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Cover Lettre International 54, Alexander Polzin
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Inhaltsverzeichnis

LI 54, Herbst 2001

Internet, Netzgesellschaft

Das World Wide Web als neues technisch-soziales Paradigma

Der dritte Punkt bezieht sich auf die digitale Trennlinie, das heißt auf die Vorstellung, daß das Internet eine Welt schafft, die zwischen denen, die ans Internet angeschlossen sind, und denen, die es nicht sind, unterteilt ist. Was wissen wir hierüber? Einerseits trifft es zu, daß es einen großen Unterschied in bezug auf die Vernetzung gibt, und daß Personen ohne Internet-Zugang auf dem Arbeitsmarkt immer stärker benachteiligt sind. Wir können außerdem konstatieren, daß die nicht ans Internet angeschlossenen Gebiete auf internationaler Ebene an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit verlieren und demzufolge zunehmend zu Armutszonen werden, die sich nicht in das neue Entwicklungsmodell integrieren können. Andererseits stellen wir jedoch auch eine beträchtliche Zunahme der Vernetzung fest. Die Wachstumsraten des Internets sind überall sehr hoch, und was man heute die digitale Trennlinie nennt, das heißt hauptsächlich die fehlende Vernetzung in Gesellschaften unseren Typs, die sich von jenen der Dritten Welt unterscheiden, stellt sich kaum mehr als Problem.

Die Zahlen, aus denen zum Beispiel hervorging, daß die Schwarzen, Latinos und Frauen in den Vereinigten Staaten das Internet weniger nutzten, verändern sich gegenwärtig radikal. Eine Untersuchung, die vor kurzem von den Jupiter Communications vorgelegt wurde und die zuverlässig scheint, weist darauf hin, daß in den sieben hochentwickelten Ländern, die in bezug auf die Entwicklung des Internets systematisch analysiert wurden und zu denen Spanien nicht gehört – es handelt sich u.a. um die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland, Australien und Kanada –, Ende Mai 2000 die Zahl der weiblichen Netz-Nutzer zum erstenmal die der männlichen übertraf. Das gleiche geschieht bei den Schwarzen und Latinos der Vereinigten Staaten. Beim schwarzen und lateinamerikanischen akademischen Nachwuchs gibt es dieselbe Internet-Zugangsrate wie bei denjenigen Studenten, die keine Schwarzen oder Latinos sind. Offenkundig sind weniger Schwarze und Latinos an den Universitäten immatrikuliert, doch ist das eher eine Bildungsfrage als ein Problem der systematischen ethnischen Diskriminierung. Die unterschiedlichen Vernetzungsgrade als trennendes soziales Element gleichen sich also schnell aus. Allerdings läßt sich bei den ans Internet angeschlossenen Personen, vor allem bei Studenten und Kindern, beobachten, daß ein zweites soziales Trennungselement auftritt, das bedeutsamer als die technische Vernetzung ist: die auf Erziehung und Bildung beruhenden Voraussetzungen zur Nutzung des Internets. Da es alle Informationen im Netz gibt und diese Kenntnisse verschlüsselt sind, geht es darum, zu wissen, wo sich die Informationen befinden, wie man sie suchen, verarbeiten und in spezifische, für das jeweilige Vorhaben geeignete Kenntnisse umwandeln muß. Diese Fähigkeit, das Lernen zu lernen und zu wissen, was man mit dem Gelernten anfangen kann, ist in sozialer Hinsicht ungleich entwickelt und an die gesellschaftliche Herkunft, den Familienhintergrund, das Bildungs- und Erziehungsniveau gebunden. Hier liegt, empirisch betrachtet, gegenwärtig die digitale Trennlinie.

(...)

Kommen wir nun zum am stärksten ideologisch belasteten Thema, dem der sozialen Kommunikationsfähigkeit, der sozialen oder individuellen Interaktion oder auch der virtuellen Gemeinschaften im Internet. Bekanntlich wird dieses Thema von den Phantasievorstellungen der Futurologen und der unzulänglich informierten Journalisten beherrscht, obwohl es auch sehr gut informierte Journalisten gibt.

Man hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, daß das Internet entfremde, isoliere, zu Depressionen, zum Selbstmord, zu allen möglichen entsetzlichen Erscheinungen führe oder daß das Internet ganz im Gegenteil eine außergewöhnliche Welt der Freiheit und Selbstentfaltung sei, wo alle einander gern haben und sich in einer Gemeinschaft befinden. Welche empirischen Kenntnisse haben wir hierüber? Wir wissen recht viel, zum Beispiel ergibt sich aus einer neuen Untersuchung, die British Telecom im Verlauf eines Jahres in einer Reihe von Internet nutzenden Familien durchgeführt hat: Es ändert nichts. Das heißt, was die Leute schon früher machten, das machen sie auch mit dem Internet weiter, und wem es gut gegangen war, dem geht es nun viel besser, während es denjenigen, denen es schlecht gegangen war, heute genauso schlecht geht; wer Freunde hatte, hat sie auch im Internet, und wer keine hatte, hat sie ebensowenig mit dem Internet. Das ist eine in intellektueller Hinsicht sehr konservative Untersuchung, doch ich nenne und zitiere sie, weil sie eine sehr spektakuläre Forschungsarbeit ist. Sie heißt: Hier geschieht nichts. Aber es geschieht sehr wohl etwas. Das Internet ist ein Werkzeug, das die Verhaltensweisen weiterentwickelt, jedoch nicht verändert. Die Verhaltensweisen eignen sich vielmehr das Internet an; ausgehend von dem, was sie sind, verstärken und potenzieren sie sich.

Das heißt nicht, daß das Internet unwichtig wäre, doch es ist nicht das Internet, das die Verhaltensweisen verändert, sondern die Verhaltensweisen verändern das Internet. Untersuchungen, die vom Typ der Panel-Studien gehören, wie etwa diejenigen, die Barry Wellman von der Universität Toronto, der bedeutendste wissenschaftliche Vertreter der empirischen Soziologie der Internet-Gemeinschaften, durchführt, zeigen das tatsächliche Sozialleben im Internet. Seine Forschungsergebnisse lassen folgendes erkennen: Die virtuellen Gemeinschaften im Internet sind erstens auch Gemeinschaften, sie bringen soziale Kommunikation, menschliche Beziehungen und Netzwerke von Beziehungen hervor, doch es sind nicht die gleichen wie die natürlichen Gemeinschaften. Das mag wie eine Binsenwahrheit wirken, aber man mußte es erforschen und beweisen. Die natürlichen Gemeinschaften haben ganz bestimmte Beziehungen, und die virtuellen Gemeinschaften haben eine andere Art von Logik und Beziehungen. Wie sehen diese Beziehungen aus? Worin besteht die spezifische Logik der sozialen Online-Kommunikation? Am interessantesten ist die Vorstellung, daß es sich um Menschengemeinschaften handelt, die auf individuellen Interessen, Wahlverwandtschaften und Werten beruhen.

In dem Maße, wie sich in unseren Gesellschaften individuelle Projekte entwickeln, die dem Leben ausgehend von dem, was ich bin und sein will, einen Sinn geben sollen, ermöglicht das Internet eine solche Verbindung, indem es sowohl am Wohnort als auch am Arbeitsplatz die materiellen Grenzen der Alltagswelt überspringt und Netzwerke von Wahlverwandtschaften hervorbringt. So etwa haben Forschungen in Kanada und den Vereinigten Staaten gezeigt, daß die einzelnen Personen normalerweise im Durchschnitt nicht mehr als sechs enge Bindungen außerhalb der Familie und gleichzeitig Hunderte von schwachen Bindungen hatten. Offenbar hat sich das in den letzten zehn Jahren unverändert erhalten. Nun erweist sich, daß das Internet in der Regel geeignet ist, schwache, jedoch keine starken Bindungen zu schaffen, und daß es die starken Bindungen, die aufgrund von persönlichen Beziehungen existieren, ausgezeichnet fortsetzen und vertiefen kann.

Auch das wirkt durchaus logisch, doch für wichtig halte ich, daß es von den bisherigen Untersuchungen insgesamt empirisch bestätigt wird. So bildet sich die Tendenz heraus, daß sich die auf Basis einer traditionellen natürlichen Gemeinschaft beruhende soziale Kommunikation verringert. Eine derartige tendenzielle Verringerung läßt sich in den Wohngebieten feststellen. Ganz allgemein nehmen die sozialen Kontakte im Arbeitsbereich überall auf der Welt ab. Die soziale Kommunikation verändert sich durch etwas, das einige als die Privatisierung der sozialen Kommunikation bezeichnen, die soziale Kommunikation zwischen Personen, die frei gewählte Verbindungen aufbauen, wobei sie nicht an denselben Orten arbeiten oder wohnen, also nicht im physischen Raum zusammentreffen. Vielmehr suchen sich diese Personen untereinander: Ich möchte jemanden treffen, der gern mit mir Fahrradtouren unternimmt, doch zuerst muß ich ihn suchen. Wie läßt sich zum Beispiel ein Radclub oder ein Club von Leuten gründen, die sich für Höhlenforschung interessieren? Das Internet ermöglicht es, diese Umgestaltung der persönlichen Netzwerke stärker zu fördern.

Als Wellman beurteilen wollte, welchen Einfluß das Internet auf die anderen sozialen Kommunikationsformen hatte, entdeckte er etwas, das den Mythen über das Internet widerspricht. Er nennt es: "Je mehr, desto mehr." Das heißt, je mehr natürliche soziale Netzwerke man hat, desto mehr nutzt man das Internet; je mehr man das Internet nutzt, desto mehr stärkt man die eigenen natürlichen Netzwerke. Daher gibt es Personen und Gruppen mit einer starken sozialen Kommunikationsfähigkeit, bei denen sich reale und virtuelle Kommunikation wechselseitig bedingen. Und es gibt Personen mit einer schwachen sozialen Kommunikation, bei denen sich der schwache Grad der realen und virtuellen Kommunikation ebenfalls wechselseitig bedingen. Allerdings kommt es in Fällen einer schwachen Ausprägung der realen Kommunikation zu einigen vom Internet bewirkten Ausgleichsfaktoren: Das heißt, man nutzt es, um in gewissem Umfang aus der Isolation herauszukommen. Manche Untersuchungen heben nun diese Wechselbeziehung hervor und folgern, da es sich um Personen handele, die das Internet häufig nutzen und sozial isoliert seien, führe das Internet also zur Isolation.

Es besteht ein anderer Kausalzusammenhang. Die genannten isolierten Personen nutzen das Internet zwar als Mittel, grundsätzlich gibt es jedoch eine kumulative Wechselwirkung zwischen der realen und natürlichen gesellschaftlichen Kommunikationsfähigkeit und der virtuellen Kommunikationsfähigkeit – denn auch die virtuelle Kommunikation ist etwas Reales. Mehrere weitere Untersuchungen, wie etwa jene, die Marcia Lipman in Berkeley bei Hunderten virtueller Gemeinschaften durchgeführt hat, weisen auf einen anderen ausschlaggebenden Sachverhalt hin: Je enger die virtuellen Gemeinschaften mit bestimmten Aufgaben, Tätigkeiten und gemeinsamen Interessen verbunden sind, desto erfolgreicher sind sie.

Die Vorstellung, das Internet sei ein Raum, in dem man über alle möglichen Albernheiten, Klatschgeschichten usw. rede, ist ganz und gar oberflächlich. Das gilt für eine verschwindende Minderheit. Viele Leute haben keine Zeit, sich mit so etwas abzugeben. Eigentlich geht es darum, daß diese Geschichten von falschen Identitäten, bei denen man irgendeine Maskierung benutzt und sich als etwas vorstellt, was man nicht ist, ein Hochgenuß für die postmodernen Soziologen sind. So etwas gibt es tatsächlich, doch es läßt sich vor allem bei Jugendlichen feststellen. Und womit beschäftigen sich Jugendliche im allgemeinen? Daß sie sich eine Identität erfinden oder mit ihr experimentieren, sich immer, wenn sie können, die Zeit mit Gerede über alles mögliche vertreiben und eine eigene Gegenkultur schaffen, um neue Identitäten auszuprobieren – das tun sie auch im Internet. Sobald man jedoch einmal von den Verhaltensweisen der Jugendlichen absieht und die gesamte Gesellschaft analysiert, stellt man fest, daß das operativ eingesetzte Internet, die Nutzung des Internets für politische oder persönliche Aufgaben und konkrete Interessen, tatsächlich den höchsten Interaktionsgrad bewirkt.

Deshalb erleben wir nicht so sehr das Entstehen einer neuen Gesellschaft, die vollständig online ist, sondern die Aneignung des Internets durch soziale Netzwerke, Arbeitsorganisationsformen und Aufgaben, während sich gleichzeitig viele schwache Bindungen online herstellen lassen, bei denen es zu kompliziert wäre, sie offline aufrechtzuerhalten. Einer der interessantesten Faktoren ist hierbei etwa die Entwicklung von gegenseitigen Hilfsorganisationen älterer Bürger: Das Seniornet in den Vereinigten Staaten ist eines der beliebtesten Informations-, Hilfs- und Solidaritätsnetze, mit dem man gemeinsame Erlebnisse usw. fördert. Oder die Netze, in denen man religiöse Informationen austauscht und sich über gemeinsame religiöse Werte verständigt. Oder auch die Netze für soziale Mobilisierung.

(...)

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