LI 85, Sommer 2009
Warum wir Reisen
Über die bewegende Verschwörung von Wahrnehmung und PhantasieElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
Textauszug
Wir reisen zunächst, um uns zu verlieren; und wir reisen dann, um uns zu  finden. Wir reisen, um unsere Herzen und Augen zu öffnen und mehr über  die Welt zu erfahren, als unsere Zeitungen fassen können. Wir reisen, um  in unserer Unwissenheit und in unserem Wissen das Wenige, das uns zur  Verfügung steht, in die Teile des Globus zu tragen, deren Reichtümer  anders verteilt sind. Und wir reisen im wesentlichen, um wieder zu  jungen Narren zu werden – um die Zeit zu verzögern und uns vereinnahmen  zu lassen und uns noch einmal zu verlieben. Am besten hat die Schönheit  dieses ganzen Prozesses, noch bevor die Menschen anfingen, häufig zu  fliegen, vielleicht George Santayana in seinem lapidaren Essay Die  Philosophie des Reisens beschrieben. „Manchmal“, schrieb  der Harvard-Philosoph, „müssen wir in offene Einsamkeiten  entfliehen, in Ziellosigkeit, in die moralischen Ferien, irgendein  reines Risiko eingehen, um die Schneide des Lebens zu schärfen, um  Strapazen zu kosten und uns dazu zwingen zu lassen, für einen Augenblick  an etwas zu arbeiten, ganz gleich woran.“
Ich liebe diese  Anspannung bei der Arbeit, denn nie wird uns mehr gezeigt, als wenn wir  unterwegs sind, in welchem Maße unsere Segnungen der Schwierigkeit  proportional sind, die ihnen vorangeht; und ich liebe die Anspannung bei  einem Urlaub, die „moralisch“ ist, da wir in unsere ethischen  Gewohnheiten ebenso leicht fallen wie am Abend in unser Bett. Nur wenige  von uns vergessen je den Zusammenhang zwischen travel und travail,  und ich weiß, daß ich, wenn ich reise, zu einem großen Teil auf der  Suche nach Entbehrungen bin – sowohl nach meinen eigenen, die ich spüren  will, als auch nach denen der anderen, die ich sehen muß. Reisen in  diesem Sinne leitet uns zu einem besseren Gleichgewicht zwischen  Weisheit und Mitgefühl an – dazu, die Welt klar zu sehen und sie doch  wahrhaft zu fühlen. Denn Sehen ohne Fühlen kann selbstverständlich  unsozial sein, während Fühlen ohne Sehen blind sein kann.
Die  erste große Freude beim Reisen ist für mich jedoch einfach der Luxus,  alle meine Überzeugungen und Gewißheiten zu Hause zu lassen und alle  Dinge, die ich zu kennen glaubte, in einem anderen Licht und aus einem  schiefen Blickwinkel zu sehen. In dieser Hinsicht kann selbst eine  Filiale von Kentucky Fried Chicken (in Beijing) oder die Auf-führung  einer verkratzten Kopie von Wilde Orchidee (auf den  Champs-Élysées) sowohl etwas Ungewöhnliches als auch eine Offenbarung  sein: In China zahlen die Leute schließlich einen ganzen Wochenlohn, um  bei Colonel Sanders zu essen, und in Paris hält man Mickey Rourke für  den größten Schauspieler seit Jerry Lewis.
Wenn ein mongolisches  Restaurant in Evanston, Illinois, auf uns exotisch wirkt, dann folgt  daraus nur, daß ein Mc-Donald’s in Ulan Bator einen ebenso exotischen  Eindruck machen würde – oder zumindest ebensoweit entfernt wäre von  allem, das man erwartet. Heutzutage ist es zwar Mode, einen Unterschied  zwischen dem „Touristen“ und dem „Reisenden“ zu machen, aber der wahre  Unterschied ist vielleicht der zwischen denjenigen, die ihre  Überzeugungen zu Hause lassen, und denen, die das nicht tun: Unter  denen, die das nicht tun, ist ein Tourist einfach jemand, der klagt:  „Hier ist nichts so wie zu Hause“, während ein Reisender einer ist, der  murrt: „Hier ist alles genauso wie in Kairo – oder in Cuzco oder  Kathmandu.“ Es ist alles so ziemlich dasselbe.
Für uns andere  jedoch beruht die souveräne Freiheit des Reisens darauf, daß es einen  herumwirbelt und auf den Kopf stellt und alles umstülpt, was man für  selbstverständlich gehalten hat. Wenn ein Diplom, wie der berühmte Satz  lautet, ein Paß sein kann (für eine Reise durch harten Realismus), dann  kann ein Paß ein Diplom sein (für einen Crashkurs in kulturellem  Relativismus). Und die erste Lektion, die wir unterwegs, ob es uns  gefällt oder nicht, lernen, ist die, wie provisorisch und provinziell  die Dinge sind, die wir für universell halten. Wenn Sie beispielsweise  nach Nordkorea fahren, dann haben Sie wirklich das Gefühl, als seien Sie  auf einem anderen Planeten gelandet – und die Nordkoreaner haben  zweifellos auch das Gefühl, daß bei ihnen ein Außerirdischer zu Besuch  ist. (Oder aber sie nehmen einfach an, daß Sie ebenso wie sie jeden  Morgen Anweisungen vom Zentralkomitee darüber erhalten, welche Kleidung  sie tragen sollen und welchen Weg sie nehmen müssen, wenn sie zur Arbeit  gehen, und daß Sie ebenso wie sie Lautsprecher im Schlafzimmer haben,  aus denen jeden Morgen bei Tagesanbruch Propaganda ertönt, und daß Sie  ebenso wie sie fest eingestellte Radios haben, mit denen man nur einen  einzigen Kanal empfangen kann.)
Zum Teil reisen wir also einfach,  um unsere Selbstgefälligkeiten dadurch zu erschüttern, daß wir all die  moralischen und politischen Nöte, die Dilemmata auf Leben und Tod sehen,  mit denen wir uns zu Hause nur selten auseinandersetzen müssen. Und wir  reisen, um die Lücken zu füllen, welche die Schlagzeilen von morgen  lassen: Wenn man beispielsweise die Straßen von Port-au-Prince  entlangfährt, auf denen es fast kein Pflaster gibt und Frauen neben  Bergen von Müll ihre Notdurft verrichten, dann erfahren die  Vorstellungen vom Internet und von einer „Eine-Welt-Ordnung“ eine  heilsame Revision. Reisen ist das beste Verfahren, über das wir  verfügen, um die Menschlichkeit von Orten wiederzugewinnen und sie vor  Abstraktion und Ideologie zu bewahren.
Und dabei werden wir auch  selbst vor Abstraktion bewahrt und fangen an zu sehen, wie vieles wir an  die Orte tragen können, die wir besuchen, und wie sehr wir zu einer Art  Brieftaube – zu einem Anti-Federal-Express, wenn man so will – werden  können, wenn wir das, was jede Kultur braucht, hin und her  transportieren. Ich stelle fest, daß ich immer Poster von Michael Jordan  nach Kyoto mitnehme und geflochtene Ikebanakörbe nach Kalifornien  zurückbringe; nach Kuba reise ich unweigerlich mit einem Koffer voller  Flaschen mit dem Schmerzmittel Tylenol und Seifenstücke, und ich komme  zurück mit einem, der vollgestopft ist mit Salsakassetten und Hoffnungen  und Briefen an längst verlorene Brüder.
(...)