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Cover Lettre International 45, Rainer Leist
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Inhaltsverzeichnis

LI 45, Sommer 1999

Vom Sein zum Werden

Der Pfeil der Zeit und die neue Verzauberung der Natur

"Ich denke, daß angesichts der schrecklichsten Bedrohung, die die Menschheit bisher gekannt hat, die Aufgabe des nächsten Jahrhunderts darin bestehen wird, die Götter in sie zu reintegrieren." 
André Malraux

Edmond Blattchen Professor Prigogine, ist dieser Gott, den Sie mit einem kleinen geschreiben, derjenige, an den Einstein dachte, als er sagte: "Gott würfelt nicht"?

Ilya Prigogine Ob er würfelt oder nicht, ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche besteht vielmehr darin, daß Einstein ein Gefühl kosmischer Solidarität zum Ausdruck bringen wollte. Ich denke, für ihn stellte Gott eine Transzendenz dar, den Ausdruck einer Zugehörigkeit des Menschen zu etwas, was über ihn hinausgeht. Und es ist sehr interessant, daß die großen Begründer der modernen Physik - ob nun Einstein oder Bohr, oder auch Schrödinger - dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas, das uns übersteigt, gehabt haben. Und es sind nicht nur die Physiker. Wenn Bergson von der "Schöpferischen Entwicklung" schreibt, einer Evolution, die zum Menschen führt, wenn Alfred North Whitehead von der Kreativität als einer grundlegenden Eggenschaft des Universums spricht, dann ist auch dies wiederum etwas, was den Menschen übersteigt. Ich denke, daß das Wort Gott genau dieses Überschreiten zum Ausdruck bringt, ob man es nun im laizistischen oder im religiösen Sinne versteht. Jedenfalls gibt es ein Problem der Zugehörigkeit. Und ich denke, daß das Thema unseres Gesprächs die Frage der Zugehörigkeit in unserer heutigen Zeit ist: Die Wissenschaften haben sich verändert; was wird nun heute aus diesem Begriff der Zugehörigkeit? In welcher Weise gehört der Mensch zur Welt?

Einstein forderte zum Teil eine kosmische Zugehörigkeit. Wenn Sie von Zugehörigkeit sprechen, dann handelt es sich ebenfalls um die Zugehörigkeit zum Universum...

Zum Universum, natürlich.

Einstein fand bei Spinoza eine Art Vermittlung, das berühmte Deus sive natura, "Gott, das heißt die Natur", die natura naturans; ist es das, worum es Ihnen geht?

Spinoza und Einstein waren zu einer Form von Monismus gezwungen. Dieser Monismus ist uns heute schwer verständlich, weil er in Wirklichkeit aus dem Menschen einen Automaten macht, der sich selbst nicht kennt. In einem meiner Bücher zitiere ich einen Brief Einsteins an Tagore, in dem er schreibt: "Wenn man den Mond fragen würde, warum er sich bewege, so würde er zweifellos antworten, daß er sich bewege, weil er es beschlossen habe. Und wir belächeln dies. In gleicher Weise müßten wir jedoch auch die Vorstellung, daß der Mensch frei sei, belächeln, denn es gibt keinen Grund, warum der Determinismus an der Grenze zum Gehirn Halt machen sollte." Der Determinismus ist die in diesen Monismus transponierte klassische Konzeption der Wissenschaft.

Woher kommt diese klassische, deterministische Konzeption der Wissenschaft?

Diese Konzeption geht auf die Morgenröte des menschlichen Denkens zurück. Da haben wir die Diskussion zwischen den Griechen Parmenides udd Heraklit. Parmenides, für den alles, was ist, ist; Neues kann nicht geschehen, das wäre unvernünftig. Bei Heraklit dagegen ist alles Veränderung. Da haben wir die Diskussion zwischen Gassendi und Descartes, die Diskussion zwischen Newton und Leibniz... Leibniz meint, daß Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen habe, und unter diesen Bedingungen ist die Idee, daß er weiterhin intervenieren müsse, absurd. Newton dagegen denkt, daß Gott weiterhin intervenieren müsse, um Katastrophen zu verhindern. Doch das Modell des Universums, welches Newton beschreibt, wird von reversiblen und deterministischen Naturgesetzen regiert, die seine Nachfolger zu einem immer allgemeineren und umfassenderen Determinismus führen werden. Vom Anfang der Welt an wäre alles festgelegt.

Einschließlich unseres heutigen Gesprächs?

Einschließlich unseres Gesprächs. Es ergibt sich in unweigerlicher logischer Folge aus den Ausgangsbedingungen. Unser Gespräch wäre vom Big Bang an vorprogrammiert. Das ist nun eine Realitätskonzeption, bei der mir scheint, daß sie schwer zu akzeptieren ist. Die klassische Wissenschaft zwang die Menschen entweder zum Dualismus, wie bei Descartes, oder zum Monismus in dem alles automatisch ist, wie bei Einstein oder bei Spinoza. In der klassischen Realitätskonzeption gibt es keine andere kohärente Wahl.

Daher dieser pathetische Dialog zwischen Einstein und Bergson, von denen der eine Determinist und der andere Anhänger der Evolution ist, der "Schöpferischen Entwicklung". Bergson ist ein Philosoph, der Sie sehr beeinflußt hat; man spricht in bezug auf Sie von "wissenschaftlichem Bergsonismus". Ist das eine Definition, die Sie für sich in Anspruch nehmen?

Man hat Bergson immer wieder vorgeworfen, Einstein nicht verstanden zu haben, und das ist wahr. Bergson hat die Relativitätstheorie nicht verstanden. Doch Einstein hat Bergson ebensowenig verstanden! Die grundlegende Idee Bergsons war die einer gerichteten Zeit. Nun wollte aber Einstein keine gerichtete Zeit. Und da Bergson auf der Irreversibilität der Zeit bestand " die 'Schöpferische Entwicklung' ist eben gerade eine gerichtete Zeit", wandte er sich der Metaphysik zu, weil es in der damaligen Physik nichts gab, was erlaubt hätte, eine gerichtete Zeit ins Auge zu fassen. Für Einstein ist die Richtung der Zeit eine Illusion. Dies zu glauben, fällt uns allerdings schwer. Im Grunde genommen besteht mein ganzes Werk in gewisser Weise darin, den Pfeil der Zeit zu rehabilitieren, und zwar nicht von der Metaphysik, sondern von den Gesetzen der klassischen Physik oder der Quantenphysik ausgehend. Für die klassische Physik ist die Welt ein Automat, und wir sind es ebenfalls; entweder befinden wir uns außerhalb dieses Automaten, doch dann sind wir nicht in der Natur! Oder die Realität ist quantisch, so wie Bohr sie beschrieb, doch ist dies noch schwerer zu akzeptieren, weil es dann Realität nur noch in unseren Messungen gibt! Je nach den Messungen, die wir anstellen, haben wir eine andere Realität! Der Übergang von der Potentialität zur Aktualität wäre das Werk des Menschen! Wir müssen also eine andere Realitätsvorstellung suchen.

Eine seltsame Alternative, sowohl auf mikroskopischer wie auch auf makroskopischer Ebene. Ist die Wissenschaft nicht seit dem 19.Jahrhundert mit der Zeit konfrontiert? Mit der Evolution? Darwin, Hubble, Lemaître und der Big Bang. Wie interpretieren Sie den Big Bang? Ist er die Geburt des Universums?

Unabhängig vom Big Bang (auf den wir noch zurückkommen können) gilt es zu sehen, daß die Wissenschaft mehr und mehr eine historische Richtung einschlägt. Das klassische Wissenschaftsideal war im Grunde die Geometrie. Die Relativitätstheorie Einsteins ist eine Geometrie. Vielleicht eine der schönsten Theorien, die der Mensch jemals geschaffen hat. Wir jedoch betrachten die Wissenschaft eher als etwas Erzählendes. In einem meiner Bücher gehe ich so weit zu sagen, daß es sich ein wenig wie mit Scheherezade und den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht verhält. Das Mädchen erzählt eine Geschichte, dann hört sie auf, um eine andere zu erzählen. So gibt es auch eine kosmologische Geschichte, innerhalb derer es eine Geschichte der Materie gibt, innerhalb derer wiederum eine Geschichte des Lebens, und in dieser schließlich unsere eigene Geschichte. Heute kommen wir bei einer dritten Konzeption der Realität an. Zunächst gab es die klassische automatische Realität, dann die unerkennbare quantische Realität (die im wesentlichen durch unsere Messungen determiniert und also relativiert wird; und dies steht natürlich in engem Zusammenhang mit dem Postmodernismus); und nun kommt die dritte Konzeption, die Idee eines in der Konstruktion begriffenen Universums. Eine Idee, die der französische Dichter Paul Valéry sehr gut zum Ausdruck gebracht hat...

Und dies bereits in Le cimetiére marin!

Das war alles in allem die Idee, die auch ich unterschreibe. Selbstverständlich hat diese Idee enorme Debatten ausgelöst. Denn dieses Problem hat die Geistesgeschichte des Abendlands dominiert.

Mit ihrer ganz außerordentlichen Entdeckung der Dissipativen Strukturen um das Jahr 1967 herum führen sie den Begriff der Komplexität ein, der Ordnung, die aus dem Chaos entstehen kann. Ich weiß, daß Sie dieses Wort nicht allzusehr lieben; sagen wir also: aus der Unordnung. Das ist revolutionär; das schockiert einige Leute. Ich denke zum Beispiel an den französischen Mathematiker Rene Thom, der protestiert: "Das ist Desertion!"

Ja, und zwar deswegen, weil für ihn die Wissenschaft auf dem Determinismus basieren muß; wenn man sich dem Determinismus entzieht, ist man ein Deserteur. Im Grunde genommen schlägt er vor: Jesus oder Newton, man muß sich entscheiden. Meiner Ansicht nach ist das Problem auf diese Weise falsch gestellt. Denn wenn das Universum wirklich ein Automat ist, dann kann man unmöglich der Vorstellung entgehen, daß dieser Automat von einem Gott, von etwas von außen Kommendem, in Bewegung gesetzt wurde. Der klassische Materialismus, der klassische Determinismus führt geradezu zu einer Theologie. Wenn Sie dagegen Selbstorganisation haben, eine Konstruktion von innen heraus, dann stellt sich die Frage nach Gott in ganz anderer Weise. Diese Konstruktion kann von den Gesetzen der Natur selbst herrühren, sie kann auch auf einem äußeren Programm beruhen; auf alle Fälle aber gibt es eine Wahl, eine Freiheit und eine Verantwortung.

In Opposition zum klassischen Materialismus gibt es auch den sogenannten Finalismus, das heißt eine Philosophie, die verkündet, daß wir - wir Menschen, der Mensch - der Endzweck, das Ziel des Universums seien. Was denken Sie darüber?

Dies scheint mir wissenschaftlich sehr schwer zu begründen zu sein. Es ist sehr schwierig, sich vorstellen, daß all diese Galaxien, daß das gesamte gewaltige Universum geschaffen wurde, um uns ins Spiel zu bringen. Natürlich schmeichelt uns das.

(...)

Denken Sie, daß es der Menschheit, von Bifurkation zu Bifurkation, gelingen wird, die Herausforderungen, denen sie sich namentlich auf demographischem oder auf ökologischem Gebiet gegenübersieht, anzunehmen?

Ich bin kein Soziologe, und meine Meinung ist die eines Amateurs. Ich möchte aber dennoch sagen, daß es noch eine weitere "Koinzidenz" gibt: Auf der einen Seite unterscheidet sich die Wissenschaft am Ende des Jahrhunderts sehr von jener zu Beginn dieses Jahrhunderts (es gibt da nunmehr dieses narrative Element, von dem wir bereits gesprochen haben); auf der anderen Seite unterscheiden sich die heutigen Gesellschaften insgesamt gesehen ebenfalls sehr von denen zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Es hat erstaunliche Veränderungen gegeben! Zunächst einmal ist der Eurozentrismus systematisch entkräftet worden; und der Begriff der Ungleichheit, der grundlegende und dominierende Begriff zu Beginn dieses Jahrhunderts - es gab die Zivilisierten und die Nichtzivilisierten - wird immer weniger beherrschend. Früher konnte man die 'Nichtzivilisierten' wie Kinder oder beinahe wie Tiere behandeln.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024