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Cover Lettre International 88, Joseph Semah
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LI 88, Frühjahr 2010

Neurose und Biotechnologie

Seit Beginn der achtziger Jahre greift im Westen die Überzeugung um sich, daß Probleme wie Depressionen vor allem durch die Neurowissenschaften gelöst werden können. Neurologische Bücher – von Oliver Sacks zum Beispiel – werden Bestseller. Die Psychiatrie kehrt zu einer biologischen Sicht mentaler Störungen zurück. Biologisch dachten auch die Ärzte der Antike – bei psychischen Problemen ging es ihnen um schwarze Galle, bei uns geht es um Neurotransmitter im Gehirn.

Also weder Borretsch noch Nieswurz zur Heilung psychischer Probleme. 1938 wenden Lucio Bini und Ugo Cerletti, inspiriert durch das Verfahren, mit dem man Schweine in Schlachthäusern betäubte, die ersten Elektroschocks an: Beim Patienten löst ein elektrischer Schlag im Gehirn einen epileptischen Anfall aus. Bei der Behandlung von Zuständen schwerer Melancholie stellt sich diese Technik als wirkungsvoll heraus und ruft eine Welle der Begeisterung hervor, die daraufhin bei fast allen mentalen Störungen zur Anwendung der Elektroschocktherapie führt. Zu Beginn der sechziger Jahre kommt der Elektroschock aus der Mode und wird als grausame Methode stigmatisiert. Damit treten wir ins goldene Zeitalter der Psychopharmaka ein.

Der Erfolg lächelt den Antidepressiva und einigen Medikamenten zur Behandlung von „Panikattacken“ (die man früher Angstzustände nannte: Pan wird durch Medikamente verjagt). Wenn wir uns niedergeschlagen fühlen, stellt sich in unserem Gehirn, so entdeckt man, ein Mangel an zwei Neurotransmittern ein, Noradrenalin und Serotonin: Die Antidepressiva regen die Produktion dieser Agenten guter Laune an. Ab den fünfziger Jahren werden den Depressiven deshalb Trizyklide und MAOI-A (Monoaminooxidasehemmer) verschrieben. Die Manisch-Depressiven werden mit „Stimmungsaufhellern“ behandelt: Lithiumsalze und Medikamente gegen Epilepsie. 1988 beginnt der Siegeszug der serotoninergen Medikamente, deren Urvater Prozac (Fluoxetin) ist. Prozac wird umgehend „Glückspille“ getauft. Über 40 Millionen Menschen nehmen heute diese Droge. Von 1988 bis 1998 verdoppelt oder verdreifacht sich in vielen Industrieländern der Konsum von Antidepressiva. Drei Prozent der Bevölkerung in den USA und in Großbritannien konsumieren sie regelmäßig.

Der Psychiatrie ist dieser Triumph anscheinend nicht genug. Sie wettert gegen den Umstand, daß etwa die Hälfte der Depressiven, auch der schwer Depressiven, nicht geheilt werde. In der Tat halten sich viele Depressive nicht für krank: Sie deuten ihren Zustand als ihre Art und Wei-se, in der Welt zu sein, und sie lehnen eine ärztliche Behandlung ab. Die Medizin behauptet, sie sei im Besitz eines objektiven Kriteriums zur Beurteilung subjektiver Zustände, weshalb ein Mensch, der von sich sagt: „Ich bin zwar unglücklich, aber nicht krank“, vom Arzt als doppelt krank eingestuft wird: weil er depressiv ist und weil er es nicht einsehen will. Der Unwille, sich als krank einzustufen, gilt als ein Krankheitssymptom.

In der Zeit des Stalinismus gab es unter den russischen Dichtern eine Selbstmordepidemie. Wenn Majakowski Prozac eingenommen hätte, hätte er sich vielleicht nicht umgebracht. Doch wer behauptet, Ursache von Majakowskis Selbstmord sei ein unbehandelter Depressionsanfall gewesen, verkennt und entwertet die Motive der Entscheidung des Dichters. Warum sollte es gesund sein, zu denken: „Selbst wenn alles, was meinem Leben Sinn gegeben hat, gescheitert ist, es lohnt sich auf jeden Fall zu leben“? Majakowski gehörte einer Generation an, die ihre Existenz der Revolution geweiht hatte, sich statt dessen aber in einem Land voller Bürokraten und Geheimdienstler wiederfand. Womöglich hätte Majakowski mit Prozac in der Alltagswelt einer UdSSR weitergelebt, die ihm doch Entsetzen einjagte – dann hätte der Mann Majakowski überlebt, aber den Dichter hätten wir verloren. Ich sage nicht, daß Majakowski gut daran tat, sich zu töten; ich sage nur, dieser Selbstmord war der Preis eines Lebens, das sich einer Sache verschrieben hatte. Heute machen sich viele Therapien statt dessen die Philosophie von Nietzsches „letztem Menschen“ zu eigen: Entscheidend ist, daß man lebt – warum oder wie, ist unwichtig. Selbst wenn ich ein Sklave bin, habe ich glücklich zu leben.

Überlegungen dieser Art haben die Antipsychiater der sechziger und siebziger Jahre (Laing, Esterson, Cooper, Szasz, Guattari usw.) formuliert. Ihnen zufolge ist es Gewalt, dem Depressiven einen jeglichen Sinn seines Unglücks zu verweigern, auch wenn dies eine andere Gewalt ist als die Zwangsjacke vergangener Zeiten.

Viele Menschen verabscheuen die Technologie per se und damit auch die Psychopharmakologie – obwohl Psychopharmaka doch viele Leben gerettet haben. Ihr Einsatz ermöglichte seit dem Beginn der siebziger Jahre die großen Reformen, die die Psychiatrie grundlegend veränderten. (In Italien führte das von Franco Basaglia angeregte Gesetz 180 zur Auflösung der geschlossenen Anstalten.) Community care, die Behandlung der an Geisteskrankheiten Leidenden außerhalb isolierender Institutionen, konnte sich ja gerade deswegen durchsetzen, weil Psychopharmaka die Kontrolle akuter Krisen ermöglichten. Es geht also nicht darum, die Psychopharmaka an den Pranger zu stellen. Ich möchte lediglich hervorheben, inwiefern die Verbreitung nicht nur der psychotropen Substanzen, sondern der medizinischen Technologie allgemein etwas Wesentliches der zeitgenössischen Lebensweise illustriert.

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