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Cover Lettre International 61, Friedemann von Stockhausen
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Inhaltsverzeichnis

LI 61, Sommer 2003

Der falsche Schlaf

Bausteine zu einer Mythologie der Polizei im 21. Jahrhundert

(...)Mit Strom, Schall, Gas und Schaum erzeugt die "Innere Sicherheit" eine Science-fiction-Wirklichkeit. Sie entwirft ein Bild vom zivilen Konflikt, das wir trotz einer langen Tradition im Einsatz von Hochtechnologie, nach 30 Jahren Umgang mit Pfeffergas, Polizeikessel, Rasterfahndung und Kommissar Computer für Filmstaffage halten mögen. Eine Lektüre des Dokumentes PE 166 499 des EU-Programmes STOA1 zur Bewertung technischer und wissenschaftlicher Optionen sowie seiner Nachfolgetexte und Fußnoten machen diese Illusion zunichte.

Die Werkzeuge der crowd control, die Waffen der polizeilichen Konfliktlösung, gelten bereits heute als "intelligent". Mit diesem stark strapazierten Begriff ist nur ungenau beschrieben, welche konkreten Effekte eine Umrüstung der konventionellen Methoden zur "physischen Massenimmobilisierung" auf "direkte Interaktion mit dem Gehirn" beinhaltet. Strahlen, Projektionen und akustische Modifikationen als Methoden der Medienkultur und die avantgardistische Biochemie halten Einzug in die Arsenale der Exekutivkräfte. Immaterielle oder auf molekularer Ebene agierende Träger, charmant doppelbödig "Agenten" genannt, wirken in erster Reihe mit bei künftigen Bürgerkriegsszenarien. Eine illusionäre Maschinerie entfaltet sinnverwirrende Wirkungen. Ihre Nähe zum Kunstwerk gründet im literarischen Tenor der rund zehn Jahre alten Internationalen Konvention zum Einsatz nonletaler Waffen. Die lose Vereinbarung geht zurück auf eine militärphilosophische Schaumgeburt aus Zeiten der rüstungspolitischen Ebbe am Ende des Kalten Krieges. Ihre Eltern sind die Futurologen Alvin & Heidi Toffler, die sich zum Zweck der Zeugung des semifiktionalen Textbastards mit den amerikanischen Quäkern Chris und Janet Morris und einem ehemaligen green-beret-Kommandeur und Vietnamveteranen namens John B. Alexander verbunden haben. Deren novellenhafte Formulierung einer unblutigen und dennoch wohlgerüsteten Demokratie unterläuft leichtfüßig die ABC-Waffen-Verbote und läßt sich gleichzeitig als humane Strategie der Effizienzsteigerung im Straßenkampf darstellen. Die von ihnen vorgeschlagenen medien- und biotechnologisch aufgerüsteten Geräte erzielen temporäre oder teilweise reversible Effekte wie Schlaf, Schmerz, Blindheit, Lähmung, Erbrechen, spontane Defäkation und vieles mehr. M2 Technologies Inc., die Firma des Ehepaars Morris, hält entsprechend geeignete, in ihrer Wirkung "parametrierbare" Produkte in einer virtuellen shopping mall feil: hochenergetische Mikrowellen und auf DNA-Treffer ausgerichtete Chemikalien "zur Unterstützung der Gesetzesvollstreckung" oder Nanopartikel als Zukunft des Personenschutzes.

Auch wenn einige affirmativ argumentierende Autoren sich bemühen, Waffen durch Hinweis auf ihren ruhestiftenden Charakter in Nichtwaffen umzudeuten oder zumindest einen weicheren Eindruck von ihnen zu vermitteln: Waffen, insbesondere Polizeiwaffen, bleiben, ob letal oder nicht, gegen Personen gerichtete Waffen. Daß ihr Einsatz Kulturgüter, Kriegsgerät und Wohnbebauung schont, ist ein gern gesehener Nebeneffekt. Intendiert ist er allerdings nicht. Der Name verrät es: Lethe, die Todesgöttin, ist für Menschen, nicht für Architektur oder Werkzeug zuständig. Die low intensity warfare, die Kriegsführung mit verminderter Wucht, erstreckt sich hauptsächlich auf die Gebiete Massenkontrolle (alles erkennen), Gruppenkontrolle (flächendeckend festsetzen) und Gefangenenkontrolle (gezielt ausschalten).

Im Zentrum der Überlegungen zu den gewünschten Wirkungsweisen steht dabei nicht länger eine Stillegung des rebellierenden Körpers, sondern eine Unterbrechung des Zusammenhangs zwischen Bewußtsein und Aktion. Jüngste Untersuchungen von Friedensforschungsinstituten wie den Bradford University's Peace Studies, dem schwedischen SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) oder Konferenzen wie die Futuresonic in Großbritannien (Oktober 2002) richten daher ihr Augenmerk auf die Bedeutung des Schlafes für die erwünschte "Verhaltensänderung", das Fernziel der politischen Kontrolle. Deswegen verströmen hochgradig spezifizierte Designerpharmazeutika, am Bildschirm entwickelte und erprobte Hypnotika und Anästhetika, die wichtigsten Botenstoffe der neuen Generation. Die programmierbare Ohnmacht der aufrührerischen Bevölkerung könnte ein Ziel erster Ordnung in den Rechtsstaaten des 21. Jahrhunderts sein.

Im Kontext der Übereinkunft, die den Einsatz "nicht tödlicher Waffen" sogar vermehrt als probates Mittel bei der Terrorbekämpfung propagiert, werden beispielsweise gentechnisch modifizierte Kampfgase erprobt, die ihren Effekt zielgenau an bestimmte Ethnien adressieren können. Schon Personen mit einer nur minimal anderen Genstruktur bleiben verschont. Ein entsprechendes Mittel liegt seit Januar 2003 einsatzbereit in einem biotechnischen Labor in Nes Tziyona unweit von Tel Aviv und soll vornehmlich bei Irakern wirken. Die Fabrik in Nes Tziyona war der Adressat des mit Sarin-Komponenten beladenen El-Al-Flugzeugs, das 1992 auf ein Hochhaus in Amsterdam stürzte. Jener pathogene Stoff ist ein metamoderner Nachfolger der rassistischen Bombe, deren Erfindung südafrikanischen Biochemikern bereits vor Jahren unter dem Titel pigmentation weapon gelang. Durch jüngste Erfolge bei der distinktiven Ansprache eines bestimmten genetischen Profils bucht sich das Human Genome Project einen festen Platz im weltweiten Waffengeschäft.

Mit sprechenden Begriffen wie mood management und mass incapacitation werben Forscher, Politiker und Polizeisprecher in West- und Osteuropa derzeit für den Einsatz von Hochtechnologie, deren Verträglichkeit mit den bestehenden Gesetzen ebenso fragwürdig ist wie ihre ethische Dimension. Im Kern soll es darum gehen, künftig mit dem zentralen Nervensystem der "Suspekte" direkt zu interagieren, da die europäischen Gesetze in der Regel und die Konvention insbesondere vorschreiben, den Körper des Bürgers zu schonen. Es soll eine "vollständige Defragmentierung" der behandelten Personengruppen (Demonstranten, Aufrührer, Terroristen) vermieden werden. Die Begriffe "Psychoelektronik" und "Nanotechnologie" tauchen in diesem Zusammenhang irritierend häufig auf. Ein "relativ reversibler Effekt" wird gewünscht. Wie das funktioniert, beschreiben diverse aktuelle Gutachten, angefertigt beispielsweise im Auftrag des bereits erwähnten STOA-Programmes am EU-Parlament in Brüssel.

Der Zusammenhang mit der gleichnamigen griechischen Philosphiebewegung ist so lose, daß sich der Verdacht von Etikettenschwindel aufdrängt. STOA heißt schlicht scientific and technological option assessment und behandelt ganz pragmatisch alle Fragen, die sich zu Themen von Fischereiwesen über Ökologie bis zu den Menschenrechten stellen. Die NGO Omega Foundation aus Manchester hat im Oktober 2002 eine Aktualisierung ihres Mammutgutachtens An appraisal of technologies of Political Control (1997-2001) produziert, die unter Berufung auf internationale Fachleute und Kenner der gegenwärtigen Szene besonders die jüngsten Ereignisse in Moskau und die Planungen für den Feldzug gegen den Irak berücksichtigt. Die Fakten aus den etwa 1 000 Seiten STOA-Untersuchungen zum Thema der "trojanischen Vehikel", zu Stoffen aus der neuen "Büchse der Pandora" und zur "Hypno-Politik" werden den Parlamentariern, wiederum auf die Größe von kaum aussagekräftigen Tischvorlagen reduziert, vorgelegt.

Dabei fallen viele erstaunliche Fakten der Zwischenstudien heraus und tauchen in den Endversionen nicht wieder auf. Denn wer hätte ahnen können, daß sich hinter dem harmlosen Stichwort border control technologies der Wiederaufbau des Eisernen Vorhangs als elektrischer Grenze vollzieht? Was erlebt eine Person, die von 500 000 Volt getroffen wird, die sich in einem durch UV-Laser ionisierten Luftraum über 200 Meter Distanz in ihren Körper entladen?

(...)

Ist das die lange erwartete Humanisierung der berüchtigten Grenzschutzmine, die aus einem mit Sprengstoff gefüllten Behälter 5 000 Mikropfeile an dünnen Kabeln in den Körper des Opfers jagt und es so lange, wie die Batterie hält, bei vollem Bewußtsein lähmt?

Am 19. April 2003 – das Nachgrollen des Irakkrieges hängt noch in der Luft – meldet DPA, daß eine der kriegführenden Parteien, Großbritannien, die lang erprobte und längst geächtete Technologie, importiert aus den USA, den heimischen Polizisten an die Hand gibt: Eine Pistole mit 50 000-Volt-Pfeilen an stromführenden Drähten wird nun in fünf ausgewählten Distrikten des Königreiches eingesetzt, um auf maximal sieben Meter Distanz Muskellähmungen auszulösen, die das Anlegen der Handschellen erleichtern. Wie man die metallischen Widerhaken nach erfolgreicher Festsetzung des Delinquenten aus dessen Körper entfernt, erwähnt die Pressemeldung nicht.

Wer hätte angesichts der Bauzäune, die in Genua und Barcelona in den Jahren 2001/2002 verschiedene innerstädtische Sicherheitszonen markierten, geglaubt, daß area denial devices, die mobilen Barrieren der Zukunft, nicht im Boden der Stadt verankert, sondern auf die Körper der Personen geklebt werden? Was fühlt ein Passant, der mit sticky foam balls beschossen wurde und deswegen an einer Mauer klebt, bis ihn ein nächster Einsatztrupp mit dem entsprechenden Trennmittel ablöst? Die US Marine Forces setzen die Klebekanonen schon einige Jahre ein, ähnliche kinetic-impact-Waffen befinden sich in den Arsenalen fast aller europäischer/n Staaten. Auch wenn die meisten Mitgliedsstaaten momentan dazu tendieren, sie in Europa nicht gegen Personen, sondern nur zur "Raumversiegelung" einzusetzen, schließt das eine unwillentliche Überschneidung der Ziele (Immobilisierung) nicht aus.

Was sagt es über den Zustand unserer Kultur, wenn in einer geradezu hysterisch auf Hygiene fixierten Zeit riot control weapons vorgeschlagen werden, die weit mehr verletzen als bloß das Schamgefühl beim Austreten? Wie mag es auf die Gemüter wirken, wenn auf einem öffentlichen Platz in Folge einer Besprühung mit einem speziell konfektionierten Gas – sagen wir – 4 000 Menschen gleichzeitig heftigen Durchfall bekommen? Das von Sunshine.org veröffentlichte interne Papier des amerikanischen Joint non-lethal Weapon Directorate über Situationskontrolle mittels olfaktorischer Stimuli, durch künstlich erzeugte maldorants, übelriechende Stoffe, klingt hinfällig, wenn dies als Begleiterscheinung anderer Anwendungen gratis zu haben ist. Der in der Studie vorgeschlagene Einsatz von bakteriengefüllten Projektilen zur Neutralisierung des Geruchs nach erfolgreicher Zerschlagung der "nicht lenkbaren Unruheherde" behält allerdings Priorität.

Wer könnte trotz des Medienkunstrauschens der vergangenen Biennalen ernsthaft daran denken, die Teilnehmer einer Zukunftsschau aus den Reihen der Polizei zu kuratieren? Was spürt der Gast einer öffentlichen Kundgebung, wenn man ihn mit einer sonic hallucination traktiert, die es ermöglicht, auf mehrere hundert Meter Distanz eine (Fehl-)Information zu projizieren und der Wahnidee der körperlosen "Stimme im Kopf" die technische Lösung nachliefert? Wer würde angesichts von Bill Violas meditativer Installation mit schlafenden Köpfen ihre Verbesserung als 3-D-Videoprojektion wünschen, die bei Tageslicht und im öffentlichen Raum einsetzbar ist und als lebendige Simulation auf der Oberfläche transparenter Gase erscheint?

(...)

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