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Cover Lettre International 73, Jannis Kounellis
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Inhaltsverzeichnis

LI 73, Sommer 2006

Der Koran als Mythos

Naive Wahrheiten, Dunkelheit des Sinns, Unendliche Interpretation

Die Bindung, die ich an die arabische Sprache, besonders an die Koransprache, hege, liegt im Zentrum dessen, was mich zum Subjekt reifen ließ. Ich habe die Diglossie des Arabischen geradezu körperlich gelebt. Meine Muttersprache war die Volkssprache von Tunis, Sprache meiner Mutter und der Frauen, die die Familiensphäre bevölkerten. Als Vierjähriger wurde ich in jene Sprache eingeführt, die ich als Vatersprache bezeichnen möchte – wenn ich mich dieses Begriffs bediene, denke ich an Dante, an seine Verbindung mit Vergil als dem väterlichen Initiator, mit dem Lateinischen als der Vatersprache, die von der Volkssprache, „der Sprache der Ammen und Wäscherinnen“, zu unterscheiden sei und die der toskanische Dichter als Schriftsprache wählte. Die Vatersprache war für mich das Koranarabische, das sich vom dialektalen Arabisch weitgehend unterscheidet. Diese Sprache ist uns seit dem Ende des 7. und dem Beginn des 8. Jahrhunderts überliefert – ein archaisches Idiom, das sich mit den im Imaginären noch agierenden toten Sprachen vergleichen läßt. Man mag noch so nachdrücklich behaupten, daß sich das Arabische nicht wesentlich verändert habe – gleichwohl hat es sich  entwickelt. Wenn die Sprachwissenschaftler auf diese Sprache Bezug nehmen, reden sie von einer konservierten Sprache, doch dieser Konservativismus bleibt relativ, denn die Sprache hat sich, obwohl sie erstarrt wirkt, grundlegend gewandelt. Diese Ambivalenz zwischen einer toten und einer lebenden Sprache verleiht ihr eine eigentümliche liturgische Kraft. Mein Vater hat mich als Vierjährigen in den Koran eingeführt: In diesem Zusammenhang wirkte der Begriff der Vatersprache als kommunizierende Röhre mit der Muttersprache. Mein Vater war selbst Theologe, ein alim; er gehörte somit zur höchsten Klasse der Doktoren, aus denen der Lehrkörper der (im 9. Jahrhundert gegründeten) Zituna-Universität und -Moschee bestand. Er war für mich im ganzen Sinn des Wortes ein Initiator sowohl für die Sprache als auch für alles, was mit dem Koran zu tun hat.

Zu dieser ersten, über die Vermittlung des Korans erfolgten Alphabetisierung kam eine moderne Ausbildung hinzu, die ich als Sechsjähriger begann, als ich in eine zweisprachige (französische und arabische) Grundschule aufgenommen wurde. Die Fremdsprache verwuchs damals mit der Muttersprache und der Sprache des Vaters. Hier kann nicht näher erörtert werden, was diese Sprache (die man als Schulsprache bezeichnen könnte) mit sich brachte an Komplexität, Spannung und Pluralität der Sprachinstanzen, in einem Zusammenspiel von Komplizenschaft und Konkurrenz, wobei die Grenzstreitigkeiten nicht verhinderten, daß es zu Verschmelzungen und Kreolisierungen kam.

Seitdem beanspruchte der traditionelle Unterricht meine Ausbildungszeit nicht mehr ausschließlich. Die Erfahrung eines solchen Unterrichts ließ mich von innen die Wirkung erfahren, die die Entscheidung mit sich bringt, aus dem Koran den Stoff zu machen, der in Lesen, Schreiben und Rezitation einführt. Dieses elementare Lernen durch den Koran verleiht der oben angeführten Vatersprache einen privilegierten Status. Von seiner ersten Initiation an verinnerlicht das Subjekt des Islam die Vorstellung, daß die heilige Sprache die Sprache des Vaters ist, jene Sprache, in der das Gesetz überliefert wird, damit sich das genealogische Prinzip vom Toten zum Lebenden fortsetzt. Diese Art der Überlieferung gewinnt größere Wirksamkeit, denn in den Augen des kindlichen „Katechumenen“ bleibt die Sprache der Initiation dunkel, geprägt von einer hieratischen und schemenhaften Majestät, die sie von der Muttersprache – dem einheimischen Idiom, das dem Sprecher das erste Kommunikationsinstrument bietet – entfernt, ohne sie von ihr zu trennen. Ich lernte den Koran beinahe, ohne daß ich ihn verstand. Gleichzeitig aber erkannte ich Satzfetzen, einzelne Wörter wieder, dieselben wie jene, die wir in der Alltagssprache, dem Dialekt des üblichen Sprechaktes, benutzten. Als ich damals den Koran lernte, hatte ich den Eindruck, daß ich durch einen finsteren Wald lief, in dem es einige Schneisen und Lichtungen gab, die kleine Teile des Sinns mit Tageslicht erhellten. Dieser erste Kontakt mit der Koransprache hat mich für etwas empfänglich gemacht, was ich die poetische Lektüre nenne. So bevorzuge ich das körperliche Verhältnis zu gleich welcher Sprache, zum hörbaren Skandieren, zur Aufnahme jener Musik, die die Kombination ihrer Vokale und Konsonanten erzeugt. Ich lasse mich von dem unbezähmbaren Verlangen überwältigen, dem Text, den ich vor Augen habe, seinen mündlichen Ursprung zurückzugeben, als verdrängte der Klang den Sinn. Durch die Stimme wie durch das Graph erwirbt sich die Sprache den heiligen Status, sobald der Signifikant sich gegenüber dem  Signifikat durchsetzt.

Diese persönliche Erfahrung steht beispielhaft für etwas im Islam Allgemeingültiges. Wir stellen fest, daß dieselben Kräfte wirken, wenn wir uns der Theorie und Praxis der Koranrezitation (dem tadschwid) zuwenden. Die Technik dieses gesungenen Textvortrags beruht auf der Gestaltung von Formen, die den Klang überhöhen und so den Zugang zum Sinn verdecken: Das Loblied auf den Klang verbirgt die übrigen Anliegen durch die Vortragsweise, die den Psalmisten veranlaßt, harmonische Schemata und Rhythmen zu improvisieren und zu erproben, die auf auffällige Kontraste zwischen Verlängerungen und Verkürzungen, abgehacktem und fließendem Rhythmus, Komprimiertem und Ätherischem, Kompaktem und Subtilem, zwischen Zusammenziehung und Ausdehnung setzen, die den Fähigkeiten des Stimmapparats das Äußerste abverlangen. Im Lobgesang verleiht die Erprobung der Stimme dem heiligen Buchstaben eine Aureole. Die Art, wie Wort und Satz von den Wellenlinien der Melodie davongetragen werden, verringert die Aufmerksamkeit für Semantik und Syntax; die Überhöhung und die Feier des Klangs ziehen einen Horizont der Diktion mit dem Risiko, die grammatische Logik und die phonologische Funktion zu gefährden und die Syntax zu verwirren.

(...)

Zu dieser ursprünglichen Prägung, die die Bindung an die Sprache sakralisiert, kommt die Heiligung hinzu, die auf der Fiktion beruht, daß der Koran das ungeschaffene Wort Gottes wiedergeben soll. Durch einen solchen Mythos verwandelt sich eine menschliche in eine göttliche Sprache. Die Koransprache hat nicht nur durch das pädagogische Vorgehen eine Hegemoniestellung erhalten, auch der Raum, den sie im Imaginären einnimmt, wächst mit diesem Mythos, der aus ihr das Instrument macht, das in alle Ewigkeit das Absolute, Unendliche, Unbekannte, Unsichtbare ausdrückt. Diese Sakralisierung und diese Heiligung werden vom Dogma des idschaz bestätigt, das erklärt, der Mensch sei unfähig, die sprachliche Leistung des Korans zu erreichen, die das eigentliche Wunder darstelle. Die Orientalisten übersetzen den Begriff  idschaz mit „Unübertrefflichkeit“ oder „Unnachahmlichkeit“ des Korans. Derartige Übertragungen eskamotieren die in diesem Wort tatsächlich ausgedrückte Unfähigkeit, die auf sexuelle Impotenz verweist. Das Dogma ist eine zusätzliche Einfriedung, die den Schutz des Textes durch die Sakralisierung und Heiligung seiner Sprache noch verstärkt.

In jener Zeit, als die Schöpferkraft noch nicht aus den islamischen Regionen verschwunden war, stellte ein solches Dogma eine explizite oder implizite Herausforderung für jene Schriftsteller dar, die das Abenteuer des Schreibens bis zu den äußersten Grenzen vorantreiben konnten. Das genannte Dogma liegt wohl einem gesunden literarischen Wettstreit zugrunde, der nicht vor Überschreitungen zurückschreckte und dessen Autoren sich ihrer Fähigkeit sicher waren, eine ebenso anregende und musikalische, wenn nicht gar suggestivere Prosa hervorzubringen. Ich denke an Abu al-Ala al-Maarri, jenen skeptischen und blinden Weisen, ein Schriftsteller des 11. Jahrhunderts, der im nordsyrischen Maarrat an-Numan gelebt hat, einer Kleinstadt inmitten von schönen Gärten voller Pistazienbäume, ungefähr hundert Kilometer südlich von Aleppo. Traditionelle Kritiker haben die Hypothese geäußert, daß sein Risalat al-Ghufran („Sendschreiben über die Vergebung“, deutsch: Paradies und Hölle) mit der Absicht geschrieben wurde, das Dogma von der Unnachahmlichkeit des Korans zu durchbrechen. Ein solches Vorhaben würde bei diesem freidenkerischen Dichter und Schriftsteller nicht erstaunen, der den Zweifel kennt und es versteht, sich der Ironie als Waffe zu bedienen.

Dieser wahrscheinliche Angriff auf den idschaz erneuert eine Polemik, die der Herausbildung des Dogmas vorausging. Sie wurde am Beginn des 9. Jahrhunderts in Bagdad durch die Mutazila über den Status geführt, den man dem koranischen Diskurs zuerkennen sollte. Die Mutaziliten, die sich von der Vernunft leiten ließen, widerlegten den Glauben an einen ungeschaffenen Koran (der zum Dogma von der Unnachahmlichkeit des Korans führte) und vertraten die These vom erschaffenen, in der Zeit erschienenen Koran: Sie leugneten nicht den göttlichen Ursprung des Textes, meinten aber, wobei sie vielfältig nuancierte Auffassungen vertraten, daß das den Lebenden zugängliche Buch nur die Aktualisierung des Wortes Gottes in einer Menschensprache sei. Doch die theologisch-politischen Autoritäten wiesen diese These ab. So triumphierte der Glaube an den unerschaffenen, von seiner Unnachahmlichkeit geschützten Koran; er entwickelte sich im islamischen Allgemeinverständnis und wurde von den Grammatikern und Rhetoriklehrern unterstützt, die so viel geschrieben haben, um den Glanz, den Reichtum und die übermenschliche Überlegenheit der literarischen und diskursiven Leistung des Korantextes zu beweisen. Es könnte sein, daß die Fiktion al-Maarris eine erbitterte Reaktion auf die Hirngespinste war, die bereits die Vorstellungswelten seiner Glaubensbrüder – des einfachen Volks wie der Gelehrten – beherrschten.

(...)

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