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Cover Lettre International 45, Rainer Leist
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Inhaltsverzeichnis

LI 45, Sommer 1999

Die Orangen

Ein weißes Band von weitem, am unteren Rand blau eingefaßt, oben mit grünen Tupfern. Mit Pfeffer, frischer Minze und Jasmin: Das ist Algier. Eine dunkle, laszive Schöne mit olivfarbenen Augen, die ihr schmachtendes weißes Fleisch der Glut der Sonne darbietet.

Und ich, oh, ich liebe das. Frühmorgens auf dem Balkon, eine Schale Sonne pur. Hmm.

Kindergeschrei, die Straße summt, der kleine Krimo, wie gut der spielt, das muß man gesehen haben, wie der dribbelt, hopp, hopp und wumm, die Konservenbüchse zwischen den Beinen des Torwarts durch, hurra!! Getunnelt, armer Torwart, es ist Hamdane, der Sohn Moussas, des Fleischers, fünfzehn Jahre, achtzig Kilo...

Und was ist das? Ja, dieser Geruch, der plötzlich gegen meine ach so glücklichen Nasenflügel schlägt?! Es ist das Meer, das ich unterhalb des Himmels sehe, zwischen dem Chihab und dem Zeitungskiosk. Das Meer, klar.

-Vergiß nicht, Brot zu kaufen und das Hammelfleisch fürs Couscous, und zieh dich warm an, sonst erkältest du dich. Tante Ouardia kannst du sagen, das Kleid schau ich mir an, in Ordnung?

Ah, natürlich das Meer! Schschsch, träge und von unendlicher Weite, das Geräusch der heranrollenden Wellen, schsch... das Meer, das mir in der Perlmutthöhle seines Gesangs alles erzählt hat.

Die Sicht von meinem Balkon kann mir nicht genommen werden: die Arme der Bucht, in der Ferne die Häfen von Fort de l'Eau, La Prouse, Jean Bart. Namen wie feingeklöppelte Spitze, gepuderte Schnauzen, Lockenperücken, Staub des Kaiserreichs, wenn die Sprache... sich den Raum erobert.

Ja, man hat versucht, sie zu arabisieren, "Fort de l'Eau" wurde zu "Bordj El Kiffan", "La Perouse" zu "Tamentefoust". Nicht einfach nach so langer Zeit. Zwei Sprachen im Schatten, klickklack, die einander gegenüberstehen, klickklack, in der hereinbrechenden Nacht die Klingen kreuzen. Waffengeklirr, klickklack, der Vicomte de Bragelone gegen Mohamed Benvoyons!!

Und hopp, Quart, Oktav, Quint, Terz, Terz, Ausgangsstellung und weiter, Terz, Terz, Quart. Der Herzog von Guise-ist-ziemlich-fies gegen Ich-bin's-Benali-wir-kommen-von-weither. Klickklackklick, zartes Geklirr ununterbrochen, ganz normal, schelmisches Sprachgeklirr, klickklack, wundervolle Schnörkel, in der Nacht, ganz normal, wie schon immer.

Und so kam's, daß neulich im Cafe Chihab Mouloud folgendes von sich gab:

Krazatu machina, ramassaoueh mourssouate mourssouate, ou transporaoueh ellacllinqui bel'ambulance. (Der wurde überfahren, und sie haben ihn zusammengeklaubt, Stück für Stück, und mit dem Sanka in die Klinik geschafft.)

Verrückt, eine Sprache, nicht wahr?! Man nimmt ein Wort, wirft's die Treppe runter, und es rollt ganz von allein weiter. Wie ein Ei, das Wort, das tägliche Ei, das man in der Hand kugeln und rugeln läßt; während man wie jeden Tag die Treppe hinuntersteigt, rollt das Wort, das Ei: Guten Tag, Madame Brahimi! Es geht aus dem Haus, wie erwachsen, das Ei, das Wort, es trifft auf andere, es wimmelt nur von anderen Eiern Worten, es tut sich mit ihnen zusammen, webt Verliese, Prinzessinnen mit zarten Fingern, wohin man blickt, überall.

Auf der anderen Seite? Da auch: Chouia kaoua, Choukren. Non, non, ca c'est bezef, j'ai chouia. Comment? Allez allez, fissa, Khouya, makache? (Einen Schluck Kaffee, danke, danke, nein, das ist zuviel, einen Schluck hab ich gesagt. Wie? Mach schon, Beeilung, kleiner Bruder, was ist los?)

Im Cafe Chihab, Mouloud:

-"Weißt du, warum wir Muslime keine Industrie aufgebaut haben?"

-"...Äh, nein?!"

-"Weil die Christen uns die Seiten über Technik aus dem Koran gestohlen haben."

Mouloud: Pferderennen, Boule, Wassermelone, Pagnol reinsten Wassers. Aber andererseits... ein verkrachter Marseiller sozusagen. Auch ein verkrachter Araber, auch das ist Mouloud. Obwohl... ganz stimmt das nicht. Zu ausgekocht für hier, und für Frankreich nicht genug. Zwischen Couscous und Bechamel, Mhoui und Pizza, Makrout und Baiser.

Hat er mir meinen Tausender zurückgegeben?... man weiß nie bei diesen Typen. Sie zahlen zurück und pumpen einen sofort wieder an. O lala, Teppichhändler von Venedig, na ja!

Diese Hitze...! Man wird glatt zur Dorade, auf kleinem Feuer gebraten, Zitronenscheiben auf Petersilie und Rosmarin. Mmm.

Die letzte Angelpartie hat ein böses Ende genommen. Kader das anzutun, was ist nur in ihn gefahren, in dieses Faß von Boualem? Der reine Neid, weil er, Kader, einen fetten Zuckerbarsch an der Angel hatte, während bei Boulamen überhaupt nichts anbiß.

Männer.

Doch auch Kader hat's nicht leicht. Verheiratet, braver Familienvater, Kapo bei der städtischen Müllabfuhr, alles ganz normal. Aber er heißt SNP. Ohne Familienname. Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er sich quasi nur halb. Kader SNP, ohne Familienname. Wirklich sehr lustig, wie eine halbe Sache im Leben. Wie heißen Sie? Kader SNP. SN wie bitte?

SNP nannten die französischen Soldaten arabische Waisenkinder oder Personen mit Gedächtnisschwund oder solche, deren Namen zu lang waren wie Tage ohne ein Fladenbrot. Mohamed ben Abdelkader Ould si Slimane ben Kaddour el Maghnaoui. Das stinkt von weitem nach Hammelleder und Kamelscheiße. Aber oh, was ist nur mit seinem Kopf passiert!...

-"Herr Wachtmann, was hat man mit Ben Couscous Wer-auch-immer angestellt?"

-"Damit können wir uns nicht abgeben, rausraus: SNP."

Kader, der Ärmste. Zwei kaputte Zähne, ein Faustschlag, den ihm Boualem Kader verpaßt hat. Ja, linker, hochgerutschter Haken.

Angefangen hat es so: Wie schreibt man Hippopotamus? Mit zwei p nach dem i? Oder nach dem o? Deswegen haben sie sich in die Wolle gekriegt, und dann ging's los, die alte Leier, deine Schwester ist eine Hure, ich hab sie gebumst, Saukerl, und ich werd's deiner Mutter besorgen, wart's ab. Rot, Hitze, die Faust, Blut. Männer.

Trotzdem wüßte ich gern, wie sich nun Hippopotamus schreibt?

Im Algerischen gibt es das Wort Nichts im bejahenden Sinn. Und es gibt auch das Wort Engel. Ganz einfach, das ist Zohra, die Kleine von unten, sie ist dreizehn, Augen so groß wie Globen. Völlig ahnungslos, was das betrifft, er braucht nur die Hand auszustrecken. Das Lachen, das ist Zomba vom Zeitungskiosk. Kürzlich hat er sich in den Finger geschnitten und auch gelacht, der Blödmann. Schuftet zuviel, ich glaube, das ist alles.

Letzten Samstag war ich bei Ramdane, dem Frisör, um mir den Bart trimmen zu lassen. Und wen treffe ich? Djelloul, den Mittelstürmer von der Fußballmannschaft unseres Viertels. Chihab, den Ex-Red-Star vom Maison Carree. Ja, ganz einfach, Djelloul trägt noch seinen Gips, er hat nämlich beim vorletzten Meisterschaftsspiel gegen Sidi Aich einen gemeinen Tritt abgekriegt. Wir waren alle im Stadion, das ganze Viertel, mit dem alten roten Dodge von Moussa, dem Metzger, dessen Motor aus allen Löchern röchelte - die Unterbrecherkontakte. Und wir haben geuungen, und wie wir gesungen haben:

-"Von allen Seiten hörte man, Chihab hätte ins Gras gebissen. Nein, nein, Chihab ist nicht krepiert, weil er nämlich noch lebt, was, Chihab...!!!"

Was ich heute mache? Keine Ahnung, wird sich zeigen, der Tag ist lang. Dieser Anhänger? Der an dieser Silberkette hängt? Oh, nichts Besonderes, nur eine Erinnerung. Die erste Kugel, die ein französischer Soldat unter dem blaugelackten algerischen Himmel abgefeuert hat. Im Juli 1830. Ja, die erste Kugel, ein Schuß, der uns bis heute noch in den Ohren klingt, weg damit... ich wüßte nicht. ...Diese erste Kugel, die in einer Orange stecken blieb, jaja die Orangen Algeriens. Diese berühmten...

-"Sieben Lenze säumten mein Alter, damals im Juli 1830. Vor mir das Meer voller Schiffe, alle Segel gehißt, Flaggen mit Lilien und Gold flatterten im Wind. Soldaten mit kalkweißen Gesichtern plünderten und setzten mein Douar in Brand. Heulend bin ich zwischen den Leichen meiner Großmutter, meines Vaters und meiner ganzen Familie herumgekrochen, bis zu der Orange, und aus ihr hab ich diese Kugel rausgezogen. Ihre letzten Worte, bevor sie ihre Seele aushauchte:

Mit dem heutigen Tag beauftragt dich das Königreich der Orangen, die Saga deines Volkes zu schreiben. Du mußt aber einen Eid leisten. Sprich mir nach: "Ich schwöre, daß ich an dem Tag, an dem sich alle Menschen, die auf dem Boden Algeriens leben, so lieben, wie die Orangen sich lieben, diese Kugel für immer vergrabe..." Und dann ist sie in meinen Armen verschieden, die Orange. Und ich hab sie an der Stelle begraben, wo der erste französische Soldat seinen Fuß auf den Boden setzte.

Seitdem gehe ich barfuß auf der Haut der Jahresringe. Trommler heißer Jahreszeiten. Karawanenführer, Marktschreier, Musiker-Magier, Hausierer, tanze ich von Düne zu Düne, von Stern zu Stern. Unterdessen weben die Eroberer gnadenlos an dem Gewebe ihrer Macht über das ganze Land, französische Kirchen, Schulen, Garnisonen, gemischte Gemeinden, arabische Büros, die Bibel, die den Koran in den Schatten stellt...

Aber überall, wo ich vorbeikomme, verströmt jeder Alfahalm, jedes trockene Wadi, jede Wüstenrose die alte Melancholie. Dieser Gesang wird aus dem Geruch des Thymians und Benzoeharzes zusammengebraut. Der Wind, der durch die Schluchten des Chelif, die Äste der großen Ölbaume, die Gärten von Mitidja und über die Schenkel blutjunger Mädchen streicht, verstärkt und gerbt den Gesang, der groß und kräftig geworden ist und endlich seinen ersten Zahn bekommt.

Und hier haben wir sie.

(...)

-Die Unabhängigkeit ist eingetroffen, ein Blumenkorso von Versprechungen, Träume von Freiheit, Gerechtigkeit. Nach hundertunddreißig Jahren Fremdherrschaft ist es endlich soweit, wir sind unsere eigene Herren. Ich glaube, das ist der richtige Moment, was, um die Kugel zu vergraben?! Ja, der Schwur, die Orangen... Die Franzosen wurden rausgeschmissen, das war's, wir sind jetzt unter uns.

Das Fest hat eine Woche gedauert, es wurde wie wild getanzt, um die Unabhängigkeit zu feiern. Ja, zwei Fingerbreit davon entfernt, das Kriegsbeil für immer zu begraben.

Aber... was seh ich da?

In der allgemeinen Euphorie fangen das Militär und die Bevölkerung an, die von den Franzosen verlassenen Gebäude zu stürmen, zu plündern. Gefreite ernennen sich zu Obersten, die Präfektur von Algier ist leer, die Franzosen haben beinahe alles stehen und liegen lassen, Akten, Stempelkissen und was sich sonst noch alles verscheuern läßt. Was soll das Chaos?

Arabo-arabische Anarchie. Schmierige Wahrheit des verfetteten Gesindels der Nacht. Wenn ein Araber "ja" sagt, heißt das "nein". Wenn er "nein" sagt, heißt das "danke", wenn er "guten Abend" sagt, heißt das "Frohe Ostern", und wenn er "einverstanden" sagt, heißt das "zwei Biere".

Aber bezahlen... mußt du...

Ben Bella,uunser Präsident, entscheidet sich für eine Zahl: Es ist die EINS, die des uneingeschränkten Faschismus. EINE Partei, EINE Sprache, EINE Religion. In einem heroischen Kraftakt wird von Millionen muskulöser Arme der nationale Phallus hochgestemmt. Zu allem bereit und völlig ahnungslos, die Ärmsten ziehen, hauruck, an Tausenden von Seilen, aha, er richtet sich auf, DER EINE, steht, ja, ziehen, hauruck, da hinten noch einmal, ja-ah, so ist's gut, ja, tüchtig geschwenkt der EINE, der am Himmelsgewölbe leckt und die Gesetze der Schwerkraft herausfordert, hauruck, vollkommen, unabsägbar DER EINE.

Und doch hat Mao... glaub ich, gesagt... ja doch, Mao hat gesagt: ...Eins läßt sich durch Zwei teilen.

-"Schnauze! Wir haben gesagt EINER!"

-"Schon gut, schon gut, läßt sich nicht ..."

-"Schnauze!"

Ja, der EINE, der eine große Phallus, die lange siderische Sodomie beginnt. Wumm, Staatsstreich und bumm, Boumedienne, der harte, strenge und erhabene Stab des Elends dieser Welt. Besen her, Frühjahrsputz, an die Arbeit. Fünfjahrespläne, die ungezügelte nationale Begeisterung, jaaah, wie auch immer, wo auch immer, wann auch immer, wir sind mit von der Partie. Boum, ja-ah!

Arabischer Stalinismus. Ja, ich bin auf dem laufenden, aber es muß sein, die arbeitenden Massen müssen umerzogen werden, ihr revolutionäres Bewußtsein muß entwickelt werden, die Produktivität gesteigert, damit die künftigen Generationen an dem ruhmreichen Firmament der freien Völker erstrahlen können, im Verhältnis zu ihrem pertititum vitae...!!

Alle Welt glaubt daran, ja, genug palavert, an die Arbeit, das Land wieder aufbauen. Ich studiere Wirtschaftswissenschaften und bin aktives Mitglied der FLN, Tempel der Macht. Und ich kenne nichts, ich bin... gnadenlos. "Die Revolution über alles", na, macht schon, keine Zeit, keine Zeit, los, los, an die Arbeit.

Jawohl, vorwärts, Millionen, die mit nackter, der Sonne zugewandten Brust die Berge bezwingen, die Meere, die mit einem einzigen Lied den heroischen Marsch des Volkes skandieren, dessen glorreiche Nachkommen das Große Werk bewundern werden! Traktoren, Schreibmaschinen, Kompasse und Schrauben, das sind unsere Ikonen.

Was ich mache?

Ich verfolge, bespitzle, verpetze und schnappe alles, was sich bewegt: Gehirnamputierte, moralisch Verdorbene, Drogenabhängige, Homosexuelle, Trotzkisten, alles, was abweicht. Vor allem aber die Intellektuellen, auf die hab ich mich eingeschossen. Nach drei Sätzen sondiere ich sie wie mit einem Laserstrahl, ich weiß genuu, inwieweit der Kerl vor mir von der Konterrevolution infiziert ist. Oh, es braucht nicht viel, wenn ich Jeans sehe, ein Päckchen amerikanischer Zigaretten, dann bin ich schon zur Stelle, hallo, ich bin gerade in der Gegend. Und im Vorübergehen bewundere ich die gute Arbeit der CIA, der stinkenden Hydra der imperialistischen Ausbeutung und Entfremdung.

Bei mir in meiner Wohnung habe ich meine Karteien. Kürzlich hat sich Ouardia, die Witwe vom zweiten, Yesterday von den Beatles angehört, na ja, das reicht schon, der Fall ist abgeschlossen. Umerziehung. Die Kinder ihrer Kinder werden es mir danken.

Vor zwei Monaten hab ich Jagd auf die Langhaarigen meines Viertels gemacht. Die Bullen sind gekommen und haben das Chihab umstellt, und hopp, keine Bewegung. Alle sind wie erstarrt, die einen mit der Kippe im Mundwinkel, die anderen mit einer lauwarmen Teetasse in der Hand. Sie rühren sich nicht, machen sich vor Angst in die Hosen. Schweigend inspizieren die Bullen die Länge der Mähnen... peilen über den Daumen, erschnüffeln Schwule und Konsorten. He, du, komm mal her. He, du kleiner Beatnik, du schwuler Scheißstudent, ab in die Wanne! Dank meiner Hinweise konnten sie sich an diesem Tag fünf dieser Typen schnappen. Kopf kahlgeschoren und Akte angelegt: subversive Elemente, die die Ideale und Werte des Volkes in den Schmutz ziehen.

Ja, mein Herr!!

Für die Mädchen im Minirock, Spezialtarif:

Ihnen werden die Schenkel mit Teer besprüht. Eine Woche dauert das mindestens, bis du das wieder wegkriegst, Schätzchen.

Glühender Verteidiger des Glaubens und der Ideale, zu allem bereit, für eine Handvoll astreiner algerischer Diamanten hätte ich glatt drei Viertel meines Volkes über die Klinge springen lassen. Ja, so bin ich. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Der Präsident Boumedienne fährt mit seiner Säuberungsaktion fort, eine eiserne Hand in einem Handschuh aus Beton. Lächelt nie, keine Zeit, ja, recht hat er. Nicht einfach, der Übergang von der Gandoura zu Anzug und Krawatte, ja, ja.

Der Revolutionsrat: eine Wand aus Käppis, schwarzen Brillen, Schnurrbärten und Goldzähnen. Eindrucksvoll, aber es hilft nichts, man muß, man muß.

Wohnung in Algier, Dunkel, nackte Glühbirne, die den Angeschuldigten blendet, sein Gesicht ist blutüberströmt. Spuck's aus, du schwule Sau. Ein kleiner Student, der auf einem leeren Grundstück aufgegriffen wurde, wo er einen Song von Bob Dylan sang, dem berühmten jüdischen FBI-Agenten. Der Dreckskerl wird schon reden, das kannst du mir glauben, mach schon, Mouloud, verpaß ihm eine, leg los. Und Mouloud ist begeistert, verdammt, gib's ihnen, diesen Arschfickern, diesen verdammten Lakaien des mmperialismus, gut so Mouloud, nur ran, verdammt, ich deck dich schon.

Ich im Alleingang? Zwei- bis dreitausend eingebuchtet?! Ja, das könnte hinhauen, die Hinrichtungen nicht mitgerechnet, muß sein, muß sein: denk an Danton, Saint-Just, Robespierre. Aber was ist mit den Menschenrechten... hmm?!

Und warum das alles? Wegen der Orangen, ist doch klar!

Weil wir noch kein richtiges Volk sind. Was dann, eine Menge? Ein Haufen? Ein großer Haufen? Nein, keine Horde, das nicht, aber... eine Herde? Eine große, edle Herde? Nein, nein...

Sagen wir eine Menge, eine zusammengewürfelte Menge, oder zumindest eine mit Clanbewußtsein: Der Sohn des Unterpräfekten ist mit der Schwägerin der Frau des Ortskommandanten der Gendarmerie verheiratet, der wiederum der Vetter der Schwägerin des Wirtschaftsministers ist, der sich letzte Woche in zweiter Ehe mit der Nichte des Generalsekretärs vermählt hat, der... Ja, die Blutsbande, emsige, kleine Hände, der genealogische Teppich. Steht ständig in Verbindung, Gewebe aus Fleisch und Blut bilden sich, die Macht wird untereinander aufgeteilt, feinste Verästelungen des Nervensystems, Güter- und Frauentausch. Außerdem sind alle aus demselben Kaff, aus dem Osten.

Ich hab gesagt: Das ist nicht richtig!

Man hat mir geantwortet: Kümmert dich einen Dreck! Geht nicht anders.

Ich sagte: Gut, aber schließlich wollen wir eine Demokratie.

Und man hat mir geantwortet: Sachte, sachte. Du bist von der ganz schnellen Truppe, was?

Ich sagte: Ich beruhig mich ja schon, ist ja gut, geht in Ordnung.

Alles braucht seine Zeit, zuerst muß die Basis gefestigt werden, muß sein.

Achtung!!! Man will nur einen einzigen, gottverdammten Kopf gelten lassen! Ja, so, stillgestanden, alle in Reih und Glied, nur ein einziger Sproß in dem heißen Schoß von tausend gleißenden Sonnen. Des Vaterlands.

Ja, ich weiß, der Übergang von der Gandoura...

Wie soll man diese mediterranen Hedonisten, die bis in die Gene kapitalistisch sind, zu Marxisten machen? Eine verdammt schwierige Sache!

Aber ich bin bereit, ich habe Frantz Fanon, den Vater der Elenden, gelesen. Er hat es auf den Punkt gebracht. Schwarze Haut und weiße Masken, Entfremdung, kulturelle Entwurzelung und der ganze Rattenschwanz. Im Blick des Sklaven funkelt einem das Auge des Herrn entgegen.

Nicht einfach, Frankreich hat sich verabschiedet, nach hundertdreißig Jahren, ja, richtig! Aber was haben wir denn da... heh heh, was macht der Hammel in der Badewanne??! Na ja, ein Bauer, der in einer Vorstadt in einer Dreizimmerwohnung lebt, ganz normal; Bäuerliches im städtischen Raum, die Rinder waren vor dem Pflug da.

Es gibt zwei Dinge, klickklick, Sprache gegen Sprache, da sind wir wieder, klickklick, ständig, unaufhörlich klickklick, Klanginseln, starke Bilder des Unvergänglichen, die Kulturen, klickklick, im Schatten, unaufhörlich, klickklick, Spaghetti gegen Tchektchouka, klickklick.

Die Beduinen können heutzutage Fritten braten.

Kompliziert, das alles, sehr kompliziert, Dialektik des großen Fressens. Hegel auf den Kopf gestellt? Und das Ganze noch auf arabisch. Der Marximus auf arabisch für Südländer! Mit Strand hat das nicht viel zu tun...

Eines Tages hat mir ein Freund geraten, geh ein bißchen raus, schau dich im Land um, sprich mit den Leuten, das kann nicht schaden, du wirst schon sehen. Ich hab seinen Rat befolgt und das Land bereist, mit dem Auto, dem Bus, dem Kamel, auf dem Rücken eines Esels, und ich hab einiges gesehen.

Oh ja, ich hab die höhnisch grinsende Riesenschlamperei vor dem nackten Elend gesehen. Ich habe die dickbäuchige Selbstzufriedenheit der Bonzen erlebt, Alleinherrscher, verfettete kleine Provinz-Neros. Ich hab sie gesehen - jawohl! wie sie ihre Marlboros rauchten, Whisky soffen, sich die Dollars wechselten, Prostituierte, Jungs, Haustiere und was sonst noch alles betätschelten...

In der Nähe von Boufarik hab ich mich unter einen Baum gelegt und lange die Kugel betrachtet, an die Orange, den Schwur gedacht. Gibt es eine Verbindung zwischen...

Wieder in Algier, habe ich mir andere Augen zugelegt, die der Orangen, die wahren Augen des Landes, damit sieht man die Dinge klarer. Ja, ich hab sie gesehen, unsere Machthaber, oh, man kann sie kaum übersehen. Sie trockneten sich die Füße mit der Flagge ab, ließen sich das Blut der Märtyrer mit Eiswürfeln und Ricard servieren.

Blitzschnell. Lange hat es jedenfalls nicht gedauert, wetten? Ein paar Stunden reichten für eine komplette, völlig nüchterne Bankrotterklärung meinerseits. Abrupter Kurswechsel, Richtung Westen!

Ich hab mir Bob Dylan angehört und fand ihn gar nicht so übel. Und ich hab Marlboros geraucht, hmm, mir eine Levis angezogen, super, und mich dem Widerstand angeschlossen, wie früher, wie immer. Aber dieses Mal gegen die eigenen Leute. Gegen mich selbst. Damals hab ich auch angefangen zu malen, ich hab alles sausen lassen, den Betondrachen...

Ich hab die Tätowierungen studiert und in ihnen Zeichen, den ganzen Kosmos, Jahreszeiten, Natur entdeckt. Alles fließt. Aber wo ist der Haken?

Eines Tages hab ich mir einen Kubikmeter algerischer Erde besorgt und ihn zusammen mit Djaffar, einem befreundeten Chemiker, der über einen Computer verfügt, analysiert. Wie sich herausstellte, enthält ein Kubikmeter algerischer Erde das Blut von Phöniziern, Berbern, Karthagern, Römern, Vandalen, Arabern, Türken, Franzosen, Maltesern, Spaniern, Juden, Italienern, Jugoslawen, Kubanern, Korsen, Vietnamesen, Angolanern, Russen, Algerienfranzosen, Frankreichalgeriern, Harkis und Beur. Alle zusammen bilden die große Familie der Orangen.

Wo also! Falsch ist die EINS. Zersplitternder Stern und ebenso viele Spiegelsplitter, in denen jeder sein Bild auffängt und die andern verfolgt.

Menschen, Wölfe.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024