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Cover Lettre International 32, Christian Bonnefoi
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Inhaltsverzeichnis

LI 32, Frühjahr 1996

Triumph des Willens

Sex, amerikanische Filme, Nazis und moralische Fragen

(...) In Stummfilmen, ob Komödie oder Melodram, geht es in jeder gestenreichen, wortlosen Szene um die Frage, wessen Wille der stärkere ist. Bis 1939 war das Spiel der konkurrierenden Willen dann raffinierter geworden. Nun haben wir den Willen der Filmemacher, den des Publikums und den Willen des (oder der) Stars, innerhalb und außerhalb der Filmerzählung. Selten geht es darin um einen Konflikt von Willen, sondern sie handelt von - handelt mit - Unschuld und Begierden, von Betrug, Zerstörung und Triumph.

Populär wurden amerikanische Sprechfilme dadurch, daß sie erfolgreiche Willen so eindeutig ästhetisch und optimistisch darstellten. Seit 1939 wird der Wille solipsistisch präsentiert: als Wille eines vereinzelten Träumers mit ein paar Nebenfiguren.

Im realen amerikanischen Leben von heute steht die extreme Politisierung von allem dem Solipsismus ausgleichend gegenüber. Alles ist Verhandlungssache, beruht also auf einer Art von gegenseitiger Anerkennung, die jedoch nicht Anerkennung aufgrund der Ethnie oder Kultur des anderen ist. Oft wird dies als simultanes Auftreten von mehr als einem Solipsismus beschrieben, doch bei dieser Auffassung bleibt unberücksichtigt, daß Individuen sich in ihrer politischen Gewandtheit unterscheiden.

Die amerikanische Ikonographie und die amerikanische Kunst sind weitgehend solipsistisch, nietzscheanisch - wie die Western, die Komödien und Schriftsteller wie Hemingway, Maler wie Jackson Pollock zeigen. Die Geschichten über die großen Ikonen sowie die öffentlichen Bilder von ihnen konzentrieren sich hauptsächlich auf nahezu messianische Gestalten von Überragender, zentraler Stellung - im Film etwa John Wayne, später Brando und Schwarzenegger. Oft liegt Filmen direkt die Form zugrunde, die ich die Oz-Form nenne, Star Wars zum Beispiel; aber das gleiche gilt für die politische Ikonographie. Wahrgenommen werden Reagan, Bush und Clinton in den USA fast vollständig durch einen Filter von Oz-Symbolik. Seit 1939, also nun schon seit Jahrzehnten, behandeln amerikanische Filme den willensstarken Einzelgänger als das Leitbild menschlicher Existenz.

Und doch weiß jeder, der einmal einen Menschen geküßt hat, daß zu einer Zärtlichkeit auch der magische Schock gehört, den Willen eines anderen zu erfahren. Wo zwei Willen vorhanden sind, erhält gerade dadurch, daß noch ungewiß ist, was bei ihrem Zusammenspiel geschehen wird, die dann aufkommende Zärtlichkeit oder Wärme ihren Wert. Der wunderbare Quatsch der Filme - Mutter gegen Hure, oder: Mutter ist eine Hure - ist eine Abwehrpose gegenüber der vollständigen, von vielerlei Willen und einer bunten Vielfalt von Typen bewohnten Welt. Ist das etwa ein spezifisch amerikanisches Phänomen, ein Resultat des amerikanischen Föderalismus? Zunehmend wird es überall zum Problem. Vielfalt existiert tatsächlich, und monolithische Strukturen sind tatsächlich Mythen - instabile obendrein.

Üblicherweise wird in der populären Kunst und in der Pornographie der Koitus durch einen Schleier von Einzelgängerwillen hindurch gesehen, doch das steht für Unberuehrtheit, fuer einen jugendlichen Zustand, in dem der Koitus noch nicht vollzogen worden ist. Die Hochkunst ist formal auf wenigstens zwei Stimmen angewiesen, die des Komponisten und die des Ausführenden - auch dann, wenn der Komponist der ausführende Künstler ist und nur für sich spielt. Die formalen Elemente aber, sei es im Konzert, im Duett, im Pas de deux oder im Dialog, sind antikirchlich, antiabsolutistisch: sie vertreten zwei Gesichtspunkte. Manche Künstler versuchen, dahinter zurückzugelangen zur Idee eines einzigen Willens - doch dann erhält man Wagner, und gelegentlich Beethoven, mit sehr guter Filmmusik. (...)

Die Frage, die in der zur Zeit geläufigen Hollywood-Gleichung implizit enthalten ist, lautet: Wozu erwachsen werden, wenn du dein ganzes Leben lang so gut wie jung, reich, geschmeidig, berühmt und mächtig bleiben kannst? Nun, man wird erwachsen, um sich von solchen Wünschen nicht täuschen zu lassen, denn sie werden nicht in Erfüllung gehen. Es ist den Gesichtern der Stars und Regisseure anzusehen, daß sie altern und sich vergröbern, es ist den Rollen anzusehen, daß die Akteure verleugnen, was sie wissen und was sie empfinden. Man wird erwachsen, um den Tagträumen zu entkommen, um - wenn auch nur für kurze Zeit - man selbst zu werden, was natürlich bedeutet: man selbst in Beziehung zu anderen. Es mag allerdings sein, daß kein Mensch, keine Kunstform wirklich jemals erwachsen wird, daß die Idee des Heranwachsens ein Mythos, eine Metapher ist. Vielleicht werden die Menschen ja nur auf verschiedene Weise wahnsinnig tüchtige Raffer von Vermögen, wenn sie älter werden. Mit Vermögen meinen wir neben Geld und Macht auch Eigenarten. Männer und Frauen vom Film werden jedoch, indem sie altern, zu Kinogebilden, aus denen unter der kosmetischen Chirurgie und den Kostümen noch schwach ein Leben durchschimmert. Und selbst das erscheint, da Filme gegen das Schulzimmer, gegen den Arbeitsplatz eingestellt sind, als unnötige Härte. Aber der Triumph des Willens wird vorgeführt.

Filme sind Freizeit, Freistunde, masturbatorisch, subversiv; sie sind Akte der Dekonstruktion und hängen immer irgendwie mit Verlangen zusammen. Sie spielen mit der Zeit, schicken den Alltagsverstand in Urlaub, sie protzen mit dem Willen und treiben ihn aus, sie verwandeln Macht und sogar biologische Bedingungen in Tagträume. Und dies ist eine der Quellen, der Gründe ihrer Popularität, und ihre Popularität könnte auf ihre grandiose Größe hinweisen. Oder auf ihre massive Dummheit.

Seinen Willen zu bekommen, ohne in die Hölle geschickt zu werden, ist etwas Wunderschönes, und weil amerikanische Filme genau das bieten, liefern sie Wohlgefühl. In ihnen bekommt man es weder mit einem Gleichrangigen noch mit einer Gegenreaktion zu tun, nur nachher vor dem Kino mit dem Schlag, den einem das Licht, die Luft und die Realität versetzen. Amerikanische Filme sind wirklich kulturell gefährlich. Sie erteilen schlechte Lehren. Sie sind, historisch, psychologisch und moralisch betrachtet, schwach. zuerst schwach.

Das Wohlgefühl bereitende Element in europäischen Filmen pflegt ein lyrisches zu sein - Vereinzelung und Frieden, oder Einsamkeit und eine Flucht nach Amerika, in den amerikanischen Westen, dorthin, wo der Wille so verwöhnt wird, wie ich beschrieben habe, eine Flucht hin zu den großen Ebenen, in die Große Freiheit, allein zu sein. Bei all ihren Mängeln dürften die amerikanischen Filme den amerikanischen Traum durchaus angemessen vorführen. Die Dummheit mitsamt dem Glanz, der in ihr steckt, ist zur amtierenden Dummheit gewählt worden. Jeder amerikanische Film zeigt tröstend, daß dem Träumerwillen der Primat gebührt. Das ist philo-phallozentrisch. Aber zum Teufel nochmal, es ist populär.

Filme verherrlichen den Filmemacher maßlos - gemessen an Maßstäben, wie sie entstanden, bevor das Kino erfunden war, also in einem Maße, wie es die Mittel des Sonnenkönigs überstiegen oder die Begabung John Miltons nicht verdient hätte. Hitler kommt natürlich erst später. Und Filme vereerrlichen den Kinogänger. Die Anzahl derer unter uns, die in der Aura, dem orakelhaften Dröhnen und Poltern der Filmwerbung heimisch sind, ist größer als die der Leute, die Bücher lesen, Predigten lauschen oder sich mit Philosophie beschäftigen. Filme füllen die leeren Gefäße der Sehnsucht in uns aus. Sie tun es wegen des Profits. Unter dem Aspekt unserer Filme sind wir nicht-jugendfreies Fleisch und Blut und fast ausschließlich potentielle Abnehmer. In meinem Alter und nach der historischen Epoche, die vergangen ist, mag ich mir kein Urteil über diesen Umstand erlauben. Wir, das Publikum, gehen stets von der Unschuld eines Films aus, solange er nicht unübersehbar intelligent ist. Schläue lassen wir uns gefallen, nicht aber Intelligenz. Dadurch, daß Filme in solchem Maß unrealistisch sind, daß sie so munter mit ihrem Mangel an Intelligenz und mit Schläue als Ersatz für Geist aufwarten, kommt es zu unserer kinematographischen Kultur, deren zwingender Wahlspruch lautet: Es ist doch nur ein Film.

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