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Cover Lettre International 64, Lila Polenaki
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LI 64, Frühjahr 2004

Europas Comeback

Marjampole oder die stille Verfertigung eines Kontinents

Kaum jemand kennt Marjampole. Marjampole ist, was man eine Provinzstadt nennen könnte. Es liegt auf der litauischen Seite des Suwalkigebietes, inmitten einer hügeligen, wald- und seenreichen Landschaft. Die Stadt hat ungefähr 50 000 Einwohner, ihre Geschichte begann eigentlich in dem Augenblick, als im Jahre 1829 die Straße von Sankt Petersburg nach Warschau fertiggestellt wurde. Der in verspätetem Jugendstil errichtete Bahnhof von 1926 weist heute noch auf die Bedeutung der Eisenbahn hin. Sonst gibt es eine strahlend weiße Kathedrale, alte Schulgebäude und einen Betonklotz aus den siebziger Jahren, der die Verwaltung der Stadt beherbergt. Das gewaltigste, weithin sichtbare Bauwerk ist die Batterie von Getreidesilos in der Nähe des Bahnhofs. Man merkt der Stadt am Suspefluß an, daß sie Zentrum der ganzen Region ist: Hier gibt es Kliniken, Anwälte, Behörden, Schulen, eine große Buchhandlung. Es gibt auch Hinweise darauf, daß Marjampole einmal eine Stadt der litauischen Judenheit war mit einer Gemeinde von rund 3 000 Juden, guten Schulen, einigen Zeitungen, zahllosen Vereinen. Gleich in den ersten Wochen der deutschen Besatzung, im September 1941, wurde diese komplett ausgerottet. Die Umgebung ist punktiert von Orten der Massenexekutionen. Doch kaum jemand kommt dieser Vergangenheit wegen nach Marjampole. Orte wie Marjampole gibt es zu Hunderten, zu Tausenden im östlichen Europa. Sie sind so gewöhnlich in diesem von Gewalt verheerten Gelände, daß sie kaum der Rede wert sind. Aber wir sprechen von Marjampole nicht, weil es ein Ort mit Vergangenheit ist, sondern als einem Ort in der Gegenwart. Marjampole ist so etwas wie ein Mittelpunkt Europas, wenn auch nicht im Sinne der Geographie.

(…)

Marjampole ist wie eine europäische Pump- oder Meßstation. Seine Funktion ist die Vermittlung. Von der einen Seite der Grenze wird etwas auf die andere Seite geschafft. Der Ort lebt von der Ausbeutung der Differenz. Er ernährt sich von der Grenze und der Spannung, die da entsteht, wo es Gefälle gibt. Hier sieht man das Gesetz von Angebot und Nachfrage in Aktion. Wie jeder Basar ist er eine Welt für sich, ein Ort, wo Welten aufeinandertreffen. Die hohe Kultur will mit so etwas nichts zu tun haben. Sie schämt sich der Trivialität, ja Schmutzigkeit des Busineß, erst recht des Busineß mit Gebrauchtwagen. Und doch haben die Händler hier nicht weniger mit der Verfertigung Europas zu tun als die Schriftsteller, Künstler, Interpreten und Maler, die Litauen vor zwei Jahren zur Frankfurter Buchmesse entsandt hatte. Diese Händler haben keine „zivilisatorische Mission", aber sie arbeiten an etwas, was Europa als zivilisatorischen Zusammenhang wieder entstehen läßt. Sie sind keine Sprachkünstler und keine Linguisten, aber eine gewisse Mehrsprachigkeit gehört zu den Voraussetzungen ihres Jobs. Sie sind nicht die Vertreter jener kosmopolitischen Kultur, die der Liebling des arrivierten Kulturbetriebes ist; dafür kennen sie sich in der Welt aus. Weltläufigkeit ist Bedingung ihrer Arbeit. „Grenzüberschreitung" ist für sie keine intellektuelle Mode, sondern tägliches Brot im Überlebenskampf. Sie stehen 17 Stunden in Kalwarija an der litauisch-polnischen Grenze und noch einmal so lange in Swiecko/Frankfurt/Oder an der polnisch-deutschen Grenze. Sie kennen Europa nicht nur vom Hörensagen und nicht nur als Gemeinschaft von Werten und Prinzipien, sondern als Raum, den sie Dutzende Male von einem bis zum anderen Ende durchmessen haben. Sie sind keine Romantiker; sie müssen auf die Ausschläge auf ihrem Fahrtenschreiber achten und sind der Diktatur der Zeit unterworfen. Aber die meisten von ihnen ziehen das Abenteuer auf den Straßen dem Hockenbleiben zu Hause vor. Sie sind Aktivisten der Fortbewegung. Fernfahrer arbeiten an der Verkürzung von Distanzen, sind Spezialisten der Herstellung von Nähe.

Sie gehören zu dem Personal, das Europa nach 1989 hat entstehen lassen; Helden und Heldinnen der Mühen der Ebene, Aktivisten der Herstellung von Normalität. Marjampole ist der Durchgangspunkt, an dem ein wacher Beobachter, nähme er endlich das Thema ernst, seine Wunder erleben könnte. Diese Autohändler bringen Erfahrungen zusammen, die man macht, wenn man Autos von Gebrauchtwagenhändlern aus Frankfurt-Niederrad, Wuppertal oder Fürstenwalde/Spree nach Sowjetsk/Tilsit, Kaluga oder Duschanbe vermittelt. Sie alle haben ihre Reviere, sie kennen die Inseratenteile der hessischen oder brandenburgischen Lokalzeitungen. Sie pflegen Kontakte zu den türkischen, albanischen oder moldawischen Zwischenhändlern. Sie kennen Vor- und Nachteile des Transports über See: aus Antwerpen, Bremerhaven, Rostock nach Kaliningrad oder Klaipéda.

Marjampole ist der Haltepunkt inmitten eines Stroms, der nicht mehr abreißt. Und er ist nur einer unter unzähligen Haltepunkten an den vielen Strecken, an denen Europa neu zusammenwächst. Wer, sagen wir, die Strecke Tallin–Berlin oder Kaunas–Prag zurückgelegt hat, bekommt eine Ahnung von der Wucht der Kräfte, die das neue Europa tragen. Der Strom der Trucks fließt Tag und Nacht und reißt nicht ab. Besonders nachts, wenn der Berufs- oder individuelle Reiseverkehr ruht und die Straße völlig den Trucks gehört, wird dies sinnfällig. Der Strom der LKWs zwängt sich durch schmale Korridore. Streckenweise verläuft er über Autobahnen und autobahnähnliche Straßen – zwischen Riga und Daugavpils/Dünaburg, Klaipéda/Memel und Kaunas oder Konin und Poznaƒ. Doch der größte Streckenteil führt durch Städte und kleine Marktflecken, deren Straßen angelegt wurden, als es Trucks noch nicht gab. Überall gibt es Nadelöhre, an denen sich die Bewegung verlangsamt und zum Stillstand kommt: in den Umgehungen der großen Städte – Riga, Warschau, Posen mit ihren zum Teil bizarren Umleitungen und Straßenführungen – vor allem aber an den Grenzorten. Ivangorod/Narva an der russisch-estnischen, Ainazi an der estnisch-lettischen, Elaja an der lettisch-litauischen, Kalwarija an der litauisch-polnischen, Swiecko/Frankfurt/Oder oder Sczeczin/Pomellen an der polnisch-deutschen Grenze sind Orte des Staus. Grenzen sind unberechenbar, sie lassen – etwa durch die Installierung einer Röntgenkontrolle in Kalwarija an der litauisch-polnischen Grenze – Planungen wertlos werden. Konvois stehen in einer Länge von zehn bis zwanzig Kilometern. Wartezeiten bis zu zwanzig Stunden sind nicht ungewöhnlich. Die Abwicklung der Übergänge, die Paß- und Zollkontrollen geben den Rhythmus und das Fahrtempo vor: 75 Kilometer pro Stunde. Jede Tempoüberschreitung kostet sehr viel Geld, die Tachonadel auf dem Fahrtenschreiber gibt exakte Auskunft. Ruhezeiten müssen auf die Minute genau eingehalten werden. Dieser große Treck bewegt sich so Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr in unerhörter Disziplin von einem Ende Europas zum anderen und zurück. Diese Bewegung hat sich ihre Umgebung geschaffen, einen Korridor mit allem, was dazu gehört: Stehplätze, Tankstellen, Raststätten, Hotels, Motels, Parkplätze, Imbisse, Bars, Werkstätten, Straßenmeistereien, Polizeistationen. Tag für Tag rollt die Parade der internationalen Speditionen durch die Kleinstädte. Der Troß der Trucks hat die Ortschaften verändert, durch die er unaufhörlich rollt: Städte wie Suwalki, Augustów, Elk, Grajewo, Lomza, Wyszków, Sochaczew, Komin werden passiert. Wenn Litauens Haine und Fluren im Dunkel versinken, bleibt der Korridor hell erleuchtet. Hier herrscht die grelle Rhetorik der bill boards. LKW-Fahrer interessieren sich kaum für Sehenswürdigkeiten, eher für den Zustand der Fahrbahnen und den Abstand zwischen Alleebäumen, für Baustellen, Umleitungen und die Spurrillen, die die Ungetüme in den sommerlich aufgeweichten Asphalt gedrückt haben.

Die Zeiten der Wegelagerei auf bestimmten Teilstrecken sind glücklicherweise vorbei. Anfang der neunziger Jahre hatten Banden weite Strecken, vor allem in Polen und Weißrußland, durch Schutzgelderpressungen, Entführungen und Überfälle unsicher und gefährlich gemacht. Es verschwanden Chauffeure, die bis heute nicht wieder aufgetaucht sind. Ein anderes einträgliches und für die Fahrer kostspieliges Geschäft hat sich entwickelt: Radar- und andere Kontrollen. Die LKW-Fahrer zwischen Tallin, Kaunas, Posen und Berlin kennen die Ortsausgänge, die Kurven und Brükken, wo man mit Blitzern rechnen muß, und geben per Funk Warnungen oder Entwarnungen durch. So stellt sich eine neue Vertrautheit mit einem fremden Kontinent ein.

Es gibt ein Europa, das wächst: lautlos, fast unbemerkt, unspektakulär. Es wird kaum thematisiert, hat wenig Resonanz, da es von Selbstverständlichkeiten handelt, mit denen sich Berufseuropäer und Konferenzprofis nicht abgeben. Dieses Europa hat fast keine Stimme, weil es nicht von Berufs wegen mit Literatur, Visionen oder politischen Projekten beschäftigt ist, sondern mit der Bewältigung des Alltags und den Routinen, die normales Leben möglich machen. Dieses Europa findet man nicht auf Kongressen, sondern auf Autobahnen, in Zügen, an Grenzübergängen. Hier arbeiten Spezialisten der Logistik, des Speditionswesens, des Marketings, des Immobiliengeschäfts, der Infrastruktur. Sie sind die Konterbandisten des Ausgleichs. Sie haben noch keinen der vielen Preise für Europäertum bekommen, und doch sind sie die Pioniere des neuen Europa: Spediteure, Filialleiter internationaler Unternehmen, Händler, berufsmäßige Grenzüberschreiter. Gelänge es, sie einmal alle zusammenzubringen, dann könnten sie von den Kriechströmen erzählen, von deren Energie das neue Europa sich speist und von denen erst die Rede sein wird, wenn sie ihre Arbeit getan haben.

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