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Cover Lettre International 68, Ulay
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LI 68, Frühjahr 2005

Steinigung des Satans

Erlebnisse eines Ethnologen auf der Pilgerreise nach Mekka

Der Geruch nach Blut und Tierschweiß ist mir unvergeßlich. Er sitzt mir seit langem in der Nase. Eine nächtliche Brise brachte ihn am Vorabend mit aller Kraft zurück. Es war während der Rückfahrt von der Arafathochebene nach Mina, in jenem überfüllten Bus, der uns in Mekka zugeteilt worden war. Wie gewöhnlich bekamen wir auf den engen Sitzen kaum Luft. Männer, Frauen und Gepäck füllten die Sitze, die Gänge und den Platz vor den Türen. Ich hing an der Mittelstange, meinen Rucksack auf dem Rükken. Nach der mitternächtlichen Phase des Gebets und der Entspannung in Muzdalifa kämpfte jeder von uns, so gut es ging, gegen den Schlaf, die zuvor für die Steinigung gesammelten 49 Steinchen fest an sich gedrückt. Es waren nur vier oder fünf Kilometer bis zu unserem Lager in Mina, doch jedesmal, wenn unser Gefährt losfuhr, blieb es nach einigen Metern wieder stehen. Es gab einen derartigen Stau auf der Autobahn, daß wir die meiste Zeit standen.

Während wir langsam rollten, drang allmählich der Geruch der Schafe an meine Nase. Dann sah ich die ersten Unterstände. Der Geruch wurde immer intensiver, als am Fuße der Berge, deren gezackte Linie ich gerade erahnen konnte, die Ställe in unendlicher Folge vor meinen Augen vorüberzogen. Nur wenige Schritte von der Straße entfernt verbrachten die Tiere ihre letzte Nacht reglos unter mattem elektrischem Licht. Das Auge umfaßte eng geschlossene Reihen runder, weißlicher Formen, die sich in der Ferne verloren. Einige Schafe hoben den Kopf, als wir vorüberfuhren. Sie blickten uns mit jenem Ausdruck resignierter Unruhe an, den Haustiere annehmen, wenn sich Menschen nähern.

Ich erinnerte mich an Formen aus meiner Jugend. Sie schossen Knospen gleich von selbst hervor. Es waren Bilder aus den alten Zeiten, als die Sprößlinge mit unerhört stiller Geduld durch die rissige Bodenschicht stießen, die Gerste emporwuchs, die goldene Ernte von starken jungen Armen geschnitten wurde und die Tiere, trunken vom Leben, herumtollten. Der Blick eingepferchter Tiere war mir also durchaus vertraut. Ich hatte die Fluchtversuche und Panikattacken wieder vor Augen sowie den fragenden Blick der Tiere, die eingefangen worden waren, damit man ihnen in den Schlachthöfen, die ich damals manchmal besuchte, die Kehle durchschnitt. Ich hörte ihr herzzerreißendes Blöken, jenes Flehen, das mit dem Dampf und dem Geruch von heißem Blut zum Himmel emporstieg. Dieselben Szenen würden sich also morgen, am Tag der Opferung, wiederholen; Millionen von Lebewesen warteten darauf, getötet zu werden.

Die Unterstände in Mina sahen aus wie ein riesiges Tierkonzentrationslager: 2, 3, 4 oder noch mehr Millionen Köpfe. Eine Riesenmenge von Pilgern bereitete sich darauf vor, ihre Opferpflicht im Sinne des „Schlachtopfers“ zu erfüllen, das zu den Opfern in Form von Sühne und Almosen hinzutritt. Ich konnte mir noch so oft einreden, was uns von den Wild- und den Haustieren unterscheidet, ich konnte den Abstand noch so sehr vergrößern, indem ich an die gesichts- und sprachlosen Arten dachte, die in unseren Augen des Gefühlsausdrucks unfähig sind – die aus Blut, Kot und Schweiß gemischten Gerüche schnürten mir einmal mehr die Kehle zu. Wir hatten uns versammelt, um unsere Leben zu retten, und dieses Heil verlangte von uns, diese Tiere zu töten. Die Masse der Pilger, die nach dem „Verweilen“ auf der Arafathochebene, dem Gebet in Muzdalifa und der Steinigung in Mina den Gipfel der Entsagung erreicht hatte, machte sich daran, Millionen Leben zu beenden. Vielleicht habe ich, wenn ich ein Tier sehe, tatsächlich immer zuallererst eine Gattung vor Augen. Dennoch setzt jede Opferung einem Leben ein Ende, das genauso einzigartig ist wie unsere menschlichen Leben – ein Gewaltakt, ein Mord, um genau zu sein.

Der Anblick dieser Millionen Schafe mit kurzer Galgenfrist rief weitere Szenen in mir wach. Ich sah die in den Schlachthöfen gemarterten Tiere. Auch die jubelnd im Kreise der Familie vollzogenen Tötungen beim großen Opferfest. Dann spürte ich beinahe unmerklich den Schrecken, der sich meiner jedesmal bemächtigte, wenn ich das letzte Röcheln der Tiere vernahm. In einer dieser unerträglichen Visionen holte mich erneut das Vertraute ein. Seine Quelle war da, ich konnte sie sprudeln hören, aber sie entzog sich mir, je mehr ich mich näherte. Mein Vater opferte im Namen Gottes, im Namen von uns allen und zu unser aller Heil. Ich erinnerte mich, als Knabe, als Jüngling, an seine Hände, die den Tod gaben, in der Gewißheit des Bundes, des Befehls und des Fortgangs. War es das, was man Tradition nennt? Ein Palast, der mir gehörte – jedoch nur auf seine Initiative hin und nicht aufgrund irgendeines Rechts, das ich hätte geltend machen können – der seine Wunderkammern nur unvermutet und auf zufälligen Umwegen öffnete.

Diese Wiederkehr des Vertrauten in Form des Fremden hinterließ gespaltene Gefühle in mir. Alles wurde schwankend: mein Schritt, meine Stimme, der Ton meiner Gespräche mit den anderen. Das Schauspiel dieser Zusammenballung von Tieren, die der Vernichtung geweiht waren, überlagerte unweigerlich jenes andere, bei dem der einsame Patriarch seinen eigenen Sohn als Opfer dargeboten hatte, um dem göttlichen Befehl Folge zu leisten. Dies brachte auch einen unglücklichen Zug in die wundersame Ersetzung des Kindes durch das Lamm. Die Modernisierung der Pilgerfahrt hatte ihren Anteil daran: optimierte Pferche, abgeschlossene Räume, rechtwinklige Einteilungen, lückenlose Sicherheits- und Überwachungssysteme. Die beiden Reiche bekamen ihren jeweiligen Platz zugewiesen. Hier die Tiermassen in ihren Pferchen und dort, unweit davon, die Menschenmassen in ihren Zeltlagern, die entlang der mit Seilen abgesteckten Straßen von hohen Eisengittern umgeben waren. Nichts sollte sich dieser Rationalität entziehen. Ständig umherfahrende Polizeifahrzeuge und über uns kreisende Helikopter vervollständigten das Bild. Diese Ordnung sollte es der Menschenmasse erlauben, im Namen Gottes jene Unmenge an Tieren zu töten. Die Moderne hatte an den Zielen auf den ersten Blick nichts geändert. Vielleicht schien es aber auch nur so, denn indem sie die Maßstäbe, die Rhythmen, die Synchronisierungen und Rahmen veränderte sowie die Handlungen vervielfältigte, rührte sie womöglich auch an die Art und Weise, den Glauben zu praktizieren.

(…)

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