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Cover Lettre International 56, Pedro Cabrita Reis
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LI 56, Frühjahr 2002

Ungarn - die Beerdigung der Revolution

Aus der Revolution von 1956 schöpfte die demokratische Wende in Ungarn staatsrechtliche wie auch seelisch-geistige Kontinuität. Der Preis dafür war teuer: eine richtiggehende Tragödie. Der Reformkommunist und reguläre Ministerpräsident Imre Nagy hatte sich nach anfänglichem Zögern auf die Seite der Revolution gestellt. In den Stunden der Niederschlagung des Aufstands durch die sowjetischen Panzer flüchtete er mit seinen engsten Mitarbeitern in die jugoslawische Botschaft. János Kádár, der während der Revolution Vorsitzender der an Nagys Koalitionsregierung beteiligten Kommunistischen Partei wurde und der die Revolutionsregierung in dieser Eigenschaft kräftig unterstützte, verschwand plötzlich nach Moskau und kehrte an der Seite der sowjetischen Truppen zurück, mit der Ankündigung, eine neue – de facto von den Sowjets installierte – Regierung zu bilden.

Dem weggeputschten Imre Nagy versprach Kádár Straffreiheit für den Fall, daß er von seinem Amt zurücktrete und auf diese Weise Kádárs Macht auch staatsrechtlich legitimiere. Nagy lehnte aber diesen Kuhhandel ab, weswegen er mit seinen politischen Freunden zunächst nach Rumänien verschleppt und dann, nachdem er sich weiterhin als unbeugsam erwiesen hatte, in Budapest vor Gericht gestellt und gehängt wurde. Auf diese Weise entledigte sich Kádár zwar seines Rivalen, doch seine Machtübernahme blieb illegitim. Selbst seine späteren – relativen – Verdienste änderten nichts mehr daran, daß er durch Verrat an die Macht gelangt war und den letzten gesetzmäßigen Ministerpräsidenten mit sowjetischer Billigung hatte hinrichten lassen.

Die aus der Revolution geschöpfte Kontinuität durften wir erstmals und am ungetrübtesten am 16. Juni 1989 genießen, anläßlich der Neubestattung von Imre Nagy und seiner Mitverurteilten, obwohl sich diesem wunderbaren Fest bereits ein schaler Beigeschmack zugesellte. Denn auch die Partei von Kádár schloß sich der Festgemeinde an. Trotzdem stellte sich damals auf ganz unrevolutionäre Weise die seelisch-geistige Kontinuität zur Revolution wieder her, weil sich das auf die Straße strömende Volk nach mehr als drei Jahrzehnten der Unterdrükkung auf die unabhängigkeitskämpferischen und demokratischen Traditionen des Aufstands besann und daraus die Legitimität seiner Forderungen ableitete. Die Herrschaft der kádáristischen Staatspartei war erschüttert, und so zeichnete sich auch die Perspektive der staatsrechtlichen Kontinuität ab.

Dem ist allerdings sofort hinzuzufügen, daß die Wiederaufnahme der politischen Kontinuität im veränderten weltpolitischen Umfeld ausgeschlossen war. Die von den 56er-Revolutionären proklamierte Neutralität, die zu einer Zeit der Konfrontation zwischen zwei rivalisierenden militärischen Blöcken die Unabhängigkeit Ungarns gewährleistet hätte, wurde nach dem Zusammenbruch des Sowjetblockes obsolet und hätte angesichts der unruhigen Lage in Osteuropa und auf dem Balkan echte Sicherheitsrisiken heraufbeschworen. Auch dem Programm des demokratischen Sozialismus war der Boden unter den Füßen entzogen worden. Niemand hat nämlich seit dem Bankrott der sowjetischen Planwirtschaft verraten, auf welchen ökonomischen Fundamenten eine von Ausbeutung und Entfremdung freie und freiheitliche Gesellschaft aufzubauen wäre.

Es ist Aufgabe der Historiker, den Weg vom Juni 1989 bis zur zweiten Beerdigung der Revolution nachzuzeichnen, die sich am 4. November 2001 und in den darauffolgenden Wochen vollzog. Ich kann nur auf einige Marksteine dieses Weges verweisen.

An erster Stelle steht die Tatsache, daß keine einzige Regierungsmacht von den ersten freien Wahlen 1990 bis auf den heutigen Tag bestrebt war, eine auf wahren Verdiensten begründete moralische Hierarchie zu schaffen. Dazu hätte man nämlich mit sich ins Gericht gehen und sich zu einer unvoreingenommenen Beurteilung jener Zeit durchringen müssen, die zwischen der Revolution und der Wende verstrichen war. Von der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP), die von 1994 bis 1998 den Regierungschef stellte, ist das nicht zu erwarten.

Diese Gruppierung, die aus dem Reformflügel der Kommunistischen Partei hervorging, bekennt sich aufrichtig zu den Spielregeln und Perspektiven der pluralistischen, kapitalistischen Demokratie und gestaltet ihre Politik im Rahmen der Verfassung. Die Mehrheit ihrer Funktionäre ist jedoch daran interessiert, daß ihre Karriere während des Parteistaates im Dunkel oder zumindest im wohligen Zwielicht bleibt. Die Konfrontation dieser Partei mit ihrer eigenen Vergangenheit ist auch dadurch blockiert, daß sie einen Gutteil ihrer gegenwärtigen Klientel und ihres Beziehungsnetzwerkes aus dieser Vergangenheit mitschleppt. In dieser Vergangenheit galt jede nichtpejorative Erwähnung der Revolution oder des Namens von Imre Nagy als Straftatbestand. Die an die Revolution geknüpften Tabus durfte in der Kádár-Ara kein einziger Funktionär des Parteistaates außer acht lassen.

All das war mir natürlich bekannt, als ich, Gründungsmitglied der 1994 aus der demokratischen Opposition herauswachsenden Partei der Linksliberalen Freidemokraten (SZDSZ), angeekelt vom Machthunger einer im fauligen Brackwasser des Parteistaates konservierten, prinzipienlosen Rechten, für die Koalition mit den Sozialisten eintrat. Das war keine leichte Entscheidung.

Als Teilnehmer der Revolution, als anschließender Bewohner der kommunistischen Gefängnisse, der wegen der mörderischen Rachejustiz des Kádár-Regimes genügend Grund zur Trauer hatte, und schließlich als Mitglied der demokratischen Opposition gegen den Parteistaat vermag ich meine emotionale Entwicklung vom Scheitern der Revolution bis zur Wende so zu beschreiben, daß sich mein Haß auf die herrschende Partei mit dem Verstreichen der Zeit zu ekeldurchtränkter Verachtung verfeinerte.

Dennoch war 1994 bereits absehbar, daß die demokratische Ordnung allein von rechts bedroht ist, von einer Rechten, die – ein osteuropäisches Spezifikum – von den klerikalen, revanchistischen und rassistischen Ausdünstungsgasen der Zwischenkriegszeit angetrieben wird. In den ersten Jahren konnte ich es nicht ertragen – weniger aus prinzipiellen als aus Gründen des guten Geschmacks –, daß sich in der Person des Ministerpräsidenten Gyula Horn ein Mensch vor den Toten der Revolution verneigte, dessen Parteilaufbahn mit den Verdiensten begann, die er sich als Angehöriger der sogenannten Arbeitermiliz, einer zur Unterdrückung der Revolution geschaffenen paramilitärischen Formation, erworben hatte.

Doch die Misere des prinzipienlosen Sicharrangierens mit der Vergangenheit nahm nicht 1994, sondern vier Jahre früher ihren Anfang. Als der erste frei gewählte Ministerpräsident, der Konservative József Antall, in den Besitz der nie veröffentlichten Ergebnisse der Lustration gelangte und so erfuhr, daß die Spitzel des kommunistischen Systems auch in die rechtsgerichteten Parteien geströmt waren und infolgedessen in den Parlamentsfraktionen seiner Partei und ihrer Koalitionspartner wesentlich mehr Spitzel saßen, als man vermutet hätte, sah er sich mit einem unlösbaren Dilemma konfrontiert. Deckte er sie auf oder zwang er sie bloß zum diskreten Rücktritt, dann erschütterte er das Vertrauen in seine Partei und verlor vielleicht sogar die Mehrheit im Parlament. Schloß er jedoch mit den Fakten seinen Frieden, dann war er es, der damit begann, der Revolution das Grab zu schaufeln.

In dieser schwierigen Situation wählte er die schlechteste Lösung. Sein exklusives Wissen verwendete er ausschließlich gegen seine politischen Gegner. So wollte er zum Beispiel den Anführer des extrem rechten Flügels seiner Partei, István Csurka, kompromittieren. Nur daß sich dieser, ein leidenschaftlicher Besucher der Pferderennbahnen, auf ein Hasardspiel einließ. Csurka gestand ein, daß er eine Verpflichtungserklärung als IM unterschrieben hatte, und gründete eine eigenständige rechtsextreme Partei. Seitdem erzeugt er den Eindruck – seine späteren Spitzelberichte waren seltsamerweise nicht mehr auffindbar –, als ob er ausschließlich Berichte über Pferderennen verfertigt hätte.

Auch seine langfristigen politischen Ziele veranlaßten Antall zur Vorsicht. Hätte er nämlich, im Besitz dieser Informationen, ein Gesetz auf den Weg gebracht, das reinen Wein einschenkt, dann hätte er einen Gutteil des Klerus nachhaltig diskreditiert. Die Führungen der anerkannten Kirchen unterstützten bis 1989 unverhüllt den Parteistaat. Jene, die gegen die Inhaftierung der Charta 77-Leute in der Tschechoslowakei protestierten, beschuldigten sie in aller Öffentlichkeit, unter dem „Vorwand" der Menschenrechte „die sozialistischen Errungenschaften" zu attackieren.

Man kann sich leicht vorstellen, welche Schrecklichkeiten die vertraulich behandelten Dokumente ihrer Loyalität bergen. Nicht nur Horn, sondern auch Antall und seine Verbündeten hatten deshalb kein Interesse daran, den informellen Mitarbeitern der einstigen Staatsmacht den Krieg zu erklären. Das Gros der politischen Elite wollte und verdiente ein Stasiunterlagen-Gesetz, das die Menschenrechte der Spitzel über die der Spitzelopfer stellt. In tonangebenden Kreisen der Gesellschaft war das Bedürfnis nach Selbstexkulpierung sogar so groß, daß der Spitzelschutz die Sphäre des Rechts transzendierte.

Statt Verachtung forderte es Verständnis, worin, wie ich anerkenne, eine gewisse Logik liegt. Wenn nämlich die Kooperation mit dem Parteistaat moralisch begründbar ist – und die führende Intelligenz hatte mehrheitlich guten Grund, das zu glauben –, dann, so mochten viele gedacht haben, könnte man die Modalitäten dieser Zusammenarbeit vom moralischen Gesichtspunkt aus nur mit Willkür voneinander unterscheiden. So konnte es geschehen, daß die früheren Spitzel einer nach dem anderen die Orden der Revolution an die Brust geheftet bekamen, daß immer respektablere Persönlichkeiten des Geisteslebens in hochtrabenden Debatten für sie Verständnis, ja sogar Sympathie bekundeten. Die Erde prasselte nur so nieder auf den Sarg der Revolution.

Die letzten Spatenstiche bei diesem Begräbnis erfolgten unter der Agide des Bundes Junger Demokraten (FIDESZ) von Viktor Orbán. Dabei waren die Jungdemokraten allein schon von ihrem Lebensalter her von den Versuchungen des Parteistaates beinahe ausnahmslos unberührt geblieben.

Zu spät bemerkten wir, daß ihr entschlossener Antikommunismus doch nicht ganz so glaubwürdig sein konnte. Unter den Vätern, Geschwistern, Onkeln und Vettern der unerschrockenen Jungrecken sind nämlich zahlreiche ehemalige Parteimitglieder und sogar Funktionäre, die als Mörder zu beschimpfen sich nicht geziemt. Nachdem sie 1998 die Wahlen gewonnen hatten, holten sie sieben ehemalige Parteimitglieder in ihre Regierung, während sie zur gleichen Zeit den Schwall ihrer antikommunistischen Tiraden verstärkten.

Um über die Widersprüchlichkeit dieser Politik hinwegzutäuschen, führten sie die Sprachregelung ein, daß, wer nur aus karrieristischen Motiven Kommunist wurde und nachher den Stall wechselte, ein guter Ungar ist. Wer hingegen die Rolle des Dissidenten auf sich nahm, wie die Mehrheit der Gründungsmitglieder der Freidemokraten, der ist kein ordentlicher Ungar, denn mit seinem oppositionellen Verhalten pfiff er auf die Interessen seiner Familie, was ja bekanntlich ein guter Ungar nie tun würde.

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