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Cover Lettre International 84, Florian Süssmayr
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Inhaltsverzeichnis

LI 84, Frühjahr 2009

Der muslimische Mann

Religiöse Tradition und die Beziehung von Vater und Sohn im Islam

(...) Die Gesetze im Islam sind alle von Gott selbst erlassen. Durch seine Überbringer werden die Menschen verpflichtet, diese Gesetze vorbehaltlos einzuhalten. Als Kreatur Gottes kann der Mensch durch die Beachtung der Gesetze seine Glückseligkeit im diesseitigen wie auch im jenseitigen Leben sichern. Immer wieder betont der Koran die Güte und Gnade Gottes und unterstreicht, daß die Schöpfung auf den Menschen hin geordnet ist. Gott wird ihm seine Sünden vergeben, wenn er ehrlich bereut, und ihn belohnen, wenn er ein gottgefälliges Leben führt. Neben der Betonung der Barmherzigkeit Gottes enthält der Koran aber auch eine Unzahl von Drohungen gegenüber demjenigen, der sich nicht nach den Gesetzen des Korans bzw. des Islam richtet. Dem Gläubigen verheißt er paradiesische Belohnungen, dem Ungläubigen, als „Frevler“ bezeichnet, sagt er ungeheure Qualen voraus.

Der Unglaube gilt als Undankbarkeit gegenüber Gott und seinen erwiesenen Wohltaten, und eine Fürsprache durch den Propheten ist nur möglich, wenn Gott selbst es zuläßt. Die Menschen sind in gute Gläubige und böse Ungläubige aufgeteilt; die einen werden von Gott belohnt, die anderen bekämpft. Der Islamwissenschaftler Josef van Ess hebt hervor, daß Menschenrechte im Islam nichts Neues sein können, sondern als seit je von Gott geschenkt gesehen werden müssen. „Denn Gott gegenüber kann man nicht recht behalten; da ist die einzig adäquate Haltung der Gehorsam. Mehr als ein Abendländer begreift der Muslim darum die Menschenrechte als Komplement zu den Menschenpflichten; das islamische Recht ist seit jeher eine Pflichtenlehre gewesen.“

Damit ist auch die Autorität des religiösen Überbringers, der nicht selbst als Verfasser, sondern als reiner Übermittler des Gesetzes fungiert, unüberwindbar mächtig und kompromißlos. Der Verweis auf den göttlichen Befehl macht sowohl Gott als auch den Überbringer Gottes unantastbar.

Freud verknüpfte in Totem und Tabu den Ursprung der Religionen mit dem Schuldgefühl, das aus dem „Urverbrechen“ hervorgeht, der Ermordung eines grenzenlos mächtigen und grausamen Urvaters durch die Brüderhorde. Die Ermordung des Urvaters brachte den Söhnen nicht die erwünschte Befriedigung, sondern führte zum Schuldgefühl, einer „moralischen Reaktion“, die zur Grundlage des zivilisatorischen Prozesses wurde. Das Verbrechen gegen den Vatergott fiel der Verdrängung zum Opfer, die Rebellion gegen den Vater wurde im Laufe der menschlichen Kultur stets aufs neue wiederholt.

Aus der Freudschen Beschreibung des Urvaters als Anführer einer Urhorde leitet die amerikanische Psychoanalytikerin Ruth Stein ihre Vorstellung der Imago eines primären, archaischen Vaters ab. Sie vergleicht diesen mit der patriarchalischen Version des jüdisch-christlich-islamischen Gottes. Ein imaginärer Vater, der eine machtvolle, unangreifbare und idealisierte Figur darstellt; der Schutz verspricht, Bestrafungen ausführt und selbst außerhalb jedes Gesetzes steht.

In Anlehnung daran möchte ich eine These zum Unterschied zwischen dem islamischen Monotheismus und dem mosaischen sowie christlichen Monotheismus wagen. Im Islam als dem radikaleren Monotheismus gibt es keinen Raum für eine ambivalente Gefühlseinstellung Gott/Vater gegenüber.

Dies stellt einen wesentlichen Unterschied dar mit Folgen auch für das Schicksal der Verdrängung, die sich psychoanalytisch gesehen wesentlich aus Ambivalenz speist.

In bezug auf die jüdische Religion zeigt Karl Abraham den Ambivalenzkonflikt gegenüber Jahwe anhand der alttestamentarischen Geschichte auf: „Der ewige Wechsel des Abfalls von Jahwe und der Rückkehr zu ihm zeigen die Ambi-valenz der Einstellung der Volksseele zum väterlichen Gotte aufs deutlichste.“ Die jüdische Religion fordere, so Abraham, immer strengere Hingabe und Treue des Volkes, um eine Auflockerung des Verdrängten nicht aufkommen zu lassen.

Der Psychoanalytiker Jihad Jiko beschäftigt sich anhand der Geschichten von Hiob und von Abraham, die sowohl in der Bibel als auch im Koran zu finden sind, mit den Unterschieden in der „unbewußten Rezeption der Vater-Sohn-Beziehung“. In der Version des Korans stellt er eine „islamische Lösung des Ambivalenzkonflikts zwischen Vater und Sohn in Form einer entschiedeneren Machtposition des Vaters bzw. eines strengeren Monotheismus“ fest und spricht von der „Verleugnung der Ambivalenz“. Hiobs Hadern mit Gott, warum dieser zulasse, daß ihm ohne Schuld so viel Unheil zustoße, kommt im Koran nicht vor. Der Hiob des Korans bringt das Unheil, das ihm widerfahren ist, überhaupt nicht mit Gott in Verbindung. Für ihn steht außer Frage, daß dies ein Werk Satans ist. Dieser Spaltungsmechanismus ermöglicht es ihm, nicht mit Gott zu hadern, sondern ihn um Hilfe gegen Satan anzurufen.

Die zentrale These Jikos lautet, „daß der Islam nach einer Zwischenphase der christlichen Religion, während wel-cher der Monotheismus in der Dreifaltigkeit und als Sohnes- und Mutterreligion eine deutliche Lockerung erfuhr, einen strengeren Monotheismus zum Vorbild genommen hat. Nach dem Übergang von der Vaterreligion zur Sohnes- und Mutterreligion kehrte der Vater in strengerer Form in den Islam zurück.“ Die innere Entwicklungsdynamik im Vater-Sohn-Verhältnis ist im islamischen Monotheismus eine radikalere; die Vaterposition wird als zentral, mächtig und unüberwindbar erklärt. Die Vermeidung des Ambivalenzkonflikts durch den Gehorsam kann auch am Beispiel der Geschichte von Abraham und Ismael verdeutlicht werden. In der biblischen Version der Opferung Isaaks sagt Abraham seinem Sohn nicht, daß er geopfert werden soll, und auch Isaak äußert seine Ahnung nicht; vielleicht weiß er davon nichts. Demgegenüber sagt Abraham im Koran zu seinem Sohn: „,Ich sah im Traum, daß ich dich schlachten werde. Überleg jetzt, was du (dazu) meinst!‘ Er sagte: ,Vater! Tu, was dir befohlen wird! Du wirst, so Gott will, finden, daß ich (einer) von denen bin, die (viel) aushalten können.‘“ (Sure 37, 102).

(...)

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