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Cover Lettre International 43, Giulio Paolini
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Inhaltsverzeichnis

LI 43, Winter 1998

Die Roma und die Renaissance

Zigeuner in Florenz - Reportage einer Reportage

(...)

Bis jetzt hatte ich meiner Freundin Liuba den Anblick jener Flüchtlinge erspart, für die die städtischen Einrichtungen nicht direkt zuständig sind. Es handelt sich dabei um die sogenannten "illegal Zugereisten". Sie werden toleriert, obwohl sie "illegal" sind, denn die Stadtväter hängen sich schlauerweise den Mantel der Liberalität um. Allerdings dürfen sie sich nur an den Stadträndern aufhalten, so daß sie die romantischen Sonnenuntergänge in Florenz nicht stören können.

Sie, die Geduldeten, haben sich vor allem im Gebiet von Brozzi angesiedelt, einer verwahrlosten Siedlung am Stadtrand, der von der Gemeindeverwaltung nicht einmal eine Bibliothek zugestanden wird. Auf kleinstem Raum zwischen der Eisenbahnlinie Florenz-Pisa und dem verschmutzten Arno, in Gesellschaft von Ratten, die so groß wie Katzen sind, haben diese "Verdammten der Erde", wie Frantz Fanon sie nennen würde, ihre Baracken errichtet, ihre inzwischen reifenlosen Wohnwagen aufgestellt, um den langsamen Tod eines kleinen Volkes zu sterben. Hier gibt es so gut wie keine Infrastruktur. Keine Elektrizität, keinerlei Form von Unterstützung. Oft besitzen sie nicht einmal die Dokumente, die beweisen würden, daß sie existieren. Nur ihr Körper bezeugt, daß sie am Leben sind, in dieser kleinen baum- und graslosen Ödnis, die ihnen von den in ihre "Renaissance" verliebten Stadtvätern von Florenz zugestanden worden ist.

Wenn die Roma in den Lagern Olmatello und Poderaccio das "Bürgertum" unter den in Florenz gelandeten Zigeunern darstellen, so haben wir es hier mit dem "Lumpenproletariat" zu tun. Hierher habe ich meine Freundin Liuba gebracht.

Über den kahlen Boden flattern Papierfetzen, wie armselige Drachen. Die Abfälle, die von keiner städtischen Müllabfuhr entfernt werden, bilden Erdwälle entlang der beiden sich gabelnden Straßen, wie bei einem Stellungskrieg: links, Richtung Florenz, stehen die Baracken, rechts drei oder vier kaputte Wohnwagen und zwei weitere Baracken. In einer davon lebt Familie K., die ich besonders gut kenne. Hierher führe ich Liuba. Ich kenne diese Leute seit einigen Jahren. Der Familienvater, im selben Jahr geboren wie ich, wirkt jedoch viel älter als ich. Vom Aussehen her könnte er mein Vater sein. Er leidet an Diabetes. Hier wird ihm natürlich keinerlei medizinische Hilfe zuteil, denn offiziell gibt es ihn gar nicht. Zuerst behandelte er seine Krankheit mit deutschen Medikamenten, die er während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik erstanden hatte, auf seiner langen Reise von Jugoslawien bis hierher. Als ich ihn kennengelernt habe, ist mir zum Glück aufgefallen, daß einige dieser Medikamente bereits abgelaufen waren und die anderen gegensätzliche Wirkung hatten, wenn sie beliebig, ohne ärztliche Kontrolle eingenommen wurden: Manche dieser Medikamente senkten den Zuckerspiegel, während ihn die anderen erhöhten. Die Vereinigung zum Schutz der ethnischen Minderheiten und die Comunità di Sant'Egidio haben ihm zwei freiwillige Ärzte besorgt, und auf diese Weise konnte ihm ein Diabetes-Koma erspart werden. Inzwischen kommen die freiwilligen Ärzte nicht mehr, aber der alte K. überlebt dank vernünftiger Insulindosen und anderer Medikamente.

Er hat eine freundliche Frau, mit winzigem Gesicht und zwei großen, schwarzen, sehr lebhaften Augen. Acht Kinder, der älteste Sohn ist fünfundzwanzig, der jüngste acht. Die Mutter ist vierzig. Sie hat die Familie vor dem Ruin gerettet. Bei ihrer Ankunft wurden sie im Lager Olmatello untergebracht. Dort hatten sie wenigstens einen Container, in dem sie schlafen konnten, und die "Bequemlichkeiten", wie ich sie in Punkt 3 beschrieben habe. Allerdings gab es hier Drogenhändler, die erkannt hatten, daß die Bewohner des Lagers leicht dazu gebracht werden konnten, ebenfalls Drogen zu nehmen, und somit als Drogendealer mißbraucht werden konnten. Tatsächlich sind die Bewohner des Olmatello inzwischen völlig ruiniert vom Rauschgift, und ein Großteil von ihnen sitzt im Gefängnis Solliciano. Merkwürdigerweise hat sich die Polizei während der drei oder vier Jahre, in denen dies vor sich ging, nie um die Verbrecher gekümmert, die das Lager heimsuchten. Dann eines schönen Tages, als die Jugendlichen bereits alle ruiniert waren, hat sie eine Razzia veranstaltet. Man fühlt sich dabei an Joyces berühmte "Epiphanie" erinnert: Eine plötzliche Erleuchtung bringt die Ordnungskräfte eines Tages dazu, ein geheimes Übel zu entdecken. Ein reicher slawischer Dealer, der einen Mercedes und einen Wohnwagen besitzt und den alle Bewohner des Lagers fürchteten und respektierten, ist merkwürdigerweise einen Tag vor der Razzia mitsamt seinem Auto verschwunden. Wer weiß, ob nicht auch er eine "Erleuchtung" hatte.

Im Gegensatz zu jenen, die hätten aufpassen sollen, was im Lager geschieht, hatte jedoch die Frau das alten K., eine wache und kluge Frau, rechtzeitig bemerkt, was vor sich ging. Und die einzige Möglichkeit, ihre gefährdeten Kinder zu beschützen, bestand darin, auf die "Bequemlichkeiten" zu verzichten, die ihr die Gemeinde Florenz zugestand, ihre Kochtöpfe und ihre paar Habseligkeiten einzusammeln und sich hierher zu flüchten, ans Ufer des "silbernen Arno, in dem sich das Firmament spiegelt", wie es in einem Schlager heißt, einem der am meisten verschmutzten Flüsse Italiens, wo sich Ratten tummeln und Leptospirose droht, ohne Elektrizität, um unter äußerst prekären Bedingungen zu leben. "Immerhin", sagt die Dame weise, "ist es nicht schlimmer geworden."

Die Kinder, die Söhne wie die Töchter, sind freundlich, gehorsam, zart. Die beiden ältesten sind Analphabeten und versuchen im Centro Sociale von Don Alessandro Santoro, der einzigen Institution, die an diesem gottverlassenen Stadtrand funktioniert, lesen und schreiben zu lernen. Dorthin gehen sie jeden Nachmittag in Begleitung der kleineren Kinder, ein kleines Grüppchen, als ob sie spazierengingen, schüchtern und beschämt, bevor sie in die Stadt gehen, um der einzigen Arbeit nachzugehen, die sie ausüben dürfen: Sie verkaufen Rosen in den Restaurants.

Sie haben nie illegale Tätigkeiten ausgeübt. Nur einmal, zu Weihnachten, ist die Mutter von Polizisten festgenommen worden, weil sie in Begleitung des jüngsten Kindes, das damals erst wenige Jahre alt war, an einer Straßenkreuzung bettelte. Sie wurde wegen Ausnützung von Kinderarbeit auf die Wachstube gebracht. Sie erklärte, ihr Kind habe seit zwei Tagen nichts gegessen. Die Polizei, die hin und wieder ein gutes Herz hat, ließ sie laufen.

Vor kurzem ist ein Cousin von ihnen angekommen (die Zigeuner sind alle Cousins, sie sind alle miteinander verschwägert und verschwistert), in Begleitung von Frau und Kindern, weil er den Kriegsdienst im serbischen Heer verweigert hatte. Er ist ein kräftiger junger Mann und könnte einen guten Soldaten abgeben. Offensichtlich ist er kein guter Patriot, was er auch offen eingesteht. Er sagt zu uns: "Freunde, warum soll ich als Zigeuner für eine Flagge kämpfen?"

Ein Stück weiter, versteckt zwischen Sträuchern und Abfällen, sind ein paar Wohnwagen ganz plötzlich wie Pilze aus der Erde geschossen. Vor ein paar Tagen waren sie noch nicht da. Es sind Cousins des Cousins, lauter Zigeuner aus dem Kosovo, die für den serbischen Staat kämpfen und ihre albanischen Brüder erschießen hätten sollen. "Ich lebe lieber", sagt einer von ihnen augenzwinkernd, wobei er den Slogan einer Anti-Drogen-Kampagne zitiert, die vom italienischen Innenministerium lanciert wurde. Und Liuba, die von einem Mädchen umkreist wird, das ihr türkischen Kaffee gebracht hat und ihre Timberland bewundert, wird von einem Jungen aus dem Kosovo gefragt: "Leben? Amerikanische Dame, nennen Sie das hier Leben?"

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