LI 86, Herbst 2009
Produktion West 1980
Punk, Kunst, Aura - Die wilden Jahre, bevor die Großwildjäger kamenElementardaten
Textauszug
In Sichtweite der Berliner Mauer beginnt sich 1983 eine unsichtbare  Vinylschallplatte zu drehen. Aus dem Fenster meines Arbeitszimmers in  der Waldemarstraße kann ich ein Stück der Mauer sehen. Sie teilt die  Adalbertstraße in einen zu Berlin-Kreuzberg und einen zu Berlin-Mitte  gehörigen Abschnitt. Eigentlich wird die Mauer erst ab dem Spätherbst  sichtbar. Dann nämlich liegen die Blätter der Eschen, der Ahorn- und  Akazienbäume des Bethanienparks am Boden. Schaue ich links aus dem  Fenster, kann ich die Mauer auch im Sommer sehen. Denn hier berührt ihre  Fortsetzung das Ende der Kreuzberger Waldemarstraße am Leuschnerdamm.  Ihren Schatten wirft sie direkt in den Garten des Altberliner  Traditionslokals Henne. Superzarte Milchmasthähnchen.
Die  Westberliner subkulturelle Musik- und Kunstszene ist in den achtziger  Jahren wenig an der merkwürdigen politischen Zweiteilung der Stadt  interessiert. Falls überhaupt, wird damit nur an der Oberfläche  gespielt, die Mauer als dekorativer Hintergrund oder die  Zweistaatlichkeit als Teil einer absurden Collage: Kebabträume in  der Mauerstadt. Atatürk ist in der DDR der neue Herr. Zu besetzt  ist das Thema von kalten Kriegern, den Politikern in Ost- und  Westberlin. Deren humorfreie, verbitterte Losungen schrecken ab.  Angeregt vom Punkimpuls entwickelt sich um 1978 in Westberlin, aber auch  parallel im Ostteil der Stadt, eine überaus vielfältige, lustvolle, oft  amüsante und genial-dilettantische Kulturszene. Sie nimmt sich des  Alltags, des Unmittelbaren, der aktuellen Realität an. Es ist eine sich  als autonom empfindende Szene, mit illegal betriebenen Bars, Clubs,  selbstproduzierten Fanzines, Super-8-Kinos, Bands und eigenen  Kleinlabels in besetzten Häusern. Am 4. September 1981 findet in einem  Zirkuszelt an der Mauer, dem Tempodrom, ein Festival der Genialen  Dilletanten statt. Über tausend Zuschauer sehen Bands, von denen  viele erstmals überhaupt auf der Bühne stehen. Sie proben live. Die  echte Christiane F. spielt als Christiane X. Baßgitarre, der spätere  Technopionier WestBam und der Erfinder der Loveparade Dr. Motte spielen  in Bands wie Kriegsschauplatz Tempodrom und DPA, die Einstürzenden  Neubauten singen mit Gudrun Gut von zuckendem Fleisch. Und Dagmar  Dimitroff präsentiert für meine Band Die Tödliche Doris am  Schlagzeug einen Perückenhaarbikini.
Der Westberliner Senat nimmt  diese ständig wachsende Szene als „Parallelgesellschaft“ wahr. Was sie  zumindest von dieser wissen: Unsere Wähler werden das nicht sein. Später  erfindet der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen das Wort  „Antiberliner“: Er sucht nach Schuldigen für seine stümperhafte,  provinzielle gescheiterte Olympiabewerbung. Das regierende politische  Westberlin ist die Welthauptstadt kleinkrämerischer Provinz und  Kungelei. Aber irgendwann bemerkt dieser Sumpf, daß eine magische  Anziehungskraft von der „alternativen“ Szene auszugehen scheint – weit  über die Stadt hinaus. Die Integrationsbemühungen der Provinzpolitiker  münden in die Etablierung eines „Senatsrockbeauftragten“. Über dessen  hilflosbemühte Offenheit lachen sich die Punks schlapp in Manfred  Jelinskis auf Super-8 gedrehtem Dokumentar- und Kinofilm So war das  S.O. 36. Das SO 36 ist ein altes Kino, umgebaut zum Konzertort,  eine große rechteckige Schachtel, gelegen in der Kreuzberger  Oranienstraße. Es ist einer dieser Orte, an denen sich die  „Antiberliner“ einfinden: Punks, Mods, Alternative, Industrial- und  Elektronikfans, Politanarchos, Lesben, Schwule, Transvestiten, Müslis  und Self-Made-Künstler. Auch Westberlin ist zweigeteilt. Mindestens.
In  dieser Atmosphäre entwickelt Die Tödliche Doris eine neue  Wunderwaffe gegen den alles verschlingenden Kapitalismus: eine  entmaterialisierte Vinyllangspielplatte, die keine Firma kaufen oder  herstellen kann – weder eine staatliche noch eine private. Mit meinem  Kommilitonen Nikolaus Utermöhlen von der Berliner Hochschule  der Künste habe ich 1980 die Band gegründet. Ihr schließt sich einige  Monate darauf zunächst die Kunststudentin Chris Dreier an. Vor allem im  experimentellen Musikbereich, bei den Genialen Dilletanten,  lassen sich in dieser Zeit künstlerische Ideen umsetzen, welche  Genregrenzen oder Schubladen ignorieren und in Zwischenbereichen  forschen. Der Westberliner Kunstbetrieb ist – mit Ausnahmen – völlig  hermetisch und folgt den alten Traditionen. Realistische Malerei ist  hip: wilder Neoexpressionismus im Westen – sozialistischer Realismus im  Osten. Wie ähnlich sie sich im Grunde sind.
Bereits nach unserem  ersten öffentlichen Auftritt 1980 vor zwanzig Zuschauern im besetzten  Kulturzentrum Kuckuck – wir haben gerade mal vier kurze Lieder im  Programm – wird uns ein Plattenvertrag angeboten. Es ist also kein  Gerücht: Alfred Hilsberg vom Hamburger Independent-Label ZickZack  produziert tatsächlich alles, was ihm oder seinem Agenten vor die Flinte  läuft.
Die große Resonanz, vor allem aus dem Ausland, überrascht  uns. Bald erreichen uns Anfragen aus den USA, aus Japan, Finnland,  selbst aus Polen und Ungarn. Inzwischen, 1982, ist Die Tödliche  Doris zur Pariser Biennale XII ins Musée d’Art moderne  eingeladen, um dort mit den Einstürzenden Neubauten den  Westberliner Underground zu repräsentieren. Wir zeigen vor dem Konzert  unseren ersten Super-8-Film Material für die Nachkriegszeit –  Dokumente aus dem Fotomatonautomaten von 1979, den Ursprung des Doris-Konzeptes.  Aus der Verschiedenheit weggeworfener, zerknüllter oder zerrissener  Porträts unbekannter Menschen, die wir neben den Paßbildautomaten  finden, entsteht das brüchige Bild einer schönen Unbekannten: Die  Tödliche Doris. Sie ist konkret benannt und doch zugleich  ungreifbar. Sie ist da und zugleich abwesend. Sie ist ernst und witzig,  nah und fern – alles zugleich, aber nie gleichzeitig, sondern strikt  nebeneinander. Sie ist klug und gleichzeitig dumm, naiv und unbewußt.  Sie ist ich, und ich bin du. Doris’ Identität konstituiert sich  aus ihren Verschiedenheiten. Und deshalb wird ihre erste Verkörperung  in Form einer schwarzen Vinylschallplatte 13 Musikstücke enthalten, die  Seriöses gleichberechtigt neben Unseriöses stellt. Fröhliches folgt  unvermittelt Ernstem, und Krankes wird neben Gesundem stehen. Alle  Gegensätzlichkeiten direkt nebeneinander. So formt sich Doris’  Persönlichkeit, so bildet sich ihre Identität. Auf dem Cover trägt  unsere erste Langspielplatte den Schriftzug Die Tödliche Doris.  Im Beiheft Boingo Osmopol erfährt der Käufer, daß der  eigentliche Titel der Langspielplatte aus zwei Anführungszeichen  besteht. Es sind die gleichen faszinierenden Anführungszeichen, die der  Axel-Springer-Verlag in seinen Zeitungen BILD, BZ und Berliner  Morgenpost einsetzt, um seine Haltung zur DDR zu markieren. Die  sogenannte DDR, die „DDR“, die Unanerkannte. Ja, Doris ist auch  ein bißchen wie die DDR, zwar nicht anerkannt, aber doch, ob geliebt  oder nicht, ir-gendwie existent. Die Tödliche Doris ist  natürlich nicht die DDR, will sie auch auf keinen Fall sein. Schon weil Doris  ja in Westberlin lebt, Luxus mag und auch ein bißchen auf den Strich  geht. Doris ist vielleicht ein Gänsefüßchen für den  Westberliner Kultursenat, für die ganz auf Berliner Realismustradition  setzenden Kunsthallen und Galerien, aber auch ein Gänsefüßchen für fest  überzeugte DDR-Grenzbeamte. Westberlin ist nämlich offiziell kein Teil  der BRD. Es ist besetzte, entmilitarisierte Zone. Und seine Bewohner  sind mit kleinen grünen „Behelfsmäßigen Ausweisen“ ausgestattet.  Achtung, Achtung: Den DDR-Beamten am Grenzübergang keinesfalls  gleichzeitig den BRD-Paß und den Berliner Ausweis reichen! Einer der  beiden würde dann konfisziert. Weil es bei den Grenzern Entweder–Oder  heißt und nicht Sowohl–Als Auch. Und Die Tödliche Doris  ist sowohl–als auch. Brutal und zärtlich beispielsweise und  mehrgeschlechtlich dazu.
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