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Cover Lettre International 74, David Reeb
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LI 74, Herbst 2006

Kolumbien aus Blei

Paramilitärs vertreiben die Bauern von Peque - Kriegschroniken

Mira befand sich in seinem Büro, als er den schwarzen Fleck entdeckte: Männer, die vorsichtig die Berge herabkamen. Er wußte, daß es „die Herren der Autodefensas" waren, denn einen Monat zuvor hatten sie in einem Kommuniqué ihre Absicht mitgeteilt, den westlichen Verbindungskorridor zurückzugewinnen, der das Herz des Departamentos Antioquia mit Urabá und dem Meer verbindet. Als Carlos Castaño noch Anführer der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC  der „Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens") war, hatte er sich seit Mitte 2000 vorgenommen, diese zehntausend Einwohner zählende Gemeinde zu erobern, die in einem Cañon zwischen dem Bergrücken von Abibe und dem Gebirgsknoten von Paramillo, seinem wichtigsten Unterschlupf, eingeschlossen ist. Er brauchte Peque, um eine Verbindung von den Ortschaften im Südwesten von Antioquia mit Ituango und Turbo in Urabá herzustellen, dem Hafen, über den sie Waffen einführten und Koka exportierten. Dieses Gebiet hat auch ein großes Wirtschaftspotential, denn die Talsperre Pescadero-Ituango  und die zukünftige Uferstraße am Río Cauca, die durch Peque führen wird, könnten die Bodenpreise verdreifachen.

Die Paramilitärs blockierten schon seit drei Monaten die Nahrungsmittelzufuhr nach Peque. Sie wollten die Guerilleros der FARC (Fuerzas -Armadas Revolucionarias de Colombia - der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens") aushungern. Diese hatten sich seit 1999 in den Siedlungen festgesetzt, als es ihnen nach mehreren Angriffen auf die Polizeistation gelungen war, die Polizisten zu vertreiben. So übten sie nun die Autorität über das Landgebiet aus, in dem zwei von drei Pequensern leben. Wenn jemand mit einer Entscheidung des Amtsrichters nicht einverstanden war, beschwerte er sich beim Guerillaführer, der seinem revolutionären Kodex entsprechend letztinstanzlich entschied, wobei dieser stets ungewiß war  er hing mehr von seiner Laune als von feststehenden Normen ab , aber stets erfolgreich wirkte. Wer hält sich nicht an einen Urteilsspruch, der von einem Gewehr nachdrücklich unterstützt wird? Der Guerillaführer bestellte oft auch den Bürgermeister zu sich, um mit ihm die Verwendung der Gemeindemittel zu vereinbaren, oder er lud den Pfarrer vor, um Fragen des sittlichen Verhaltens zu besprechen. Außerdem waren alle Kaufleute verpflichtet, der Guerilla einen monatlichen Betrag zu entrichten. Sie waren die Autorität. Als die Paramilitärs damit begannen, den Ort einzukreisen, waren es allerdings die Bauern, die Hunger litten.

Der Bürgermeister von Peque sah sich damals genötigt, die Hilfe des Heeres in Anspruch zu nehmen, damit Castaños Autodefensas gestatteten, daß man Lebensmittel aus Frontino, einer fünf Stunden entfernten größeren Ortschaft, herbrachte. Er konnte erreichen, daß die AUC Einkäufe von höchstens 40 000 Pesos für jede Familie durchließen. An Kontrollpunkten auf dem Weg verlangten sie die Rechnung, und wer sie nicht vorweisen konnte, verlor entweder die Einkäufe oder das Leben, je nach der Laune des diensthabenden Paramilitärs. Selbst wenn man eine Quittung hatte, war nichts garantiert. Eine Frau fuhr dreimal im Monat zum Einkaufen. Die Paramilitärs brachten sie um, weil sie den Verdacht hegten, die Frau versorge die Guerilla. Nach und nach zog sich der Sperrgürtel der Paramilitärs zusammen. Seit mehreren Monaten ertrugen die Pequenser eine Hungerkur, die außerdem noch kostspielig war, denn die Besitzer mancher Lebensmittelläden nutzten die Beschränkungen, um mit ihren Waren zu spekulieren. Wenn nämlich auch alle im Krieg verlieren, so gibt es doch einige, die dabei gewinnen.

In den letzten Wochen hatten die Paramilitärs mit den FARC in Buriticá, an der Grenze zu Peque, gekämpft, und deshalb wußten alle im Ort, daß ihre Ankunft unmittelbar bevorstand. Wie die anderen wartete Mira mit Schrecken auf sie.

Als der erste Bewaffnete den Platz betrat, rannen ihm Schweißtropfen über den Rücken. Während Mira vor Angst zitterte, bat er Gott um die nötige Kraft, seinen Ort schützen zu können. Ein paar Minuten später tauchte der zweite Paramilitär auf und fünf Meter dahinter der dritte. Um zwei Uhr nachmittags war Peque von ungefähr 200 Paramilitärs eingeschlossen.

Der Menschenrechtsbeauftragte Mira und César Pineda, der Regierungssekretär, nahmen all ihren Mut zusammen und gingen dem Führer der Autodefensas entgegen. Der war ein dunkelhäutiger und korpulenter, ungefähr fünfunddreißigjähriger Mann aus Antioquia mit dem Decknamen „Marcos". Bei ihrem kurzen Treffen hinter der Kirche gab ihnen Marcos drei Tage Zeit, um die Leute in die Nachbargemeinde Dabeiba zu evakuieren. Es sei seine Absicht, erklärte er ihnen liebenswürdig, das Gelände zu räumen, damit er gegen die FARC kämpfen könne. Die Autodefensas nahmen an, die Guerilla könne im Bergwald nicht überleben, wenn sie nicht von verkappten Milizangehörigen im Ort unterstützt werde.

Mira erklärte Marcos, wie schwer es für die Bauern wäre, den Ort zu verlassen, bevor sie ihre Ernte eingebracht hätten. Er bat ihn, die Frist zu verlängern. Marcos schien ein vernünftiger Mann zu sein. „Er hat uns gesagt, über die Evakuierung aller Pequenser nach Dabeiba lasse sich nicht verhandeln", erzählte mir Mira. Doch er ließ ihnen mehr Tage Zeit und versprach, nur die zu töten, die nicht gehorchten. Er wollte sie beruhigen.

Während mehrere Paramilitärs den Tresor des Banco Agrario ausraubten und die Lebensmittelläden, die zwei Apotheken und die wenigen Geschäfte des Ortes plünderten, gingen andere von Haus zu Haus und luden die Pequenser zu einer Versammlung im Zentralpark vor. Dort teilte ihnen Mira den Befehl mit, daß sie Peque räumen und nach Dabeiba gehen sollten. Vergebens bemühte er sich, sie zu beruhigen (einige Frauen fielen in Ohnmacht), indem er erklärte, daß die Autodefensas niemanden umbringen wollten. Dann nahm Marcos das Mikrophon und bestätigte, daß sie an diesem Tag „ungeheuer gut drauf" seien und darum keinen töten wollten. „Das Bild von den Kopfabschneidern mit Motorsäge stimmt nicht, wir wollen nur das Volk verteidigen", sagte er und schlug einen Ton an wie ein Politiker im Wahlkampf. Allerdings drohte er damit, diejenigen „in die Grube zu schicken", die man hier vorfinden werde, wenn sie in einem Monat zurückkehrten. Am Ende seiner Rede verlangte er nach Freiwilligen, die fünf Tage lang Vieh wegtreiben sollten. Da sich niemand von selbst meldete, suchte Marcos sie aufs Geratewohl aus.

Er bestimmte Jaime Giraldo, der auf einem Landgut arbeitete, sein Abendabitur vorbereitete und in der Gemeinde als Wortführer auftrat. Jaime hielt gerade seine vierjährige Tochter im Arm. Als Marcos mit dem Finger auf ihn zeigte, sah er sich nach allen Seiten um und fragte erschrocken: „Ich?" Die Tränen seiner Frau bestätigten es ihm. Während Jaime aus der Menge hervortrat und abwartete, daß auch die übrigen 34 Männer ausgewählt wurden, dachte er an seine Schwestern und seine Mama, die nun keinen Mann mehr zu Hause hätten. Er war traurig, denn er nahm an, er würde sie nie wiedersehen.

Ohne weitere Erklärungen nahm ihnen Marcos die Personalausweise ab und schickte sie zusammen mit einem Untergebenen zum Kaffeelagerhaus, wo sie Gummistiefel in ihrer Größe stehlen sollten. In dieser Nacht schliefen sie auf dem Fußboden des Jugendheims und wußten nicht, ob sie den nächsten Morgen erleben würden.

Marcos übernahm inzwischen das Rathaus. Er saß auf dem violett gepolsterten Stuhl des Bürgermeisters von Peque und empfing eine Delegation, die aus dem Menschenrechtsbeauftragten, dem Regierungssekretär und dem Pfarrer bestand. Die drei erklärten dem Führer der Paramilitärs nachdrücklich, die Leute hätten kein Geld, um den Bus zu bezahlen, und noch viel weniger, um an einen anderen Ort zu ziehen. Und die wenigen, die ein Sparbuch besäßen, hätten gerade ihre Centavos verloren, als man den Banco Agrario ausraubte. Sie baten ihn um Verständnis und Mitgefühl. Da sie immer weiter auf ihn einredeten, nahm Marcos sein Handy und rief seinen Vorgesetzten an  das war höchstwahrscheinlich Carlos Castaño. Von ihm erhielt er die Genehmigung, den Räumungsbefehl zu widerrufen, falls Heer und Polizei das Gebiet sicherten. An diesem Abend kehrte Roberto Mira etwas ruhiger nach Hause zurück, doch er konnte keinen Schlaf finden.

(...)

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