LI 80, Frühjahr 2008
Das tschechische Los
Der kritische Geist - Oder von großen und kleinen Völkern in der WeltElementardaten
Genre: Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug
Es war am 24. August [1968], ich befand mich in einem Häuschen, das dem  Vater eines Freundes gehörte, von ferne waren Schüsse zu hören, auf dem  Tisch stand das eingeschaltete Transistorradio, und ich durchstöberte  mit zerstreutem Blick den alten Bücherschrank, bis ich schließlich ein  Buch hervorzog, das im Jahre 1633 von Pavel Stránský verfaßt worden war:  Vom böhmischen Staat. Und ich las: „… so würde man auch  von einem Kenner der Geschichte und der Althertümer Böhmens, auf die  Frage: ob dieses Land ein Lehn des deutschen Reichs sey? die  entschlossene Antwort hören: Böhmen sey vielmehr durch ein ewiges  Freundschaftsband mit dem deutschen Reiche verbunden, als daß es auf  eine knechtische Art, ja nicht einmal als ein Lehn von demselben  abhängen sollte.“
Und ein Stück weiter: „Wenn man aber  auch annimmt: die deutschen Kaiser hätten die Oberherrschaft über Böhmen  gehabt, oder hätten sie noch; die Böhmen aber haben sich des  Ungehorsams gegen sie schuldig gemacht; so hätte man doch den Weg der  Gewalt und Waffen vor jenem des Rechts wider sie nicht einschlagen  sollen. Denn da man die Gewalt nicht brauchen darf, so lange man in den  Gesetzen Hilfe finden kann; so verliert derjenige, der das Seinige, eher  mit Gewalt als auf dem gesetzmäßigen Wege suchet, eben darum sein  Recht. Durch Bündnisse, Verträge und Freundschaft ist Böhmen mit  Deutschland von den ältesten Zeiten her viel enger vereinigt, als irgend  ein anderes Königreich: doch diese Bündnisse beeinträchtigen die  Majestät, die Gesetze, die Rechte, die Gewohnheiten, die Freyheit eines  oder des andern der beyden Völker im geringsten nicht. So lange man  diese Gränze beobachtete, blieb auch die Eintracht beyder Völker  unerschüttert: überschritt sie ein Theil – wie denn, wenn von zwei  Freunden einer stärker ist als der andere, das Bündnis nicht selten  einer Freundschaft mit dem Löwen gleicht – so kam es immer zu  Feindseligkeiten …“
Und noch etwas weiter: „Die Böhmen  wollen lieber unter ganz freyen Völkern was immer für einen Rang, als  den ersten unter denjenigen, die sich zu fremden Diensten erbiethen,  ihre Knechtschaft mag noch so glänzend seyn.“
Die Schüsse  draußen verbanden mich mit dem gegenwärtigen Augenblick, doch Pavel  Stránskýs uralte Sätze ließen mich sogar mit dieser Schießerei in die  Arme der tschechischen Geschichte sinken, in ihre unermeßlichen Fernen,  und gaben mir zu verstehen, daß wir immer noch ein und dieselbe  Nationalgeschichte leben, die ihre „ewige“ Problematik besitzt, mit dem  beständigen Streit zwischen Bündnis und Oberherrschaft, mit der  fortwährend errungenen, aber letztlich unerreichten Souveränität und dem  unaufhörlichen Kampf um sie, und daß auch diese Schießerei, die an mein  Ohr drang, nicht nur ein Blitz aus heiterem Himmel, ein Schock, eine  Absurdität war, sondern daß sich in ihr nur von neuem und auf andere  Weise das uralte tschechische Los erfüllte.
Die Jahre von 1939  bis vor kurzem konnten die tschechische Seele nicht gerade mit  besonderem Stolz erfüllen. Kleinheit, Anpassungsfähigkeit, fehlender Mut  zu einer eigenständigen Politik, die Herrschaft einer neiderfüllten  Mittelmäßigkeit, eine allgegenwärtige Rüpelhaftigkeit, all das ließ in  uns äußerst skeptische Gedanken über den tschechischen Charakter  aufkommen und warf ein schmerzliches Licht auf die Geschichte, die  diesen Charakter geschaffen hat.
Ich habe damals oft an die  tschechische Wiedergeburt gedacht, die sich inmitten eines brodelnden  Europa ihren kleinen Sandhaufen zusammenpatschte – eine  Erweckungsbewegung, die nicht in der Lage war, allgemein menschliche  Werte zu schaffen, deren Handeln sich im Kleinklein erschöpfte und der  es an großen Taten mangelte. Ich dachte an das Erbe dieser  Kleingeisterei, die sich auch dem tschechischen 20.?Jahrhundert  aufprägte, dem Jahr 1938, den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, dem  Jahr 1956, als man nicht in der Lage war, konsequent und in großem Stil  auf den Anstoß des 20. Parteitags zu reagieren, sowie  insbesondere der Ära Antonín Novotnýs, in dessen Ratlosigkeit ich den  Genius der tschechischen Kleinheit selbst verkörpert sah.
In  jener Zeit schrieb ich ein Stück, von dem ich zu meinen Freunden sagte,  es sei antitschechisch. Ein gewisser, bereits außer Dienst stehender  Major belehrt dort seinen jungen Schwiegersohn. „Die Tschechen haben  nie auf den Barrikaden gekämpft. Die Tschechen gingen in den Sokol  turnen. Solche exakten Freiübungen haben unserem Volke mehr genützt als  zehn Revolutionen.“
Als ich vor zwei Monaten aus Paris  zurückkam, wurde mir zu meiner Überraschung nachträglich bewußt, daß ich  dort in den verschiedensten Debatten und Presseinterviews deutlich  patriotische (und letztlich hoffnungsvolle) Töne angeschlagen hatte. Wo  hatte ich das plötzlich her? War es nur nationale Disziplin, die mich  dazu brachte, in der Fremde das Vaterland zu loben? Nein, so  diszipliniert bin ich nicht. Den Wandel meiner Haltung bewirkte das auf  immer unvergeßliche Erlebnis des letzten August. In unzähligen daheim  und im Ausland geführten Gesprächen kam ich immer wieder darauf, daß es  auf der Welt so schnell kein Volk gibt, das eine ähnliche Prüfung  bestanden und eine solche Festigkeit, einen solchen Verstand und eine  solche Einigkeit bewiesen hätte wie wir.
Der August warf ein  neues Licht auf unsere gesamte Geschichte. Nicht daß die skeptische  Kritik am tschechischen Nationalcharakter ihre Gültigkeit verloren  hätte, aber sie wurde durch einen Blick von einer anderen Seite ergänzt:  Ja, mit der heroischen Tradition von Žižkas Streitkolben hatte das  tschechische Volk bereits seine direkte Abhängigkeit verloren; das  Hussitentum bedeutet aber auch jene Volkstradition, in der „jedes  Großmütterchen die Heilige Schrift besser kannte als ein italienischer  Priester“, und diese Tradition der Volksbildung und der Nachdenklichkeit  im ganzen Volk ist bei uns bis auf den heutigen Tag zu Hause.
Ja,  die tschechische Wiedergeburt kannte statt der großen Politik nur die  kleine Aufklärung; die Hauptwaffen des nationalen Kampfes waren das  Laientheater, Lieder und Verse, jawohl, die tschechische Kunst war vor  den holpernden Leiterwagen umherwandernder Volkserzieher gespannt, aber  es ist auch wahr, daß die Masse des tschechischen Volkes auf diese Weise  vom Beginn seiner neuen Existenz an so schicksalhaft mit der Kultur  verknüpft war wie kaum eine europäische Nation, so daß es in dieser  Hälfte Europas das bei weitem nachdenklichste und gebildetste Volk ist  und sich von keiner billigen Propaganda so einfach hinters Licht führen  läßt.
Ja, es ist wahr, daß das tschechische Volk im vergangenen  Jahrhundert abseits der großen europäischen Konflikte stand; aber es ist  auch wahr, daß ihm in jener Zeit etwas Gigantisches gelang: Aus einer  Bevölkerung, die nur zur Hälfte des Lesens und Schreibens kundig und  ihrer Nationalität halb entfremdet war, wurde wieder eine europäische  Nation, und dies gegen den Strom einer beständigen  Germanisierungsbemühung, gegen den Willen der Macht, der sie  untergeordnet war, so daß sie seither gerade unter ungünstigen  Bedingungen ihre besten Leistungen zu erbringen wußte.
Ja, es ist  wahr, daß sich die tschechische Nation nicht durch den Geist eines  romantischen Heroismus auszeichnet, aber es ist auch wahr, daß die  Kehrseite dieser Abwesenheit von Romantik und Heroismus ein nüchterner  Verstand, ein Sinn für Humor und ein kritischer Geist ist, mit denen  dieses Volk sich selbst betrachtet, so daß es eines der am wenigsten  chauvinistischen Völker Europas ist: Wenn sein Nationalstolz empört  aufflammt, bedeutet dies, daß er aufs Schrecklichste verletzt worden  ist; und es bedeutet auch, daß dieses Aufflammen keineswegs nur von  kurzer Dauer und flüchtig ist wie ein Gefühl, sondern hartnäckig wie die  Vernunft selbst.
(...)
 
   
   
   
  