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Cover Lettre International 75, David Godbold
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Inhaltsverzeichnis

LI 75, Winter 2006

Hauptlose Revolution

Ungarn 1956 - Aufbegehren der Masse und weltpolitische Vernunft

WIE gesagt, an jenem Dienstagnachmittag ein einziger Menschenstrom auf den Ringstraßen, über die Váci-Allee kamen sie, über die Bajcsy-Zsilinszky-Allee, auf dem Marx-Platz aber konnten viele sich nicht entscheiden, wohin nun. Die Straßenbahnen stauten sich und blieben da stehen, wo sie festgefahren waren, in den leeren Wagen brannte Licht. Es mochten etwa achtzigtausend sein, die an den Rändern der großen Kreuzung festsaßen, sie sangen, schrieen, stellten Forderungen, faselten herum, hielten Reden. Rund eine halbe Million bereits vor dem Parlament. Sie wollten, daß die Russen abziehen, daß Imre Nagy zu ihnen spricht. Langsam wurde es dunkel. Die Menschen kamen über die Margareten-Brücke aus Buda, die Bálint-Balassi-Straße entlang, sie kamen aus der Miksa-Falk-Straße auf den Platz, über die Alkotmány-Straße kamen sie nicht mehr, dort hatte die Menge sich massiv gestaut, aber von der anderen Seite des Platzes kamen sie, aus der Nádor-Straße, und den Kai entlang kamen sie, der Verkehr in der Stadt war da bereits größtenteils zum Stillstand gekommen. Im Chor wurde gefordert, den Stern auf dem Kuppeldach auszumachen, der ganze Platz fiel ein und forderte das. "Macht den Stern aus!" Auf dem Heimweg von der Schule verbrachte auch ich den Nachmittag auf der Straße und stand nun dort in der Menge auf dem Platz. Nicht jede Forderung übernahm der Platz, diese aber ja. Der Stern war erst vor wenigen Wochen auf das Kuppeldach montiert worden, und es war wirklich gute Arbeit. Der Platz hallte von der gutgelaunten Forderung wider, dröhnte unter ihrem Rhythmus. Doch das Parlament mit seinen Zacken und Spitzen ragte, als wäre niemand da, der es hören könne, ernst, stumm und düster in den Himmel. Nur im Kuppelsaal brannte sicher ein wenig Licht. Sie hatten es wohl doch gehört und hielten es für besser, dem Volkswillen nachzugeben. Aber man schaltete die Beleuchtung auf dem riesigen Platz aus, nicht den Stern. Die Menge brauste auf, rumorte, es war zu fürchten, daß sie das Gebäude erstürmen, mit bloßen Händen in Stücke zerlegen. Gleich wurden Zeitungen, Flugblätter angezündet und in die Höhe gehalten. Wie ein Lauffeuer rollte die Woge der rasch aufflammenden Lichter über die Köpfe hinweg. Feierliche Stille entstand, einen Augenblick waren alle von der Schönheit der Feuerwogen betört. Wahrscheinlich dabei habe ich mein Zeichenbrett mit dem Kopflineal verloren. Dann erlosch der rubinrote Stern da oben, eine verkleinerte Ausgabe des berühmten Sterns auf dem Moskauer Kreml. Es wurde völlig dunkel auf dem Platz. An dem milden und warmen Abend war der Herbst schon von einer leicht herben, diesigen Schärfe, man spürte den Metallgeruch des Flusses. Das Schweigen einer Menge ist schwer wie Blei. Einen Moment lang wollte der Platz nicht glauben, daß seine Forderung erfüllt worden war, als, begleitet vom Jubelgeschrei dieses ersten weltbewegenden Sieges, auch die Straßenbeleuchtung wieder eingeschaltet wurde.

Jemand war auf den Balkon auf der linken Seite getreten, was natürlich nicht wahrzunehmen war, doch die Nachricht, daß jemand den Balkon betreten habe, verbreitete sich. Er redete umsonst,  es war nichts zu verstehen. Die Menge brüllte, daß man nichts verstehen könne. Inzwischen ging von Mund zu Mund, daß Imre Nagy unterwegs sei. Daß der Jemand auf dem Balkon gesagt habe, Imre Nagy sei unterwegs. Und an der Balkonbrüstung wurde ein Mikrofon befestigt, dann hängten sie an der Fassade ein paar große  trichterförmige Lautsprecher auf, testeten sie, klopften dagegen, sagten Mikrofonprobe eins, zwei, drei, was von den umliegenden Gebäuden widerhallte. Darauf wurde der Platz noch munterer, lachte auf vor Vergnügen. Dann aber schien es, als würden sie bis in alle Ewigkeit damit rummachen, mit dieser Scheißmontage, um Zeit zu gewinnen. Die Menge rumorte, pfiff, wurde unruhig, unzufrieden, verlor die Geduld, Gruppen entstanden, Zentren, ungeduldige Redner gaben ihre Meinung kund. Was für die Stadt wieder zu einer neuen Erfahrung wurde, eine bisher unbekannte Qualität von kanonartiger Vielstimmigkeit. Es war nicht vorauszusehen, was sich zusammenbraute, welche Forderung sich auf dem ganzen Platz durchsetzen, was daraus werden würde, alles geschah bereits.

Was in einer Gruppe wichtig erschien, erhielt nur durch die Menge Bedeutung. Oder erhielt sie nicht. Manches pflanzte sich fort, manches blieb einsames Geschrei. Von der Szalay-Straße bog ein Lastwagen voller Menschen auf den Platz ein, blieb jedoch vor der Kurie stecken. Die auf der Ladefläche verlangten nach dem Thronfolger, sie wollten Otto auf den Thron, die Monarchie wiederhaben, die Habsburger. Die in der Einmündung der Alkotmány-Straße festgestaute Menge machte ihnen komischerweise den Weg frei, sollten sie abziehen. Sie hatten Transparente dabei, ein großes Porträt von Otto. Fremde tauchten auf. Alle waren einander ja fremd, dennoch aber nach kurzer Zeit vertraut. Erstens wusste man, woher jemand kam, denn aus irgendeinem Grund waren alle neugierig, woher man kam. Und man wußte, wer in der unmittelbaren Umgebung welche Meinung über was hatte. Jeder fing bald an zu reden. Davon wurden selbst die, die tief geschwiegen hatten, redselig. Die Fremden erinnerten an Volksaufklärer, sie sagten nichts über sich, sondern suchten die, die einander schon näher kannten, davon überzeugen, daß alles wegen der vielen Juden so sei. Auch an mir rackerte sich ein jüngerer Mann ab, nicht viel weiter waren ein zweiter und dritter. Juden raus aus der Regierung, das wäre, was sie vorschlügen. Wo ich stand, antwortete niemand darauf. Wieder kam einer, der nicht wußte, daß sie mit ihrer Parole schon da gewesen waren. Ich antwortete nichts. Als wären sie Luft, als ob man sie gar nicht hören würde, antwortete man nicht.

Als sich von der Haupttreppe in Wogen Jubelgeschrei ausbreitete, wußte man dann, daß Imre Nagy eingetroffen war. Der Platz brauste auf, verstummte, wollte hören, ob er sich selbst gut hörte, brauste von neuem auf. Jemand verkündete auch durch die Lautsprecher, daß er eingetroffen sei. Von da ab weicht meine Erinnerung in einigen Punkten von der anderer ab. Als er auf den Balkon trat (andere erinnern sich, daß er in einem Fenster auftauchte), war er ungeschickt von irgend-einer Lampe beleuchtet, doch er stolperte über irgendetwas. Vielleicht eine hohe Schwelle, vielleicht die Verwirrung, denn vor so vielen Menschen hatte er noch nie gesprochen, vielleicht mangelnde Eignung für eine solche Rolle, oder der Boden des Balkons fiel einfach zu stark ab. Seitdem hatte ich immer vor, mir den Balkon einmal näher anzusehen. Ich jedenfalls habe in Erinnerung, daß ihn zwei Leute während der Rede in der Balkontür stützten. Daher war das Mikrofon so weit von ihm entfernt, und daher konnte man ihn so schlecht verstehen. Andere erinnern sich, daß er im Fenster von zwei Leuten gestützt wurde. Doch ich beharre auf meiner eigenen Erinnerung. Bei dieser ungeschickten Beleuchtung konnte man nur sehen, wie jemand heraustrat, stolperte, wie sein Hut herunterfiel und er selbst für einen Augenblick verschwunden war. Gelächter erschallte über dem Platz, denn es war lächerlich, aber nicht der ganze Platz lachte, es war versprengtes Gelächter und wurde sofort von der beschämten Stille der Menge geschluckt. In der Revolution gibt es kein Szenarium. Auch wenn die Stadt auf dich wartet, auch wenn du Imre Nagy heißt, du bist das gleiche wie jeder andere. An diesem milden Herbstabend war alles -Massenemotion, das heißt, allein die Masse konnte ihre eigene Emotion legitimieren oder abwürgen. Bis heute verstehe ich nicht, wieso ich von nachmittags drei bis Mitternacht keinen Hunger, keinen Durst verspürt habe, kein Wasser habe lassen müssen.

Sein erstes Wort war "Genossen". Die Anrede hätte noch eine Zeitlang nachgehallt, doch die Menge fuhr auf der Stelle auf, antwortete mit einem Pfeifkonzert. "Wir sind keine Genossen!" Nicht nur dachten alle dasselbe, nicht nur mit denselben Worten, die Antwort kam wie aus einem Mund. Und wie stark die bolschewistische Prägung von Imre Nagy auch gewesen sein mag, an diesem blöden Genossenzeug suchte er sich vergebens festzuhalten, es funktionierte nicht. Es gab eine Revolutionssprache aus dem neunzehnten Jahrhundert, in der sollte er reden. "Junge Freunde!",  jetzt versuchte er es damit, aber der Platz akzeptierte auch seine väterliche Fürsorge nicht. „Mitbürger!" Mit Triumphgeschrei wurde er belohnt, kaum daß ihm das Wort aus der Kehle gekommen war. Seht, er ist darauf gekommen, wir haben ihn darauf gebracht, er hat es geschafft, und dann gehörte auch diese Wendung sofort zu den großen Triumphen. Wir hatten den traditionellen Sprachgebrauch der bürgerlichen Revolutionen konfirmiert. Seine Rede war durch die vielen Echos, das Knistern, durch Beifall und Mißfallensäußerungen, die vielen freudigen und feindseligen Pfiffe dann kaum zu verstehen. Wer auf dem Platz stand, hatte nicht unbedingt den Eindruck, daß die Revolution ihren Führer gefunden hatte.

Dieser ersten, sagen wir gutartigen und jovialen Phase der Revolution, die noch genügend Raum gab für die Massendesertion von Polizei- und Armeeeinheiten, die Öffnung ihrer Waffenlager, das rituelle Abreißen und Zersägen von Sándor Mikus' Stalindenkmal, die Erstürmung des Rundfunkgebäudes in der Sándor-Bródy-Straße (ich stand noch auf dem Platz, als von der Nádor-Straße her die Nachricht herandrang, "beim Rundfunk wird geschossen, beim Rundfunk wird geschossen") und später selbst noch die ersten ernsthaften Feuergefechte , machte ein Blutbad ein Ende. Das spielte sich am Donnerstag ab. Ein guter Freund von mir war dort vor dem Hotel Astoria, als die Menge einfach nicht von der Fahrbahn wich. Sie bot einer russischen Panzerkolonne Einhalt. Der befehlshabende Offizier wurde genötigt herauszukriechen. „Was wollt ihr hier, warum seid ihr hergekommen? Warum geht ihr nicht nach Hause?" rief man ihm auf ungarisch und russisch zu. Der Offizier schrie zurück, er müsse die Stadt von faschistischen Banden befreien. Der Menge fiel es nicht schwer, ihn zu überzeugen, daß da keine Faschisten, keine Banditen waren. Daß sie Studenten, Arbeiter, Beamte, Wissenschaftler waren. "Hörst du denn nicht, daß wir russisch mit dir sprechen?" Der Offizier verteidigte sich verzweifelt, dann habe man sie hereingelegt. Darauf wurden die Russen von der Menge gefeiert, man brachte ungarische Fahnen auf die Panzer, was die verstörten russischen Soldaten als Zeichen ihrer friedlichen Absicht auch zuließen. In diesem Augenblick näherte sich auf der Rákóczi-Allee eine zweite sowjetische Panzerkolonne, und als die Menge feststellte, daß auch sie mit ungarischen Fahnen geschmückt war, brach Jubelgeschrei aus. "Die Revolution hat gesiegt! Auf zum Parlament!" An diesem Tag, dem Donnerstag, ging tatsächlich wie ein Lauffeuer die Nachricht durch die Stadt, die Russen sind auf unserer Seite, die Russen sind übergelaufen! Die ganze Welt mit uns   noch heute kann ich den romantischen Rausch von damals nicht in mir zügeln. Noch heute kann ich die ganze Chronologie dieser dreizehn Tage herbeten. Man konnte nicht gleichzeitig überall sein, aber die Nachrichten, Geschichten und wundersamsten Legenden erreichten alle. Wer sie hörte, lebte in ihnen, die Phantasie arbeitete, die Neigung zu Empathie, daher sicher die vielen Versionen. Die Revolution kennt eine erste Person Plural, die die erste Person Singular nicht nur nicht ausschließt, sondern mit all ihren Eigenschaften in sich aufnimmt, aufsaugt. Mein Freund ging zum Parlament, wo ihn ebenfalls russische Panzerwagen empfingen, auch dort erklomm die Menge die Panzerwagen, um die Soldaten und sich selbst zu feiern. Da krachten Salven. Von den Dächern der umliegenden Gebäude wurde mit Maschinengewehren in die Menge geschossen. Damals meinte die Stadt zu wissen, daß es die Leute der verhaßten Staatssicherheit waren, der historischen Forschung zufolge ist auf Befehl von General Serovs von oben geschossen worden. Die unten rannten, um unter den Arkaden Schutz zu suchen, bis auf dem riesigen Platz nur noch Verletzte und Tote übrig waren.

(...)WIE gesagt, an jenem Dienstagnachmittag ein einziger Menschenstrom auf den Ringstraßen, über die Váci-Allee kamen sie, über die Bajcsy-Zsilinszky-Allee, auf dem Marx-Platz aber konnten viele sich nicht entscheiden, wohin nun. Die Straßenbahnen stauten sich und blieben da stehen, wo sie festgefahren waren, in den leeren Wagen brannte Licht. Es mochten etwa achtzigtausend sein, die an den Rändern der großen Kreuzung festsaßen, sie sangen, schrieen, stellten Forderungen, faselten herum, hielten Reden. Rund eine halbe Million bereits vor dem Parlament. Sie wollten, daß die Russen abziehen, daß Imre Nagy zu ihnen spricht. Langsam wurde es dunkel. Die Menschen kamen über die Margareten-Brücke aus Buda, die Bálint-Balassi-Straße entlang, sie kamen aus der Miksa-Falk-Straße auf den Platz, über die Alkotmány-Straße kamen sie nicht mehr, dort hatte die Menge sich massiv gestaut, aber von der anderen Seite des Platzes kamen sie, aus der Nádor-Straße, und den Kai entlang kamen sie, der Verkehr in der Stadt war da bereits größtenteils zum Stillstand gekommen. Im Chor wurde gefordert, den Stern auf dem Kuppeldach auszumachen, der ganze Platz fiel ein und forderte das. "Macht den Stern aus!" Auf dem Heimweg von der Schule verbrachte auch ich den Nachmittag auf der Straße und stand nun dort in der Menge auf dem Platz. Nicht jede Forderung übernahm der Platz, diese aber ja. Der Stern war erst vor wenigen Wochen auf das Kuppeldach montiert worden, und es war wirklich gute Arbeit. Der Platz hallte von der gutgelaunten Forderung wider, dröhnte unter ihrem Rhythmus. Doch das Parlament mit seinen Zacken und Spitzen ragte, als wäre niemand da, der es hören könne, ernst, stumm und düster in den Himmel. Nur im Kuppelsaal brannte sicher ein wenig Licht. Sie hatten es wohl doch gehört und hielten es für besser, dem Volkswillen nachzugeben. Aber man schaltete die Beleuchtung auf dem riesigen Platz aus, nicht den Stern. Die Menge brauste auf, rumorte, es war zu fürchten, daß sie das Gebäude erstürmen, mit bloßen Händen in Stücke zerlegen. Gleich wurden Zeitungen, Flugblätter angezündet und in die Höhe gehalten. Wie ein Lauffeuer rollte die Woge der rasch aufflammenden Lichter über die Köpfe hinweg. Feierliche Stille entstand, einen Augenblick waren alle von der Schönheit der Feuerwogen betört. Wahrscheinlich dabei habe ich mein Zeichenbrett mit dem Kopflineal verloren. Dann erlosch der rubinrote Stern da oben, eine verkleinerte Ausgabe des berühmten Sterns auf dem Moskauer Kreml. Es wurde völlig dunkel auf dem Platz. An dem milden und warmen Abend war der Herbst schon von einer leicht herben, diesigen Schärfe, man spürte den Metallgeruch des Flusses. Das Schweigen einer Menge ist schwer wie Blei. Einen Moment lang wollte der Platz nicht glauben, daß seine Forderung erfüllt worden war, als, begleitet vom Jubelgeschrei dieses ersten weltbewegenden Sieges, auch die Straßenbeleuchtung wieder eingeschaltet wurde.

Jemand war auf den Balkon auf der linken Seite getreten, was natürlich nicht wahrzunehmen war, doch die Nachricht, daß jemand den Balkon betreten habe, verbreitete sich. Er redete umsonst,  es war nichts zu verstehen. Die Menge brüllte, daß man nichts verstehen könne. Inzwischen ging von Mund zu Mund, daß Imre Nagy unterwegs sei. Daß der Jemand auf dem Balkon gesagt habe, Imre Nagy sei unterwegs. Und an der Balkonbrüstung wurde ein Mikrofon befestigt, dann hängten sie an der Fassade ein paar große  trichterförmige Lautsprecher auf, testeten sie, klopften dagegen, sagten Mikrofonprobe eins, zwei, drei, was von den umliegenden Gebäuden widerhallte. Darauf wurde der Platz noch munterer, lachte auf vor Vergnügen. Dann aber schien es, als würden sie bis in alle Ewigkeit damit rummachen, mit dieser Scheißmontage, um Zeit zu gewinnen. Die Menge rumorte, pfiff, wurde unruhig, unzufrieden, verlor die Geduld, Gruppen entstanden, Zentren, ungeduldige Redner gaben ihre Meinung kund. Was für die Stadt wieder zu einer neuen Erfahrung wurde, eine bisher unbekannte Qualität von kanonartiger Vielstimmigkeit. Es war nicht vorauszusehen, was sich zusammenbraute, welche Forderung sich auf dem ganzen Platz durchsetzen, was daraus werden würde, alles geschah bereits.

Was in einer Gruppe wichtig erschien, erhielt nur durch die Menge Bedeutung. Oder erhielt sie nicht. Manches pflanzte sich fort, manches blieb einsames Geschrei. Von der Szalay-Straße bog ein Lastwagen voller Menschen auf den Platz ein, blieb jedoch vor der Kurie stecken. Die auf der Ladefläche verlangten nach dem Thronfolger, sie wollten Otto auf den Thron, die Monarchie wiederhaben, die Habsburger. Die in der Einmündung der Alkotmány-Straße festgestaute Menge machte ihnen komischerweise den Weg frei, sollten sie abziehen. Sie hatten Transparente dabei, ein großes Porträt von Otto. Fremde tauchten auf. Alle waren einander ja fremd, dennoch aber nach kurzer Zeit vertraut. Erstens wusste man, woher jemand kam, denn aus irgendeinem Grund waren alle neugierig, woher man kam. Und man wußte, wer in der unmittelbaren Umgebung welche Meinung über was hatte. Jeder fing bald an zu reden. Davon wurden selbst die, die tief geschwiegen hatten, redselig. Die Fremden erinnerten an Volksaufklärer, sie sagten nichts über sich, sondern suchten die, die einander schon näher kannten, davon überzeugen, daß alles wegen der vielen Juden so sei. Auch an mir rackerte sich ein jüngerer Mann ab, nicht viel weiter waren ein zweiter und dritter. Juden raus aus der Regierung, das wäre, was sie vorschlügen. Wo ich stand, antwortete niemand darauf. Wieder kam einer, der nicht wußte, daß sie mit ihrer Parole schon da gewesen waren. Ich antwortete nichts. Als wären sie Luft, als ob man sie gar nicht hören würde, antwortete man nicht.

Als sich von der Haupttreppe in Wogen Jubelgeschrei ausbreitete, wußte man dann, daß Imre Nagy eingetroffen war. Der Platz brauste auf, verstummte, wollte hören, ob er sich selbst gut hörte, brauste von neuem auf. Jemand verkündete auch durch die Lautsprecher, daß er eingetroffen sei. Von da ab weicht meine Erinnerung in einigen Punkten von der anderer ab. Als er auf den Balkon trat (andere erinnern sich, daß er in einem Fenster auftauchte), war er ungeschickt von irgend-einer Lampe beleuchtet, doch er stolperte über irgendetwas. Vielleicht eine hohe Schwelle, vielleicht die Verwirrung, denn vor so vielen Menschen hatte er noch nie gesprochen, vielleicht mangelnde Eignung für eine solche Rolle, oder der Boden des Balkons fiel einfach zu stark ab. Seitdem hatte ich immer vor, mir den Balkon einmal näher anzusehen. Ich jedenfalls habe in Erinnerung, daß ihn zwei Leute während der Rede in der Balkontür stützten. Daher war das Mikrofon so weit von ihm entfernt, und daher konnte man ihn so schlecht verstehen. Andere erinnern sich, daß er im Fenster von zwei Leuten gestützt wurde. Doch ich beharre auf meiner eigenen Erinnerung. Bei dieser ungeschickten Beleuchtung konnte man nur sehen, wie jemand heraustrat, stolperte, wie sein Hut herunterfiel und er selbst für einen Augenblick verschwunden war. Gelächter erschallte über dem Platz, denn es war lächerlich, aber nicht der ganze Platz lachte, es war versprengtes Gelächter und wurde sofort von der beschämten Stille der Menge geschluckt. In der Revolution gibt es kein Szenarium. Auch wenn die Stadt auf dich wartet, auch wenn du Imre Nagy heißt, du bist das gleiche wie jeder andere. An diesem milden Herbstabend war alles -Massenemotion, das heißt, allein die Masse konnte ihre eigene Emotion legitimieren oder abwürgen. Bis heute verstehe ich nicht, wieso ich von nachmittags drei bis Mitternacht keinen Hunger, keinen Durst verspürt habe, kein Wasser habe lassen müssen.

Sein erstes Wort war "Genossen". Die Anrede hätte noch eine Zeitlang nachgehallt, doch die Menge fuhr auf der Stelle auf, antwortete mit einem Pfeifkonzert. "Wir sind keine Genossen!" Nicht nur dachten alle dasselbe, nicht nur mit denselben Worten, die Antwort kam wie aus einem Mund. Und wie stark die bolschewistische Prägung von Imre Nagy auch gewesen sein mag, an diesem blöden Genossenzeug suchte er sich vergebens festzuhalten, es funktionierte nicht. Es gab eine Revolutionssprache aus dem neunzehnten Jahrhundert, in der sollte er reden. "Junge Freunde!",  jetzt versuchte er es damit, aber der Platz akzeptierte auch seine väterliche Fürsorge nicht. „Mitbürger!" Mit Triumphgeschrei wurde er belohnt, kaum daß ihm das Wort aus der Kehle gekommen war. Seht, er ist darauf gekommen, wir haben ihn darauf gebracht, er hat es geschafft, und dann gehörte auch diese Wendung sofort zu den großen Triumphen. Wir hatten den traditionellen Sprachgebrauch der bürgerlichen Revolutionen konfirmiert. Seine Rede war durch die vielen Echos, das Knistern, durch Beifall und Mißfallensäußerungen, die vielen freudigen und feindseligen Pfiffe dann kaum zu verstehen. Wer auf dem Platz stand, hatte nicht unbedingt den Eindruck, daß die Revolution ihren Führer gefunden hatte.

Dieser ersten, sagen wir gutartigen und jovialen Phase der Revolution, die noch genügend Raum gab für die Massendesertion von Polizei- und Armeeeinheiten, die Öffnung ihrer Waffenlager, das rituelle Abreißen und Zersägen von Sándor Mikus' Stalindenkmal, die Erstürmung des Rundfunkgebäudes in der Sándor-Bródy-Straße (ich stand noch auf dem Platz, als von der Nádor-Straße her die Nachricht herandrang, "beim Rundfunk wird geschossen, beim Rundfunk wird geschossen") und später selbst noch die ersten ernsthaften Feuergefechte , machte ein Blutbad ein Ende. Das spielte sich am Donnerstag ab. Ein guter Freund von mir war dort vor dem Hotel Astoria, als die Menge einfach nicht von der Fahrbahn wich. Sie bot einer russischen Panzerkolonne Einhalt. Der befehlshabende Offizier wurde genötigt herauszukriechen. „Was wollt ihr hier, warum seid ihr hergekommen? Warum geht ihr nicht nach Hause?" rief man ihm auf ungarisch und russisch zu. Der Offizier schrie zurück, er müsse die Stadt von faschistischen Banden befreien. Der Menge fiel es nicht schwer, ihn zu überzeugen, daß da keine Faschisten, keine Banditen waren. Daß sie Studenten, Arbeiter, Beamte, Wissenschaftler waren. "Hörst du denn nicht, daß wir russisch mit dir sprechen?" Der Offizier verteidigte sich verzweifelt, dann habe man sie hereingelegt. Darauf wurden die Russen von der Menge gefeiert, man brachte ungarische Fahnen auf die Panzer, was die verstörten russischen Soldaten als Zeichen ihrer friedlichen Absicht auch zuließen. In diesem Augenblick näherte sich auf der Rákóczi-Allee eine zweite sowjetische Panzerkolonne, und als die Menge feststellte, daß auch sie mit ungarischen Fahnen geschmückt war, brach Jubelgeschrei aus. "Die Revolution hat gesiegt! Auf zum Parlament!" An diesem Tag, dem Donnerstag, ging tatsächlich wie ein Lauffeuer die Nachricht durch die Stadt, die Russen sind auf unserer Seite, die Russen sind übergelaufen! Die ganze Welt mit uns   noch heute kann ich den romantischen Rausch von damals nicht in mir zügeln. Noch heute kann ich die ganze Chronologie dieser dreizehn Tage herbeten. Man konnte nicht gleichzeitig überall sein, aber die Nachrichten, Geschichten und wundersamsten Legenden erreichten alle. Wer sie hörte, lebte in ihnen, die Phantasie arbeitete, die Neigung zu Empathie, daher sicher die vielen Versionen. Die Revolution kennt eine erste Person Plural, die die erste Person Singular nicht nur nicht ausschließt, sondern mit all ihren Eigenschaften in sich aufnimmt, aufsaugt. Mein Freund ging zum Parlament, wo ihn ebenfalls russische Panzerwagen empfingen, auch dort erklomm die Menge die Panzerwagen, um die Soldaten und sich selbst zu feiern. Da krachten Salven. Von den Dächern der umliegenden Gebäude wurde mit Maschinengewehren in die Menge geschossen. Damals meinte die Stadt zu wissen, daß es die Leute der verhaßten Staatssicherheit waren, der historischen Forschung zufolge ist auf Befehl von General Serovs von oben geschossen worden. Die unten rannten, um unter den Arkaden Schutz zu suchen, bis auf dem riesigen Platz nur noch Verletzte und Tote übrig waren.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024