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Cover Lettre International 77, Francesco Clemente
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LI 77, Sommer 2007

Worte in Kriegszeiten

Die Visionen des Imperiums und die Schauspieler der Geschichte

(…) Hier ist nun eine erstaunliche Tatsache: Weniger als ein halbes Dutzend Jahre nach diesem „einpoligen Moment“ steht die größte militärische Macht der Weltgeschichte im Irak am Rand einer Niederlage. Ihr ganzes teures und allmächtiges Militär ist von einem Konglomerat von Geheimorganisationen gedemütigt worden, die mit Selbstmordwesten, Autobomben und improvisierten Explosivzündern kämpfen – alle billig, einfach und so effektiv, daß diese Methoden jetzt, am deutlichsten in Afghanistan, einem Land mit wenigen Zielen, zu einer Art fix und fertiger Rebellenausrüstung geworden sind, die jeder über das Internet beziehen kann und in der ganzen Welt sehr gefragt ist.

Während ich hier stehe, befürwortet eine unserer beiden großen politischen Parteien den – allmählichen oder sonstwie gearteten – Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak, und viele in der anderen Partei spüren die zunehmende Dringlichkeit, dabei mitzumachen. Was den weiteren Krieg der Bush-Regierung gegen den Terror angeht, ist, wie das Außenministerium vor kurzem in seinem Jahresbericht zu diesem Thema ausführlich darlegte, die Anzahl der terroristischen Angriffe weltweit nie höher und effektiver gewesen. Sicher, al-Qaida hat in den Vereinigten Staaten keinen Angriff mehr unternommen. Sie braucht es gar nicht. Sie lebt, blüht und gedeiht. Man könnte sogar sagen, daß sie gewinnt. Denn trotz der Rhetorik der Bush-Regierung war es nicht ihr Ziel, schlicht und einfach Amerikaner zu töten, sondern mit der spektakulären Herausforderung der Vereinigten Staaten eine große Anzahl von Rekruten für ihre Sache zu gewinnen und ihre Rebellion ins Herz des Mittleren Ostens zu tragen. Und all das ist ihr gelungen.

Wie konnte so etwas passieren? Man könnte sagen, daß die Terroristen von al-Qaida in ihrer Wahl des Feindes zu einem großen Teil ein Mordsglück hatten, da sie ein Land angriffen, das von einer Regierung angeführt wurde, die eine radikale Vorstellung von der Potenz der Macht hatte. Im Kern des Prinzips vom asymmetrischen Krieg – al-Qaidas Art der Kriegsführung – steckt die Auffassung, die Macht des Gegners gegen ihn selbst zu wenden. Wie kann eine kleine Gruppe von Rebellen ohne Armee oder sogar ohne schwere Waffen die größte konventionelle Militärmacht, die die Welt jemals gekannt hat, in die Knie zwingen? Wie besiegt man eine solche Armee, wenn man keine Armee hat? Nun, man leiht sich die seines Feindes. Und genau das hat al-Qaida getan. Indem sie die klassische Strategie der Provokation anwandte, versuchte die Gruppe, die Supermacht in ihr adoptiertes Heimatland zu locken. Die ursprüngliche Strategie hinter den Angriffen von 9/11 – abgesehen davon, die Supermacht zu demütigen und das größte Werbeplakat zu schaffen, das die Welt je gesehen hatte – bestand darin, die Vereinigten Staaten in einen Bodenkrieg in Afghanistan zu locken, wo die einzige noch übriggebliebene Supermacht (wie vorher die Sowjetunion) in die Falle gehen, scheitern und geschlagen werden sollte. Um diesen Krieg vorzubereiten, fädelte Osama Bin Laden zwei Tage vor 9/11 – mit von zwei Terroristen, die sich als Reporter ausgegeben hatten, in Videokameras versteckten Bomben – den Meuchelmord am Führer der afghanischen Nordallianz ein, Achmed Schah Massud, der der mächtigste Verbündete der Vereinigten Staaten gewesen wäre.

Das Afghanistan-Debakel der Sowjets klar vor Augen – schließlich hatten die Vereinigten Staaten die meisten Waffen geliefert, die die Sowjets dort besiegten –, versuchte die Bush-Regierung einen Schlamassel zu vermeiden, indem sie jede Menge Luftunterstützung, Berge von Bargeld und, am wichtigsten, sehr wenige Truppen schickte und sich statt dessen auf ihre afghanischen Verbündeten verließ. Aber wenn Osama Bin Laden in dieser Hinsicht auch enttäuscht wurde, so sollte er schon bald ein weit wertvolleres Geschenk erhalten: die Invasion in den Irak – ein Land, das im Gegensatz zu Afghanistan im Herzen des Mittleren Ostens und im Zentrum des arabischen Konfliktherds lag, und, noch wichtiger, eine Nation, die direkt auf der kritischen Sunniten-Schiiten-Spaltung saß, einem potentiellen Zünder für al-Qaidas großen Traum von einem regionalen Bürgerkrieg. Auf genau diesen Abgrund taumeln wir heute zu.

Gefährlich für diese seltsame und unwahrscheinliche Geschichte waren die sonderbaren Ansichten der Regierung von der Macht und ihrer Beziehung zur Realität – unter anderem eine vertraute imperiale Haltung, die sich in einer auffallend rohen und harschen Form äußerte: „Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität.“ Macht, weder vom Gesetz noch von der Gewohnheit eingeengt; Macht, nicht gefesselt von den sogenannten Waffen der Schwachen, seien es internationale Institutionen, Gerichte oder Terrorismus – Macht kann die Realität neu erschaffen. Es ist kein Zufall, daß einer von Karl Roves Helden Präsident William McKinley ist, der an der Spitze von Amerikas erster imperialer Stunde stand und das Land in ein ruhmreiches koloniales Abenteuer auf den Philippinen führte, das ebenfalls das militärische Äquivalent zu einem Bummel im Park sein sollte und im Endeffekt zu einem jahrelangen blutigen Aufstand führte – einem Aufstand, wohlgemerkt, der schließlich nur mit Hilfe der ausgiebigen Anwendung von Folter niedergeschlagen wurde, vor allem dem Untertauchen in Wasser, das in den imperialen Kämpfen unserer eigenen Zeit eine Wiederauferstehung feierte.

Wenn wir jetzt ein Imperium sind, wie Mister Rove sagt, sollten wir, falls er es nicht tut, vielleicht hinzufügen, daß wir auch eine Demokratie sind, und da, liebe Absolventen des Fachbereichs Rhetorik von 2007, liegt der Hase im Pfeffer. Ein demokratisches Imperium ist, wie sogar die Athener herausfanden, eine vertrackte Bestie, wie eine jener mythologischen Kreaturen, die aus einer Kreuzung von Löwe und Vogel oder Mann und Pferd hervorgehen. Wenn man darauf brennt, in den Irak einzufallen, um das Ansehen des Imperiums wiederherzustellen, muß man zuerst einmal die Leute in der Demokratie von der Notwendigkeit eines solchen Schritts überzeugen. Darin liegt das Pathos der berühmten Massenvernichtungswaffenfrage, die eine Art Synekdoche für den ganzen Wust von Lügen der letzten Jahre geworden ist. Die Hauptbühne unseres öffentlichen Lebens wird jetzt von einem schlichten Melodram beherrscht: Bush wollte in den Irak einfallen; Bush sagte den Amerikanern, daß der Irak Massenvernichtungswaffen habe; der Irak hatte solche Waffen nicht. Daher hat Bush gelogen, und der Krieg wurde aus Lug und Trug geboren.

(…)

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