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Cover Lettre International 80, Philip Taaffe
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Inhaltsverzeichnis

LI 80, Frühjahr 2008

Leichenwäscher

Lao Wei: Meister Zhang, seit wieviel Jahren machen Sie diese Arbeit?

Zhang Daoling: Schon fast vierzig Jahre, wird Zeit, daß ich aufhöre. Ich gehöre zur alten Garde dieses Bestattungsinstitutes, 1957 kam ich frisch von der Kosmetikfachschule hierher. Das war die Zeit der Kampagne gegen die Rechtsabweichler; gehörte man nicht zu einer staatlichen Organisation, galt man gleich als Rechtsabweichler. Damals hatten wir nicht viel zu tun, verbrannten jeden Monat gerade mal ein paar Leichen, inklusive der Unidentifizierten. Zwar propagierte das Zentralkomitee die Kremation, und der Große Vorsitzende Mao, Delegiertenvertreter Zhu, der Vorsitzende Liu, Präsident Zhou und andere hatten schon vorbildlich die Einwilligung zur Verbrennung ihrer sterblichen Überreste unterschrieben, aber die Bestattung in der Erde ist nun mal eine jahrtausendealte chinesische Tradition, das läßt sich schwer ändern. Da ich mich im Bestattungsinstitut kaum nützlich machen konnte, übertrug mir der Chef die Verantwortung für die Wandzeitung. Zum Glück folgte eine politische Kampagne auf die nächste, und ich konnte in meinem Beruf voll aufgehen.

Das hat doch mit Ihrem Beruf gar nichts zu tun.

Zu Zeiten des Primats der Politik ist die Politik unser aller Beruf. 1958, zur heißesten Zeit der Stahlproduktion in Dalian, kamen die Volksmassen mit dem Vorschlag an, aus dem Krematorium einen Hochofen zur Stahlerzeugung zu machen. Es hieß: „Ihr verbrennt doch sowieso nur ein paar Leichen pro Jahr, produziert doch lieber Stahl und leistet euren Beitrag zur Kampagne England übertreffen und mit Amerika Schritt halten!“ Der Chef erklärte ihnen, daß das zweierlei Arten von Öfen seien, aber die Massen wollten ihm nicht glauben, da Menschen schmelzen und Stahl schmelzen doch wohl ein und dasselbe seien. Sie schimpften ihn einen Feind des „Großen Sprungs nach vorn“, nahmen ihn fest und ließen gleich noch Erz und Koks aus dem Krematorium mitgehen. Zum Glück kam der Parteisekretär des Kreises herbeigeeilt und brachte den Mob zur Ruhe; man einigte sich darauf, innerhalb des Bestattungsinstitutes einen kleinen Hochofen der Marke Eigenbau aufzustellen. Daraufhin war richtig was los bei uns. Menschen wurden keine mehr verbrannt, aber dafür nicht gerade wenig Schrott produziert. Ich murkste mitten in der Menge mit herum, und so kam ich auch bei meiner jetzigen Frau zum Zuge, die war Mitglied der Kommunistischen Jugend und hatte schnell vergessen, daß ich eigentlich ein Leichenwäscher bin.

Wann hatten Sie in Ihrem eigentlichen Handwerk denn mal viel zu tun?

Nach drei Jahren voller Naturkatastrophen starben in unserem Landkreis Zehntausende an Hunger. Von Beerdigen konnte keine Rede sein, auch mit den Särgen kam man nicht nach, man konnte sie gerade in eine Strohmatte wickeln und zu uns schicken. In der zweiten Hälfte der Sechziger hatten wir alle Hände voll zu tun, es wurden Nachtschichten eingeführt. Das war nicht so wie heute, wo auf Knopfdruck das Förderband angeht, man den Schalter umlegt und nach dem Verbrennen hinten die Asche rauskommt. Damals war Leichenverbrennung Knochenarbeit, man mußte sie selbst reinheben, manchmal mit dem elektrischen Messer zerteilen, die Flammen züngelten einem entgegen, und das Gesicht wurde schwarz vor Ruß. Obendrein heulten und klagten draußen die Angehörigen, und man kam sich selber wie der Henker vor.

Sind Sie nicht ein Kosmetiker? Warum mußten Sie denn als Feuerbestatter arbeiten?

Das waren alles arme Teufel, die an Hunger starben, von wegen Kosmetik! Anfangs steckte ich ihnen noch die heraushängende Zunge wieder in den Mund und polsterte ihnen die Wangen mit Baumwolle auf; später konnte man auf so was nicht mehr achten, man mußte einfach so tun, als hebe man ein Bündel Feuerholz nach dem anderen rein, und fertig. Im Frühjahr 1961 kam die absolute Hungersnot, Hunderttausende von Menschen wälzten sich durch ländliche Gebiete auf der Suche nach irgend etwas, um ihre Mäuler zu stopfen. Baumrinde, Wurzeln, Wildkräuter, sogar Insekten. Klar konnte man in den abgelegenen Bergen noch irgendwas Gutes finden. Manche streiften endlos in den Bergen herum, bis sie hinfielen und nie wieder aufstanden. Wir parkten die Lastwagen zum Abtransport von Leichen am Fuße der Berge am Straßenrand und warteten auf die Militärkader, die die Grundherren, Großbauern, Konterrevolutionäre und andere üble Elemente aufreihten, um sie zum Leicheneinsammeln die Berge hinaufzuschicken. Die „fünf üblen Elemente“ waren aber zu schwach vor Hunger. Wenn man ihnen nicht wenigstens ein Dämpfbrötchen zu essen gab, hielten sie sich die Köpfe und sanken in sich zusammen; selbst wenn man sie mit dem Gewehrkolben drangsalierte, kamen sie die Berge nicht rauf. Deshalb erfand der örtliche Parteisekretär eine Leichenentsorgungsmethode, bei der jeweils ein paar Leichen mit einem Strick zusammengebunden wurden und mit vereinten Kräften nach unten gerollt wurden. Das hat ordentlich Kraft gespart.

Habt ihr nicht selbst auch Hunger gelitten?

Eine eiserne Ration hatten wir garantiert, aber es reichte nicht, um sich den Bauch zu füllen. Der Landkreis schenkte unserer Einheit besondere Beachtung, denn weder wir noch der Ofen durften einen Funktionsausfall haben. Anfang 62 kamen schließlich Fälle von Kannibalismus auf, ein Großteil der von den Bergen heruntergeholten Leichen hatte beschädigte Körperteile, es fehlte das Fleisch an Oberschenkeln, Oberarmen, Schultern und Hintern. Die wurden auf Anordnung des Chefs schnellstens entsorgt.

Damals schwärmte nachts heimlich die Volksbefreiungsarmee aus, nahm die verrückten Menschenfresser fest und bestrafte sie. Rate mal, warum die Leute Menschen gegessen haben? Nicht etwa, weil Menschenfleisch so lecker ist, sondern weil sich der Magen von der Kleie der Brotkrumen und der teigigen weißen Tonerde, die man vor Verzweiflung in sich hineinstopfte, so schwer aufblähte, daß man nicht mehr scheißen konnte, und man Menschenfleisch als Abführmittel brauchte.

Sie haben es ja noch gut überstanden. Ich habe 62 die Wassersucht bekommen und bin fast gestorben, darum habe ich furchtbare Angst vor dem Hungern. Mein Vater war damals Kader und brachte heimlich ein bißchen was zu essen mit nach Hause, während er selbst sich draußen hier und dort was zu essen und trinken erwilderte. In der Tasche seiner Mao-Uniform steckten immer zwei Füllfederhalter und ein Löffel, und sobald er irgendwo jemanden mit einer Schüssel in der Hand sah, zog er grinsend seinen Löffel raus, um mal zu probieren. Er hatte scharfe Augen, nichts entging ihm, so gaben sie ihm den Spitznamen „Leiter der Radarabteilung“.

Scheint kein einfacher Mensch zu sein, Ihr Vater.

Wechseln wir das Thema, das ist alles schon lange her. Wie ging es weiter, hatten Sie Ihr Handwerk schon verlernt?

Später wurde das Bestattungsinstitut erweitert und eine eigene Trauerhalle angebaut. Gleich hinter der Seitentür der Halle lag das Zimmer für die Leichenwäsche. Die Naturkatastrophen waren vorüber, die Russen hatten uns auch nicht das Genick gebrochen, das Bestattungsinstitut konnte endlich professionelle Arbeit machen. In diesen Jahren konnte die Kunst der kosmetischen Verschönerung sich gegen ihre Gegner durchsetzen, es war eine kulturelle Blütezeit, man hatte mehr Geld, entsprechend stieg die Nachfrage. Die einfachen Leute vermieden zwar immer noch kostspielige Trauerzeremonien, leisteten sich aber eine Abschiedszeremonie, wobei sich die Kosmetik auf ein bißchen Gesichtwaschen, Haare kämmen, den Kiefer aufpolstern und mit ein bißchen Rouge drübergehen beschränkte.

So einfach ist das?

Das habe ich nicht gesagt, es kommt immer auf den sozialen Status des Verstorbenen an. Eine komplette Leichenwäsche bedeutet, die Leiche erst gründlich von innen und außen zu waschen, alles mit einem desinfizierenden Duft einzusprühen, frische Kleidung anzuziehen, die Haare zu frisieren. Dann werden alle sichtbaren Hautpartien massiert, von der Stirn, den Wangen, den Lippen und dem Hals bis zu den Händen; das wiederholt man, bis man den Toten quasi wieder lebendig gemacht hat und seine Haut so elastisch wirkt wie die eines Lebenden. Dann wird sie mit Öl eingerieben, bis sie schön glänzt, danach kommt das Make-up; alles in schön gleichmäßigem Rhythmus, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Die Farben müssen passen, die Wimpern, Mundwinkel, Nasenlöcher, alles muß stimmen, aber die Crux sind die Augen, ob man den Anschein eines friedlich Schlafenden hinbekommt. Überleg mal, wenn die Leute sterben, liegen sie erst mal zwei, drei Tage zu Hause, werden für die Riten aufgebahrt; bis sie ins Bestattungsinstitut kommen, sind sie schon steif, die Wangen sind eingefallen, die Haut aschgrau; und wenn es heiß ist, bekommen sie diesen strengen Geruch. Wenn die Angehörigen eine Trauerzeremonie wollen, mit Leichenwäsche und Make-up, hat man große Schwierigkeiten. Deshalb muß man für diesen Beruf eine besonders gesunde Physiologie und Psyche haben, ähnlich wie ein Mediziner, der das Messer führt – wie willst du denn, ohne deinen Körper genau zu kennen, die Grimasse eines qualvoll zu Tode Gekommenen in einen normalen Gesichtsausdruck zurückverwandeln, ihn sogar lächeln lassen?

Das braucht ganz schön Courage.

Das hat mit Courage nichts zu tun, ist alles eine Frage der Praxis; wenn es nichts wird, muß man alles von vorne machen, Übung macht den Meister! Viele Schriftsteller haben Geschichten über das Verweilen in Leichenhäusern geschrieben, aber ich habe hier schon so viele Jahre zugebracht, ich kenne alle Geschichten, Monster und bösen Geister! Während der Kulturrevolution wollten sie mir mal einen Schreck einjagen, sie entwendeten nachts eine Leiche aus der vollen Halle und stellten sie vor meinem Arbeitszimmer auf. Als ich mitten in der Nacht aufs Klo gehen wollte, machten sie Geräusche von Summen und Flügelschlagen nach, und ich traf mit dem Mund voll auf einen anderen Mund … Da habe ich mich schon erschrocken, aber zum Glück bin ich ja so etwas gewohnt und lasse mir nichts vormachen. Ich habe die Leiche gepackt und ihr rechts und links eine gewischt und sie dann geschultert und wieder weggeschlossen. Ansonsten war es mir egal, bis auf den Formalingeschmack im ganzen Mund, wegen dem ich mir wie wild den Mund ausspülen und die Zähne putzen mußte.

Mir läuft es kalt den Rücken runter, aber Ihnen scheint das gar nichts auszumachen.

Ich habe einfach Talent dafür, mit diesem Zeug umzugehen. Während der Kämpfe in der Kulturrevolution ging es hier auch hoch her, es verging kaum ein Tag, an dem nicht eine in eine rote Fahne eingewickelte Leiche angeliefert wurde. Mit vorgehaltener Waffe ließen mich die Roten Garden ihre Waffenbrüder verschönern. Es gab Leichen, wenn man die ins Becken legte, färbte sich das Wasser tiefrot. Nachdem man sie wieder herausgefischt hatte, klebte man erst mal Pflaster auf die in den Körper gebohrten Löcher und steckte sie wieder in die Soldatenuniform. Es gab einmal einen Anführer der Roten Garden, der von seinen Widersachern mit dem Messer abgestochen worden war und noch im Sterben mit den Zähnen geknirscht hatte und dem die Augen aus den Höhlen traten. Ich habe mich ewig abgemüht, sie wieder hineinzubekommen, aber es blieb mir nur übrig, die Lider mit einer großen Pinzette fest drüberzuziehen. Der Mund allerdings war noch fester verschlossen als das Stadttor, den habe ich mit dem Korrekturmesser nicht aufgekriegt, also zog ich das Mundöffnungswerkzeug raus und brach ihm die ganzen Vorderzähne.

Schlosser sind Sie also auch schon gewesen …

Sie sagen es. Meiner Schlosserkunst fehlte nur noch, diesem Schnabel ein bißchen Wohlgeruch zu verpassen. Ich nahm eine Zahnbürste und stach damit in ein Nest von Würmern, die Zunge war schon weggefault! Ich bin schnell hinausgerannt, um frische Luft zu schnappen. Schließlich kam ich zurück, putzte ihm gründlich die Zähne und verteilte kesselweise Desinfektionsmittel darin. Das nennt sich Leichenverschönern – es war wie Kloputzen! Ich verwendete einen ganzen Nachmittag darauf, um diesen grimmigen Gesichtsausdruck wieder in das altbekannte Lächeln zu verwandeln. Die Roten Garden waren ganz gerührt von meiner gewissenhaften Arbeit und streiften mir ein rotes Band über den Arm, skandierten laut „Man lerne von der Arbeiterklasse!“ und machten mich zu einem regelrechten Mitglied ihrer Organisation.

Ich bin auch ganz gerührt. Doch die allermeisten Angehörigen der Toten im Bestattungsinstitut sind doch zutiefst mit ihrer Trauerarbeit beschäftigt, kaum jemand kann sich vorstellen, mit welcher Zauberkunst ihr da Wasser in Wein verwandelt; darüber wird ja auch wenig berichtet, da ihr anscheinend nicht so gerne mögt, daß andere über euer wahres Leben Bescheid wissen.

Es ist ein Jammer. Selbst wenn man unser Gehalt erhöhte oder selbst wenn die Journalisten sich einmal die Arbeit machen, uns wie einen Star herauszustellen, beneidet einen doch kein Mensch um diese Aufgabe. Vergangenes Jahr habe ich mir eine Eigentumswohnung gekauft, bin umgezogen in eine neue Gegend und habe den Kontakt mit all den Nachbarn, die ich von klein auf kenne, abgebrochen. Jetzt weiß kein Außenstehender mehr, was ich mache, und Sie dürfen auch meinen wahren Namen nicht nennen, sonst verklage ich Sie!

So schlimm ist es? Dann werde ich Ihren richtigen Namen und Ihre Einheit verbergen, einverstanden?

Schon in Ordnung, so wird’s gehen. Einmal hat die Freundin meines Sohnes was weiß ich woher erfahren, wie ich mein Geld verdiene, und wollte auf Teufel komm raus unser Haus nicht mehr betreten. Man sagt, daß sie sich die Hand, die sie mir gegeben hatte, gewaschen hat, als gelte es ihr Leben. Immerhin habe ich einen Sohn, der seinen Vater ehrt und versteht, daß die Familie immer vom Einkommen des Vaters gestützt wurde, und deshalb nicht mit mir gebrochen hat. Mensch, jeder muß einmal sterben, doch jeder Mensch kann und will sich zu seinen Lebzeiten nicht vorstellen, daß er dem Tod nicht entkommen kann! Ich kann das verstehen, denn selbst wenn ich dabeibin, sterbliche Überreste in Ordnung zu bringen, denke ich nicht an den Tod, sondern nur an meine Arbeit.

Das heißt, Sie haben alles Freud und Leid des menschlichen Daseins hinter sich gelassen und führen eine Randexistenz? Ich habe einmal in Hongkong einen Film gesehen, der hatte folgenden Plot: Der Wächter einer Leichenhalle besäuft sich derart, daß er nicht mehr zählen kann, wie viele Leichen da sind – bis er schließlich von einem der Toten eine Ohrfeige bekommt.

Ich mag keine Filme, die mit dem Tod zu tun haben, mir sind Komödien lieber: Wer einmal lacht, zehn Jahre macht. Einmal war ich von einem Toten tief gerührt, als ein kleines Mädchen nach einem Verkehrsunfall eingeliefert wurde, der halbe Kopf fehlte ihr. Ich strich über diesen kleinen Körper, mir wurde das Herz ganz schwer. Ich machte mich daran, ihre süße kleine Gestalt wieder herzurichten, besserte die fehlenden Teile mit Silikon aus, wusch ihr sorgfältig mit Medizinallösung den Schmodder vom Kopf, brachte Haar für Haar in Ordnung und kämmte den dicken Pferdeschwanz auf, und nachdem ich sie mit Puder und Rouge bedeckt hatte, zog ich ihr ein einteiliges weißes Kleidchen an, was sie so strahlen ließ, daß es mir ein Lächeln entlockte. Dann trug ich noch französische Wimperntusche auf, so daß die Augen nicht nach unten sehen konnten. Ich war so von meiner Arbeit angetan, daß ich nicht mal das Klopfen des Chefs an der Tür vernahm. Rate mal, wie lange mein mühsam geschaffenes Kunstwerk gehalten hat?

Ich wage es mir nicht vorzustellen.

Alle, die in der Trauerhalle versammelt waren, umarmten diesen süßen kleinen Engel, weinten und herzten ihn. Ich verbarg mich am Rande und wagte nicht zu hoffen, daß irgendeiner meiner gedachte, um mir auch nur ein Glas Wasser zu reichen. Ich betete nur im stillen zu Gott, daß er mein Kunstwerk ein wenig länger erhalten möge, wenigstens noch eine Nacht, damit ich es noch einmal allein mit Augen schauen, ihr ein paar Blumen und Spielzeug darreichen könnte. Jedoch, ausgerechnet sie wurde blitzschnell in den Kremationsofen gesteckt! Es war erst eine Stunde her, daß ich sie verlassen hatte. Alles Schöne wird unvermeidlich ausgelöscht.

Seid nicht traurig, Meister Zhang. Die Schönheit hat über den Tod hinaus Spuren in Ihrem Herzen hinterlassen, diese Spuren kann niemand auslöschen. Es gibt nicht viele Menschen auf der Welt, die sogar noch aus dem Tod Schönheit hervorzaubern können. Sie haben mir eine Vorstellung davon vermittelt, so daß ich mit Ihnen um die Auslöschung der Schönheit trauern kann und sie dadurch ewig fortdauern wird.

Sie sind ein Schriftsteller und schwingen große Reden.

Ich meine das ganz ernst. In der Geschichte gibt es viele Beispiele für unerreichbare Ziele, doch Sie wissen genau, daß sie tatsächlich stattgefunden haben. Denken Sie nur an den Augenblick, in dem der Despotenkönig Bawang seine Konkubine verläßt und in seiner verzweifelten Lage ein Lied anstimmt, die betrogene Konkubine zu tanzen beginnt und sich selbst die Kehle durchschneidet – diese unvergeßliche Szene steht Ihnen für immer vor Augen, immerfort werden ihr neue Bilder und Bedeutungen zugewiesen; die verlassene Konkubine, eine unsagbare Auslöschung von absoluter Schönheit, ganz wie jenes kleine Mädchen, auch wenn es natürlich mit der weltlichen Gesellschaft wenig zu tun hat.

Aber ich bin alt, meine Augen und Hände sind nicht mehr genau. Auch wenn ich nicht ganz verstehe, wovon Sie eigentlich reden, weiß ich, daß Sie mich übertrieben loben, noch nie hat mich einer mit solch wohlklingenden, bezirzenden Worten derart über den grünen Klee gelobt. Die Arbeit des Leichenwäschers ist heutzutage sehr schwierig. Die meisten Leute wollen sie nicht machen, und selbst wenn junge Leute dazu bereit sind, sind sie nur daran interessiert, viel Geld zu verdienen. Mein Gehirn ist schon verbraucht, was soll ich nach der Pensionierung machen? Ich kann weder Schach noch Mahjong spielen, schwatzhaft bin ich auch nicht, mein einziges Thema sind die Toten, und das will sich niemand anhören.

Sie können sich doch eine Katze oder einen Hund halten, angeln gehen oder so was, jeder hat doch seine eigene Art, sich die Zeit zu vertreiben.

Ich habe Angst davor, mit jemandem eine Gefühlsbeziehung aufzubauen, das gilt auch für Hunde und Katzen. Man wird zusammen alt, und eines Tages verlassen sie dich für immer, und du bist völlig niedergeschlagen. All diese guten, schönen Menschen sterben, und ich habe immer mein Bestes getan, um sie zurechtzumachen, für eine kurze Zeit eine schöne Fassade wiederherzustellen. Ich will nichts mehr verlieren müssen. Das, wovor sich die Menschen am meisten fürchten, ist nicht der Tod, sondern ist, immerfort Dinge verlieren zu müssen. Man erreicht ein bestimmtes Alter, und wenn man sich nach allen Seiten umsieht, muß man feststellen, daß man schon alles verloren und nichts mehr zu verlieren hat. Mein alter Chef, der Erste Sekretär dieses Instituts, ist Anfang des Jahres gestorben, keine siebzig Jahre alt, und ich habe seine Leiche zurechtgemacht. Dieser Mensch hatte sein Leben lang ein einziges Hobby. Als er jünger war, sammelte er Hochzeitseinladungen, und mit fünfzig wechselte er zu Todesnachrichten, ein ganzes Zimmer war voll mit dem Zeug. Er sagte immer, die Chinesen hätten eine ärmliche Phantasie, auf jeder Todesnachricht würden immerzu die gleichen Phrasen wiederholt, es gebe nur zwei Arten von Sätzen, deshalb seien diese Dinger von jeher nichts wert.

Ein komischer Kauz.

Das stimmt wohl – noch seltsamer ist, daß er für sich selbst eine Todesanzeige geschrieben hatte, von der er noch zu Lebzeiten heimlich mehrere hundert Exemplare hat drucken lassen, die er zusammen mit seinem Testament und seinen Ersparnissen weggeschlossen hatte. Nach seinem Tod konnte man diese Todesanzeige aber nicht verschicken, weil kein Mensch sie lesen konnte.

Was war das denn für ein Schreibstil? Ich kann mir vorstellen, daß es eine Kondolenzbotschaft im Stil der klassischen Totenklage war?

Kann schon sein. Jedenfalls war es im Vier-Zeichen-Acht-Zeilen-Stil abgefaßt, die Hälfte davon ungewöhnliche Zeichen, die ich nicht kenne. Mitten im Text dann noch eine Anweisung zum Tonwechsel, wahrscheinlich hat sich das der alte Herr selbst zigmal laut vorgelesen. Zu schade, daß er sich nicht entscheiden konnte; man hätte die Todesanzeige auch noch institutionell erforschen lassen, die Töne festlegen und als offizielles Dokument verbreiten können.

Meister Zhang, Sie sollten selbst für sich den richtigen Weg finden, um ihr Gemüt ein wenig aufzuheitern. Ich glaube, daß Angeln ganz gut zum Alter paßt. Bei mir zu Hause gibt es noch ein paar leicht handhabbare Angelruten, die werden dort nicht gebraucht und rosten nur; wie wär’s, wenn ich sie beim nächsten Mal mitbringe?

Als ich klein war, ging das noch mit dem Angeln, ich hab’ mir eine Bambusrute geschnitzt, eine Schnur und einen Haken dran befestigt und mich den halben Tag lang an einen Fluß gesetzt, gut zehn Fische hatte ich mindestens dran. Heutzutage sind die Gewässer ausgetrocknet und die etwas größeren Flüsse schlimm verschmutzt, der Schaum von der Papierfabrik treibt darauf – abgesehen davon, daß die Fische und Krabben da nicht mehr leben wollen, ist es auch nicht gut für die Gesundheit.

Sie könnten doch im Park angeln gehen, nur so zum Spaß.

Das ist doch langweilig: Leute mästen Fische, damit du sie angelst, das ist doch blödsinnig. Ich schau mal, wenn mir nach der Pensionierung langweilig sein wird, kann ich immer noch als Make-up-Berater zurück ins Bestattungsinstitut gehen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024