form zu tun. Wie weit sollte die Toleranz gegenüber der  Intoleranz gehen? All die politisch korrekten schönen liberalen Formeln,  die Karikaturen seien zwar beleidigend und unsensibel gewesen, doch  gewaltsame Reaktionen darauf seien nicht hinnehmbar, oder: Freiheit gehe  auch mit Verantwortung einher und dürfe nicht mißbraucht werden,  demonstrieren hier ihre Beschränktheit. Denn was ist diese berühmte  „Freiheit mit Verantwortung“ anderes als eine neue Fassung des guten  alten Paradoxes der erzwungenen Wahl? Man darf eine freie Entscheidung  treffen, aber nur unter der Bedingung, daß man die richtige Entscheidung  trifft; man erhält die Freiheit, unter der Bedingung, daß man sie nicht  wirklich nutzt.
Wie also sollen wir diesen Teufelskreis des  endlosen Changierens zwischen Pro und Kontra durchbrechen, der die  tolerante Vernunft zum kräftezehrenden Stillstand bringt? Es gibt nur  eine Möglichkeit: die Ablehnung der Begriffe, mittels derer das Problem  formuliert wird. Wie Gilles Deleuze betont hat, gibt es nicht nur  richtige und falsche Lösungen für Probleme, sondern auch richtige und  falsche Probleme. Die Wahrnehmung des Problems als eines des rechten  Maßes zwischen der Achtung vor dem anderen und unserer eigenen  Ausdrucksfreiheit ist bereits eine Mystifizierung. Es verwundert daher  nicht, daß die beiden einander entgegengesetzten Pole bei näherem  Hinsehen ihre insgeheime Solidarität offenbaren. Die Sprache der Achtung  ist die Sprache der liberalen Toleranz: Achtung hat nur einen Sinn als  Achtung gegenüber denjenigen, mit denen ich nicht  übereinstimme; wenn die beleidigten Muslime also Achtung vor ihrer  Andersheit verlangen, dann akzeptieren sie den Rahmen des  liberal-toleranten Diskurses. Andererseits ist Blasphemie nicht nur eine  Haltung des Hasses, des Versuchs, den anderen da zu treffen, wo es ihm  am meisten weh tut, im Kern des Realen seines Glaubens. Sondern sie ist stricto  sensu ein religiöses Problem, das nur innerhalb der Faltungen  eines religiösen Raums funktioniert.
Was sich drohend am Horizont  abzeichnet, wenn wir diesen Weg nicht beschreiten, ist die  alptraumhafte Perspektive einer Gesellschaft, die durch einen perversen  Pakt zwischen religiösen Fundamentalisten und den politisch korrekten  Predigern der Toleranz und der Achtung vor den Glaubensüberzeugungen des  anderen reguliert wird: eine Gesellschaft, die gelähmt wird durch die  Sorge, den anderen nicht zu verletzen, ganz unabhängig davon, wie  grausam und abergläubisch dieser andere ist, und in der einzelne  Menschen sich regelmäßigen Ritualen widmen, bei denen sie zu „Zeugen“  ihrer eigene Opferrolle werden.
(...)
 
   
   
   
  